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Eine Selbstbefragung à la Knausgård, ein Gedankenroman wie David Foster Wallaces Unendlicher Spaß- dieser Roman ist so komplex wie klug, so polemisch wie politisch, so bewegend wie bedeutend. Rom in den Siebzigerjahren, im gutbürgerlichen Quartiere Trieste ... Ein paar Ehemalige der Privatschule San Leone Magno begehen eines der brutalsten Verbrechen der Zeit. Edoardo Albinati ist damals auch auf diese Priesterschule gegangen. Vierzig Jahre lang hat er das Geheimnis seiner »schlechten Erziehung« gehütet. Nun erzählt er es, und zwar so, als würde ihm vom Grund eines tiefen Brunnens sein…mehr

Produktbeschreibung
Eine Selbstbefragung à la Knausgård, ein Gedankenroman wie David Foster Wallaces Unendlicher Spaß- dieser Roman ist so komplex wie klug, so polemisch wie politisch, so bewegend wie bedeutend.
Rom in den Siebzigerjahren, im gutbürgerlichen Quartiere Trieste ... Ein paar Ehemalige der Privatschule San Leone Magno begehen eines der brutalsten Verbrechen der Zeit. Edoardo Albinati ist damals auch auf diese Priesterschule gegangen. Vierzig Jahre lang hat er das Geheimnis seiner »schlechten Erziehung« gehütet. Nun erzählt er es, und zwar so, als würde ihm vom Grund eines tiefen Brunnens sein Spiegelbild entgegenblinzeln. Entstanden ist ein Roman von verblüffender Vielfalt. Es geht um die Teenagerzeit, um Sex, Religion und Gewalt; um Geld, Freundschaft, und Rache, um legendäre Lehrer und Priester, Krawallmacher, kleine Genies und Psychopathen, um rätselhafte Mädchen und Terroristen. Aus diesem Gemisch lässt Albinati eine versunkene Epoche unverklärt wieder aufleben. Doch er lässtes nicht bei der Erinnerung bewenden, sondern stellt sich den großen Fragen unserer Tage, analysiert Alltagsphänomene, leitet Entwicklungen her, liefert Prognosen - scharfsinnig, manchmal zornig und immer mit besonderem Augenmerk auf die Dinge jenseits des Scheins.

»Ich habe alles gegeben, was ich hatte und nicht hatte, Geschichte, Gespenster, mein Schreiben ...« Edoardo Albinati
Autorenporträt
Edoardo Albinati, Jahrgang 1956, ist ein in Rom lebender Regisseur, Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und unterrichtet seit über 20 Jahren Häftlinge im Gefängnis von Rebibbia. Für  »Die katholische Schule« erhielt er den Premio Strega, die wohl wichtigste literarische Auszeichnung Italiens.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2018

