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"Post, Post, Post". Dieser Stoßseufzer, notiert im Kalender unter dem Datum vom Sonntag, dem 4. März 1990, kommt nicht von ungefähr: Christa Wolf war eine ungeheuer produktive Korrespondentin. Ihre Briefe an Verwandte und Freunde, Kollegen, Lektoren, Politiker, Journalisten geben faszinierende Einblicke in ihre Gedankenwelt, ihre Schreibwerkstatt, ihr gesellschaftliches Engagement. Ob sie an Günter Grass oder Max Frisch schreibt, von Joachim Gauck Einsicht in ihre Stasi-Akte fordert oder sich mit Freundinnen wie Sarah Kirsch und Maxie Wander austauscht, wir sind Zeuge von Freundschaften und…mehr

Produktbeschreibung
"Post, Post, Post". Dieser Stoßseufzer, notiert im Kalender unter dem Datum vom Sonntag, dem 4. März 1990, kommt nicht von ungefähr: Christa Wolf war eine ungeheuer produktive Korrespondentin. Ihre Briefe an Verwandte und Freunde, Kollegen, Lektoren, Politiker, Journalisten geben faszinierende Einblicke in ihre Gedankenwelt, ihre Schreibwerkstatt, ihr gesellschaftliches Engagement. Ob sie an Günter Grass oder Max Frisch schreibt, von Joachim Gauck Einsicht in ihre Stasi-Akte fordert oder sich mit Freundinnen wie Sarah Kirsch und Maxie Wander austauscht, wir sind Zeuge von Freundschaften und Zerwürfnissen, Auseinandersetzungen und von Bestätigung, von der Selbstfindung einer der wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt beeindruckt ihr Umgang mit der Flut von Leserbriefen, die sie mit zunehmendem schriftstellerischen Erfolg erreicht und auf die sie geduldig und kundig - und manchmal auch mit der gebotenen Direktheit - eingeht.
Autorenporträt
Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2017

Nachdenken über Christa Wolf
Ihre Briefe sind ein Lehrstück über die Fallstricke im Verhältnis von Schriftstellern zur Staatsmacht

In seinem Buch "La trahison des clercs" hat der französische Philosoph Julien Benda 1927 so eloquent wie rigoros eine Ethik des Schreibens entworfen. Wer gut schreibt, der verfügt über einen Zugang zum Bewusstsein anderer, der ihm eine spezifische Verantwortung auferlegt. Diese verpflichtet ihn auf die universalen Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Vernunft. Verraten wird diese Verantwortung, wenn sich der Schreibende stattdessen den "Leidenschaften" des Nationalismus, des Rassismus und des Klassenkampfs überlässt. Auf die Politik einwirken soll der Schriftsteller wenn überhaupt dann ausschließlich, indem er jenen Werten kritisch Geltung verschafft. In der Neuauflage 1946 hatte Benda seine Position bekräftigt. Die Masse der französischen und deutschen Intellektuellen habe schmählich versagt und sich an der Organisation des politischen Hasses beteiligt, von dem das 20. Jahrhundert geprägt wurde.

In deutschen Diskussionen über die politische Rolle des Schriftstellers hat Bendas Position keinen Widerhall gefunden. So fiel es Herta Müller zu, nach dem Ende der DDR, bei der Vereinigung der Schriftstellerverbände daran zu erinnern, dass der P.E.N.-Club auf einem ethischen Konzept beruht, das sich mit dem Bendas deckt. Die Mitglieder verpflichten sich nämlich, "für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken". Für Herta Müller war der ostdeutsche P.E.N. dagegen ein "Schweigeverein, der sich vom Staat finanzieren ließ". Ein undifferenzierter Zusammenschluss kam für sie nicht in Frage: "Wer diese Ethik nicht durch seine Biographie begleitet hat, es tut mir leid, der hat da nichts verloren."

Auch Christa Wolf hat immer wieder die Verantwortung der Schriftsteller beschworen, aber da war sie längst verstrickt. Mit ihrer Einwilligung, als "IM Margarete" von 1959 bis 1962 für die Staatssicherheit tätig zu werden, hatte sie, die ihren "Faust" kannte, den Teufelspakt mit der Macht unterzeichnet, dessen Folgen sie als andere Gretchenfrage nicht wieder los wurde. Da half es nichts, dass sie offenbar versucht hatte, den Teufel zu betrügen, indem sie nur Unerwünschtes oder Harmloses berichtete. Der Teufel rächte sich durch das Rubrum der Doppelzüngigkeit, unter dem sie fortan lückenlos überwacht wurde.