Mitschüler, Mörder
Edoardo Albinati erzählt in seinem monumentalen Roman „Die katholische Schule“ von einem grausamen Verbrechen
und von der Krise des italienischen Mannes. Leider ist der Romancier der Droge Theorie verfallen
VON LOTHAR MÜLLER
Manchmal träumt der moderne Roman davon, eine ganze Welt zu umfassen, „totaler“ Roman zu sein. Das dicke Buch, zu dem er dabei anschwillt, kann viele Energiequellen haben. Manchmal folgt es mit logischer Konsequenz einer Formidee, die es Schritt für Schritt an sein Ende trägt wie in Umberto Ecos „Der Name der Rose“, manchmal schwillt es in eruptiven Stößen an, die sein Autor selber nicht im Griff hat, und es kommt eher aus Erschöpfung an sein Ende, nachdem es alle Formideen, die sein Anschwellen hätten bändigen können, zertrümmert hat. Ein solcher Fall ist der fast 1300 Seiten umfassende Roman „Die katholische Schule“ des italienischen Autors Edoardo Albinati.
Er hat dafür im Jahr 2016 den Premio Strega erhalten, den bedeutendsten Literaturpreis Italiens. Schon zuvor war er in Italien ein bekannter Schriftsteller, der mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben hat, die meisten eher schmal, Romane, Erzählungen, Essays, Gedichtbände, Drehbücher. Dass er mit diesem monumentalen Roman zu einer Großfigur wurde, lag nicht nur am Stoff, einem großen Mord- und Vergewaltigungsfall der jüngeren italienischen Geschichte. Es lag auch an den Reflexionsspiralen, in die der Roman die Tat hineinzog und zum Symptom einer tiefen Krise der italienischen Gesellschaft machte.
Nichts bleibt in diesem dicken Buch von dieser Krise unberührt, alles wird von ihr unterminiert: die katholische Schule, die ihr den Titel gibt, das Stadtviertel, in dem sie liegt, die Lehrer und ihre Schüler, und kaum kommen deren Familien in den Blick, erfasst die Drift der Krise das italienische Bürgertum, alle Normen und Werte, denen es bisher folgte oder zu folgen schien. Im Zentrum aber steht die Krise des italienischen Mannes, ins Auge gefasst durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für das Verbrechen, das den Glutkern des Romans bildet, aus dem alle seine Eruptionen hervorgehen.
Es fand Ende September 1975 am Monte Circeo statt, der sich wie der Fuß eines Riesen ins Tyrrhenische Meer hineinschiebt, dort, wo Römer, die es sich leisten konnten, ihre Ferien verbrachten und Wochenendhäuser hatten. Zwei Mädchen, siebzehn und neunzehn Jahre alt, wurden von jungen Männern ihres weiteren Bekanntenkreises in eine der dortigen Villen gelockt, gequält und vergewaltigt. Eines der Opfer ertränkten die Täter nach fast eineinhalb Tagen in der Badewanne, das zweite Mädchen überlebte so schwer verletzt, dass die Täter es beim Rücktransport in die Stadt im Kofferraum eines Fiat 127 ebenfalls für tot hielten. Zwei der Täter waren ehemalige Schüler des katholischen Gymnasiums „San Leone Magno“ im Quartiere Trieste um die Piazza Bologna, einem bürgerlichen Viertel jenseits der antiken sieben Hügel, das mit dem modernen Rom, der Hauptstadt des italienischen Nationalstaats wuchs.
Edoardo Albinati ist 1956 geboren, im Quartiere Trieste aufgewachsen und auf die katholische Schule gegangen, die nach Papst Leo dem Großen benannt wurde. Das Verbrechen ist die Sonde, mit der er nach den Übergangszonen sucht, in denen in seiner Herkunftswelt aus Mitschülern Mörder wurden. Als Entstehungszeit seines Romans gibt er auf der letzten Seite den Zeitraum vom 29. September 1975 bis zum 29. September 2015 an, als hätte er vom Tag des Verbrechens an geschrieben. Es ist aber ein Roman der Rückschau aus der Zeit nach der Jahrtausendwende, ein Roman der Selbstbefragung, der die Befragung von Journalisten einbezieht, die Zugang zu den Prozessakten hatten.
Seit mehreren Jahrzehnten arbeitet Albinati als Lehrer im Hochsicherheitstrakt der Strafvollzugsanstalt von Rebibbia, der tägliche Umgang mit Mördern gehört zum Alltag der Ich-Figur, die er entwirft. In einer Nachbemerkung legt er Wert darauf, dass diese Figur „nicht hundertprozentig mit dem Autor auf dem Schutzumschlag übereinstimmt“. Wie sollte sie auch? Kein Ich auf Papier ist vom selben Stoff wie derjenige, der das Papier beschreibt, zumal wenn unter dem Titel des Buches das Wort „Roman“ steht. Einmal zur ersten Person Singular auf Papier geworden, kann es nicht anders, als literarische Formen anzunehmen oder ihnen auszuweichen.
Für die Ausweichbewegung gibt es in der Literatur der Gegenwart ein starkes Motiv, das Unbehagen an der Fiktion, die Sehnsucht, das Leben selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Sehnsucht kann, wie die Bücher von Karl Ove Knausgård zeigen, mit mehr oder weniger Kunstaufwand gestillt werden. Die literarische Form, die den Schein der Anwesenheit des Lebens begünstigt, heißt derzeit „Memoir“, die erste Person Singular ist ihre unabdingbare Voraussetzung. Mit ihr ist sie im Lebensstoff verankert, sie ist ihr Zentrum.
Vom Erschrecken über die Nähe des eigenen, lebendigen Ich zu den Mördern und Vergewaltigern des Verbrechens am Monte Circeo, das es in die Formel „VvC“ bannt, wird das schreibende Ich in Albinatis Roman vorangetrieben. Es muss Hunderte von Seiten voller Erinnerungen an die eigene Schulzeit und weit ausgreifender Reflexionsbewegungen absolvieren, ehe es auf wenigen brutalen Seiten den Tathergang rekapituliert. Die erste Form, die es ausschlägt ist der dokumentarische Roman, in dem das Ich die Recherche eines Verbrechens mit den Mitteln des modernen Journalismus betreibt, wie in Truman Capotes „Kaltblütig“. Es gibt hier keinen Besuch bei den Familien der Opfer, keine Inspektion des Tatorts durch den Erzähler, nur in Umrissen werden die Biografien der beiden Mädchen greifbar.
„Um das VvC wächst ein dicht verästelter Wald aus Verbrechen und Perversionen. Nicht alle sind blutig, keines lässlich.“ Um diesen Wald geht es Albinati, um das Wurzelgeflecht, das seine Herkunftswelt, sein Stadtviertel, seine Freunde und Familie mit den Mördern und Vergewaltigern verbindet. „Auch die Mörder, deren Verbrechen ich demnächst schildern werde, gehen zum Abendessen nach Hause.“
Es ist das Unglück dieses Romans und seines Autors, dass er die beiden Instrumente, mit denen er das Wurzelgeflecht des Verbrechens am Monte Circeo freilegen will, nicht mit gleicher Virtuosität handhabt. Das erste Instrument ist der Blick auf die physiognomischen Details, die Erinnerung an prägende Gesten, Figuren. Immer wenn Albinati dieses Instrument zur Hand nimmt, wird sein Roman dicht und suggestiv. Das zweite Instrument ist die essayistische, von Soziologie, Philosophie, Zeitdiagnostik und Kulturkritik genährte Reflexion. Immer wenn Albinati dieses Instrument zur Hand nimmt, droht er sich in Weitschweifigkeit bis hin zum Schwadronieren zu verlieren. Es ist dieses zweite Instrument, dem sich die Formlosigkeit des Romans verdankt.
Der grandiose Schulroman, der in diesem Monstrum von Buch steckt, verlangt eine Lektüre, die ihn aus verstreuten Bruchstücken zusammensetzt. Aus dem Porträt des hochbegabten, für die Religion der Patres gänzlich unempfänglichen Arbus und seiner Familie, aus den Lebensläufen anderer Mitschüler, die in linksradikale Sekten oder faschistische Terrorzirkel führen. Aus dem Alltag eines Gymnasiums, das eine reine Jungenschule und zugleich eine katholische Privatschule ist, deren Patres den Status von Angestellten der Eltern ihrer Zöglinge haben.
Es gibt in diesem Schulroman wie in den Internatsromanen die Quälereien der Schwachen durch ihre Mitschüler, die Not und die Lust am Sex. Es gibt die Patres, denen der Gang zu Prostituierten nicht fremd ist. Und die Züchtung einer Männlichkeit, die aus der Perspektive des Monte Circeo als Vorschule der Gewalt erscheint. Aber das Zentrum des Schulromans ist eine jener Lehrerfiguren, die sich im Rückblick als die geheimen Schutzengel ihrer Schüler erweisen. Vilfredo Cosmo heißt diese Figur hier, der Schulroman ist ein Epitaph für diesen Lehrer, ihm verdankt das Ich seine Autorschaft.