Die Konfliktlage wirkt je direkt in den Briefverkehr hinein, der nun unter den Augen der Überwacher stattfindet. 1984 schreibt sie an Raissa Orlowa-Kopelew: "Es gibt seit Jahren von mir keine wirklich offenen Briefe an Freunde. Das Briefeschreiben ist mir buchstäblich vergangen - bei einem enormen Postverkehr übrigens." Dennoch wird ihr Leben in den Briefen bis hinein in Freude und Mühsal des Alltags anschaulich, und immer wieder zeigt sich ein großes Bedürfnis nach Freundschaft und Vernetzung.

Wörter, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben

Bei zunehmender Durchdringung ihrer Lage wird ihr klar, dass sie an das Unrecht gebunden bleibt. Auszuhalten war das offenbar nur durch weitgehende Verdrängung vor allem ihrer Stasimitarbeit. Immer wieder beteuert sie, dass sie die Vorgänge der Zeit "wirklich!" vergessen hatte. Erst in den Briefen der frühen neunziger Jahre bekennt sie offener, wie weit sie sich auch sprachlich auf die Macht eingelassen hatte: "Ich habe ja diese Wörter benutzt, die mir heute die Schamröte ins Gesicht treiben, ich habe ja angefangen, diese Sprache zu sprechen." Die Suche nach ihrer eigenen Sprache habe sie schließlich gerettet, was sie mal mehr, mal weniger larmoyant als einen schmerzhaften Prozess schildert. So schreibt sie 1991 an Jürgen Habermas: "Von mir muß ich sagen, daß ich mich erst allmählich aus Einseitigkeit, dogmatischen Vorurteilen, Gläubigkeit, Befangenheit herausgearbeitet habe: allmählich und sehr schwer, unter Schmerzen und existentiellen Konflikten."

Vollständig aber konnte das nicht gelingen. Spätestens seit ihrem zweifellos Mut erfordernden dissidentischen Auftritt im 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965, gesteigert noch einmal nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, musste sich Christa Wolf immer wieder zwischen Reden und Schweigen, Aufbegehren und Kompromiss entscheiden. Die Briefe zeigen, dass sie seitdem unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht. Dabei verschweigt sie Freunden nicht, dass ihr auch der Verzicht auf ihre Privilegien schwer gefallen wäre, die im Nachhinein zur Gewissensbelastung werden. Diese Zwickmühle führte zu wiederkehrenden Nervenzusammenbrüchen.

In den späten achtziger Jahren lässt sie immer mehr Rücksichten fallen. In einem Brief zum X. Kongress des Schriftstellerverbandes 1987 kritisiert sie dessen Rolle seit der Ausbürgerung Biermanns massiv, um schließlich für "uneingeschränkte Publikation literarischer Werke" zu plädieren, worin ihr Günter de Bruyn und andere folgen. Die Stasi attestiert ihr daraufhin einen "herausragend negativen Stellenwert". In einem Brief an Honecker setzt sie sich 1988 für die jungen Menschen ein, die im Januar für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Demokratie demonstriert hatten und den Kern der späteren Bürgerrechtsbewegung bildeten. Mit dem P.E.N. solidarisiert sie sich mit Salman Rushdie und Václav Havel. In einem Brief an den chinesischen Botschafter protestiert sie 1989 gegen die blutige Niederschlagung der Demonstration auf dem Tiananmen-Platz; ebenso beim Generalstaatsanwalt gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober.