Die Aufzeichnungen dieses verarmten, von Depressionen und Krebs zerstörten Lehrers füllen einen der zehn Teile des Romans, den Verena von Koskull in allen seinen Stilschichten bis hin zu den Kalauern erfolgreich ins Deutsche geholt hat. Mag sein, Albinati hat diese Aufzeichnungen erfunden statt aus dem Nachlass gerettet. Sie bringen ein Grundmotiv auf den Punkt: „Nicht auf ihrem Zenit lassen sich Machtsysteme am besten durchschauen, sondern in ihrem Verfall, wenn es bergab geht. Moral, Ideen, Moden, politische Regimes und Glaubensprinzipien zeigen ihre wahre Natur, wenn sie unmittelbar davor sind, dem Neuen zu erliegen. Kurz vor ihrem Untergang enthüllen sie auf reinste und dramatischste Weise ihr Wesen und werden unter dem Einfluss unvorhersehbarer und deshalb um so lehrreicherer Ereignisse gänzlich durchschaubar.“
Mit aphoristischer Knappheit formuliert Cosmo Sätze, die an seinen Schüler adressiert sein könnten: „Im Gegensatz zu Geschichten haben Ideen kein Ende.“ Und: „Ideen enden, wenn ihren Schöpfer die Kräfte verlassen.“ Die erste Idee, die Albinati bis zur Erschöpfung ausbuchstabiert, ist die Idee der Generation. Sie macht die jungen Faschisten im Quartiere Trieste, die Radikalen des Geistes und der Literatur und die Linksradikalen zu Brüdern, die gemeinsam den Untergang des Italien ihrer Eltern erleben. „Meine Generation stand auf der Schwelle zwischen dem Einfluss einer im Niedergang begriffenen, aber noch immer starken elterlichen Autorität, die gar nicht daran dachte, auf ihre Vorrechte zu verzichten, und dem wachsenden Einfluss von Moden, Trends, Verhaltensweisen und Konsum als einzigem Weg, mit der Welt in Verbindung zu treten. Vielleicht waren wir in diesem Zwischenstadium freier – die neuen Götter hatten den Thron der verjagten Götter noch nicht bestiegen –, oder wir waren die Diener zweier und nicht nur eines Herrn wie die völlig der Familie untergeordnete Generation vor uns oder die gänzlich vom Markt versklavte nach uns. Ohne wahre Herren oder zweifach unterworfen.“
Die zweite Idee ist die der Männlichkeit als unheilbarer Krankheit, des männlichen Gliedes als Last und Gewaltrisiko, des Ausgeliefertseins der Männer an den Sex, in dem stets die Vergewaltigung lauert. Die Befreiung des Sex ist in den Sechzigerjahren schlug schon im Folgejahrzehnt in die totale Sexualisierung – also auch die Sexualisierung der Gewalt – um. Der Physiognomiker Albinati ist auch hier ein bedeutenderer Autor als sein Zwilling, der soziologisch und anthropologisch dilettierende Essayist, der einer prägenden Droge seiner Generation verfallen ist, der alles umfassenden Theorie.
Hätte sich dieser Theoretiker dem literarischen Physiognomiker untergeordnet, hätte der Roman für das Ideal, dem er nachstrebt, eine Form finden können. „Vielleicht ist das Hauptanliegen von Romanen und ihr wesentlicher und vielleicht einziger Existenzgrund, Welten heraufzubeschwören, die verschwunden sind. Oder es bald sein werden. Allein deshalb sind realistische Romane reinen Fantasyromanen – wenn es denn überhaupt welche gibt – überlegen, weil deren Welten nie existiert haben und somit niemals verschwinden können, sie sind unzerstörbar, was in puncto Beständigkeit sicherlich als Vorteil erscheinen mag, die Lektüre jedoch der erschütternden Schönheit einer im Untergang begriffenen Welt beraubt.“
Albinati will das Wurzelgeflecht
zeigen, das seine Herkunftswelt
mit den Mördern verbindet
„Im Gegensatz zu
Geschichten haben
Ideen kein Ende.“
Edoardo Albinati
Foto: Maike Albath
„Männlich geboren zu
werden ist eine unheilbare Krankheit.“ Jugendliche im Italien der Siebzigerjahre.
Foto: mauritius images / United Archives
Edoardo Albinati:
Die katholische Schule. Roman. Aus dem
Italienischen von Verena von Koskull. Berlin
Verlag, Berlin 2018.
1296 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2019

Schreckliche Kinder aus gutem Hause
Wohlgenährt und wohlerzogen, wozu also brauchen sie Gewalt? Edoardo Albinatis Roman "Die katholische Schule"

Edoardo Albinati hat einen monumentalen Roman geschrieben, der in Italien eine Welle der Begeisterung, aber auch der Kritik ausgelöst hat, weil er den Geist einer Gesellschaft beschwor, die noch vom faschistischen Erbe der Elterngeneration geprägt war und schon zum Objekt einer beispiellosen Prosperität in einem beispiellos permissiven Bildungsumfeld geworden war. 1300 Seiten umfasst "Die katholische Schule". Es geht darin um alles, was deren Zöglinge im bürgerlichen Quartiere Trieste in den siebziger Jahren beschäftigt, prägt, bildet und verdirbt. Und weil Kinder und Jugendliche noch kein rückwärtsgewandtes Narrativ über sich selbst haben, fängt Albinati mit den unmittelbaren Gefühlen und Erfahrungen an, von denen er selbst als Schüler des San Leone Magno geprägt worden ist. Und die, so die Behauptung dieses großen Gedankenromans, haben in ihrer scheinbaren Harmlosigkeit einen gravierenden Effekt auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen der Postachtundsechziger gehabt.

1975 führen sie zu einem beispiellosen Verbrechen, das Italien in eine Art Schockstarre versetzt. Zwei Schüler des San Leone Magno und ein weiterer Junge entführen am 29. September zwei junge Frauen in Rom, bringen sie in eine Villa am Monte Circeo, foltern und vergewaltigen sie, wobei ein Mädchen seinen schweren Verletzungen erliegt. Das andere erwacht neben einer Leiche im Kofferraum des Entführungsfahrzeugs. Ein scheinbar spontanes Verbrechen, ausgeübt von Zöglingen einer katholischen Privatschule, die für ihren liberalen Geist berüchtigt und von der eigenen Schülerschaft teilweise dafür verachtet wird. Ein Verbrechen, begangen von jungen Menschen aus einem wohlanständigen Stadtteil. Eine grausame Tat, die reinen Sadismus, reine Verachtung für das weibliche Geschlecht offenbart. Es ist eines der zentralen Anliegen dieses literarischen Sittenbilds, das Ausnahmeverbrechen vom Monte Circeo in den gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit einzuordnen. Denn obwohl über viele hundert Seiten hinweg in diesem Buch nichts weiter passiert, als dass die Zöglinge einer römischen Jungenschule den Lehrern Bubenstreiche spielen, sich nach Mädchen verzehren, Onanistenwettbewerbe veranstalten und sich in die Mütter ihrer Freunde verknallen, baut sich mit der Zeit eine unterschwellige Aggression auf. Auch im Leser.

Es ist die Aggression der Adoleszenz, die schon so viel ersehnt, ohne zu wissen, wie es zu erreichen wäre. Die aber auch, so einer der Leitgedanken des Romans, weder im anwesenden Lehrkörper noch in der saturierten Elternschaft eine angemessene Reibungsfläche hat. Die Mönche haben etwas von protestantischen Theologen. Manche biedern sich bei den jungen Leuten regelrecht an. Andere verzweifeln, nachdem Schüler eine zu Forschungszwecken im Klassenzimmer kultivierte Topfpflanze vergiftet haben. Von harter Hand und Generationskonflikten ist nichts mehr zu spüren in diesem Bildungsroman über die Zeit nach 1968. Alles plätschert beschaulich vor sich hin. Albinati selbst sorgt mit seinem mäandernden Stil und einem Hang zu essayistischen Abschweifungen für diesen Eindruck. Und doch verfolgt natürlich auch er das Ziel, eine Erklärung zu liefern. Eine Erklärung für die psychische Disposition seiner Generation, seiner sozialen Schicht, seiner Bildungskohorte.

"Jeder Familienroman ist die Geschichte einer Neurose", schreibt er im ersten Romandrittel, etwa an der Stelle, an der Albinati auf gerade mal zwölf Seiten nüchtern die Geschehnisse vom Monte Circeo wiedergibt. "Die für den Roman so typische verzweifelte Sinnsuche triumphiert in den Schlüssen, die wir aus unserer Vergangenheit ziehen und damit ein fantastisches Alibi für alles liefern, was passiert ist und noch passieren wird. Im Grunde ist die Literatur eine Lebensversicherung, damit man sich nicht weiter anstrengen muss, ein eigenes Leben und ein anderes, besseres oder mutigeres Ich auf die Beine zu stellen: Wozu, wenn die Literatur mich ersetzen kann?"

Nun, Albinati hat keinen Familienroman geschrieben, sondern einen Gedankenroman. Er hat nicht versucht, die eigene Biographie durch die Prägungen seiner Jugend zu einem durch und durch plausiblen Narrativ zu verengen. Und doch ist dieser in Italien als großer Wurf gefeierte Roman eine Probe aufs Exempel. Wie kann ein maximal dezentriertes Schreiben letztlich doch zu einer Fokussierung auf die Dispositionen einer Kohorte führen?