Als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates

So spielt sie bei Annäherung an die Zeitenwende zunehmend die Rolle einer kritischen moralischen Instanz, und als eine solche wird sie von ihren Lesern wie von der Staatsführung auch betrachtet. Dabei scheint sie gelegentlich vergessen zu wollen, dass sie auch mit ihrem kritischen Engagement an den Machtkomplex gebunden bleibt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass sie mit ihrem Mann eine Übergangsregierung mit Kabinettsliste entwirft, als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates. Immer nachdrücklicher lässt sie jedenfalls ihr Verbleiben in der DDR als eine nicht ohne heroischen Opfermut angenommene politische wie persönliche Herausforderung und Aufgabe erscheinen. Jurek Beckers Aufforderung an die Schriftsteller, "wir sollten uns alle zu unserer vierzigjährigen Feigheit bekennen", empfindet sie dagegen als Anmaßung und tut sie als Bedürfnis jener ab, die mit ihrem Weggang recht behalten wollten. An Rosemarie Zeplin schreibt sie im August 1990: "Und dafür, daß ich hiergeblieben bin, sehe ich keinen Anlaß, mich zu rechtfertigen. Ich glaube, in gewissem Sinn war es schwieriger als wegzugehen und allein daraus alle Entlastung zu ziehen. Ich weiß noch genau, wann und wo ich mir die Alternative stellte: Entweder du machst dich frei von jeder Abhängigkeit, oder du mußt weggehen."

Tatsächlich aber bleibt die Briefschreiberin weiterhin mit Selbstrechtfertigung beschäftigt, was sich je nach Adressat verschieden darstellt. Gleich mehrfach findet sich in der Zeit die Formulierung, sie verspüre "eine rasende Sehnsucht nach Unschuld". Eine folgenlose Floskel, denn sie weiß ja, dass sie diese Unschuld schon früh eingebüßt hatte. Sie tröstet sich mit dem kryptischen Bonmot eines Schweizer Journalisten, auf Unschuld sei es nicht angelegt. Sie wünscht sich, an manchen Punkten "radikaler, konsequenter gehandelt zu haben", aber letztlich glaubt sie, keine Wahl gehabt zu haben. So relativiert sie ihre zweifellos vorhandenen Schuldgefühle durch den Gedanken einer geschichtlichen Bedingtheit, der die ostdeutschen Intellektuellen nicht entrinnen konnten.

Derart verfolgt sie in den Briefen der frühen neunziger Jahre eine vertrackte Strategie der Selbstbehauptung, die, wie sie 1991 an Margarete Mitscherlich schreibt, aus dem Gefühl resultiert, man wolle ihr "ihr Leben nehmen und mir an dessen Stelle ein anderes unterschieben, so wie die ganze DDR zu einer schauerlichen Chimäre aufgeblasen wurde, die man nun frischfröhlich abwickeln kann". Diese Selbstbehauptung geschieht gelegentlich nicht ohne Arroganz nach älterem Muster der Verachtung der Massen, die "auf den großen Plätzen fahnenschwenkend Kohl zugejubelt haben, das Fernsehen brachte ihre glaubensseligen Gesichter, ihre vor Anbetung verdrehten Augen ins Wohnzimmer". Die Motive der Einheitsbefürworter reduziert sie auf Profitstreben, für eine wahre Befreiung hat das dumme Volk im Gegensatz zu ihr keinen Sinn. Dabei fällt ihre Kapitalismuskritik erstaunlich grobschlächtig aus.

Im Westen habe sie nicht leben wollen, weil sie in der Bundesrepublik keinen Funken der Utopie entdecken konnte. Als sie "Kein Ort. Nirgends" (1979) schrieb, sei allerdings auch die DDR schon nicht mehr der Staat der Schriftsteller gewesen, sei es dann aber 1989 kurz noch einmal geworden: "als Traum". Die reale Entwicklung betrachtet sie dagegen in Kategorien von Sieg und Niederlage, womit sie sich gleichzeitig die moralische Beurteilung durch andere, die freilich seinerzeit in manchen Medien außer Proportion geriet, vom Leibe halten will. Wolfgang Thierses Vorschlag eines Tribunals lehnt sie ab, "weil die Rechtsmaßstäbe der Sieger noch andere Interessen verfolgen als die, Humanität wiederherzustellen: zu groß ist das Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung". Über die Maßstäbe der Kritik möchte sie selber verfügen, was immer wieder zur Relativierung, zur Absetzung von den "wirklich Schuldigen" führt: "Ehrgeizlinge, Feiglinge und Arschkriecher".