Albinatis "Katholische Schule" liefert in enervierender Weitschweifigkeit eine Mentalitätsgeschichte der römischen Mittelschicht. Das Weibliche, so erfahren wir darin, wird im Leben der römischen Zöglinge auf schädliche Weise ausgespart. Weder in der Jungenschule sind Mädchen greifbar noch als Prostituierte, mit denen der ein oder andere Geistliche des San Leone gesehen wird. Und auch in der typisch italienischen Doppelrolle zwischen Familienglucke und wirtschaftlich abhängiger Hausfrau sind Frauen im Kosmos der Jungen keine Wesen auf Augenhöhe. "In Italien herrschte eine einzigartige Form des Matriarchats, in dem die Frauen außerhalb des Hauses wenig bis nichts zählten." Dieser Cocktail aus unterdrückten Sehnsüchten und abwesenden Gelegenheiten, so suggeriert der Autor, könnte verantwortlich sein für einen habituellen Sadismus, der im Verbrechen vom Monte Circeo einen traurigen Höhepunkt findet.

In einem Interview hat sich Albinati als "Barde des Quartiere Trieste" bezeichnet. Das ist eine hübsche Selbstbeschreibung, stimmt aber nicht ganz, wenn man der Definition des Sextus Pompeius Festus folgt: "Die Gallier bezeichnen als Barden den Sänger, der das Lob tapferer Männer singt." Denn von tapferen Männern kann bei Albinati nicht die Rede sein. Eher von verunsicherten, hormongebeutelten, ziellosen Gesellen, die in einer sich anbahnenden Konsumgesellschaft den Sinn fürs Überindividuelle verlieren. "Der Niedergang der familiären Autorität, die in der Zeit der vorliegenden Geschichte zwar nicht ihren Anfang nahm, aber allmählich unübersehbar wurde, hat alles andere als eigenständigere und unabhängigere Menschen hervorgebracht. Waren Minderjährige früher den Regeln unterworfen, die ihre Eltern aufgestellt hatten, mussten sie nun dem nicht minder eisernen Diktat des Marktes und der Mode, der erdrückenden Zwänge der Generationenzugehörigkeit und des sozialen Teilens folgen." In solchen Momenten bringt Albinati tatsächlich das Dilemma seiner Generation auf den Punkt. Undiskutiert bleiben allerdings die emanzipatorischen Durchbrüche seiner Zeit. Vor allem die der sexuellen Befreiung, von der in der bürgerlichen Sphäre des Quartiere Trieste nichts zu merken ist.

Die koketten Empfehlungen des Autors, doch bei mangelndem Interesse ein paar Kapitel zu überspringen, helfen nicht über die analytischen Schwächen des Romans hinweg. So manche Einlassung zu Familie, bürgerlicher Ehe, männlichen Sexualorganen wirken geschwätzig. "Der Koitus ist letztlich nichts anderes, als geschlagen zu werden. Deshalb sieht der Geschlechtsakt für einen hypothetisch Ahnungslosen wie eine Bestrafung aus (ich weiß nicht mehr, ob es Baudelaire oder Laforge war, der von einem ,chirurgischen Eingriff' sprach . . .)." Spontanes Googlen ergibt: Baudelaire!

Man muss viel Zeit, viel Geduld haben, um aus dem vielen Gesagten das Interessante herauszufiltern. Lässt man sich aber auf den Fluss dieser stets freundlichen Sprache ein und gestattet sich, die Schüler und Lehrer des San Leone Magno Seite für Seite besser kennenzulernen, dann entfaltet der Roman am Ende die Wärme einer guten Fernsehserie, mit der man wochenlang das Sofa geteilt hat. Nicht umsonst war Edgar Reitz' Langzeitstudie "Heimat" eine wichtige Referenz für den gefeierten Chronisten aus Rom.

KATHARINA TEUTSCH

Edoardo Albinati: "Die katholische Schule". Roman.

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Berlin Verlag, Berlin 2018. 1296 S., geb., 38,- [Euro]

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»Einer der aufregendsten Romane der letzten Jahre.« Die ZEIT 20181122