Noch in Kalifornien, während ihrer Zeit als Fellow des Getty Center 1992, kommt ihr gelegentlich die Wut "über alles" hoch. Sie bleibt auch dort noch mit Selbstbehauptung beschäftigt, gewinnt aber langsam an Distanz und findet Geschmack an der Idee, "zwischen allen Fronten" zu stehen. Die DDR rückt dabei zunehmend in die Ferne der geschichtlich unrealisierten Möglichkeit eines humanen Sozialismus.

FRIEDMAR APEL

Christa Wolf: "Man steht sehr bequem zwischen

allen Fronten". Briefe 1952-2011.

Hrsg. von Sabine Wolf.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1040 S., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2016

Die Falle Hoffnung
15 000 Briefe enthält der Nachlass von Christa Wolf. Jetzt gibt es eine beeindruckende Auswahl in einem Band
Auf der einen Seite ist die Hoffnung. Auf der anderen ist der Schmerz. Und je größer der Schmerz sei, desto größer müsse die Hoffnung dann doch noch gewesen sein, auch wenn es so aussah, als wäre sie längst erloschen. So schreibt Christa Wolf zu Ostern 1977 an ihre Freundin Maxie Wander. Das war vier Monate nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann, mit der sich die Lage für die Künstler in der DDR endgültig verfinsterte. Dabei hatte sie geglaubt, schon nach dem berüchtigten
11. Plenum der SED im Dezember 1965 die letzten an die Partei geknüpften Hoffnungsreste verloren zu haben, damals, als sie so mutig wie vergeblich opponierte. Oder allerspätestens während der zähen Auseinandersetzung um die Veröffentlichung von „Nachdenken über Christa T.“. Doch sie litt immer weiter als Sozialistin in der DDR, bis zur Wende 1989 und darüber hinaus. Noch 2001 erinnerte sie sich in einem Brief an den Regisseur Adolf Dresen an diese Schmerzen. „Wie weh das tat, darüber macht sich kein anderer eine Vorstellung, und wir halten natürlich den Mund: Das wirkt ja heute nur noch lächerlich.“
Man kann ihre Hoffnungshartnäckigkeit naiv finden oder allzu anhänglich an eine Jahrhundertillusion, schließlich dichtete der Freund Volker Braun nach dem Ende des sozialistischen Experiments: „Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.“ Christa Wolf hing in dieser Falle fest. Aber welche Stärke entfaltete sie darin, den Bewegungsspielraum zu erweitern! Welche Aufrichtigkeit demonstrierte sie im Bemühen um eine bessere Welt! Und wie viel Zuwendungsstärke brachte sie ihren Mitmenschen gegenüber auf. „Erst mal leben ist eigentlich ganz schön“, schrieb sie im Sommer 1988 an Volker Braun, als sie gerade eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden hatte – eine Erfahrung, aus der später die Erzählung „Leibhaftig“ hervorging.
Psychosomatische Reaktionen auf die Zumutungen der Weltgeschichte waren bei ihr keine Seltenheit. Dass sie auch zwei Mal wegen Depressionen klinisch behandelt wurde, ist weniger bekannt – das erste Mal 1967, wie sie gegenüber den Freunden Anna und Friedrich Schlotterbeck andeutete. Da schrieb sie aus der Berliner Charité: „Sagt anderen Leuten nicht, wo ich bin, für die Öffentlichkeit hab ich Kreislaufstörungen.“ Der Titel des Bandes, der ausgewählte Briefe aus dem Nachlass versammelt, führt deshalb ein wenig in die Irre, denn auch wenn Christa Wolf den Satz „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ 1977 geschrieben hat – bequem stand sie wahrlich nicht zwischen den Fronten, sondern immer als Schmerzensfrau.
Rund 15 000 Briefe enthält der Nachlass im Archiv der Berliner Akademie der Künste, von denen nun 483 vorliegen. Es handelt sich also um eine kleine Auswahl, doch die Herausgeberin Sabine Wolf – mit Christa Wolf weder verwandt noch verschwägert – zeigt in diesem klug komponierten Band die ganze Vielfalt der Adressaten und der Schreibweisen. Weil die Briefwechsel mit Brigitte Reimann, Anna Seghers, Franz Fühmann, Maxie Wander und Charlotte Wolf bereits einzeln publiziert worden sind, kommen sie hier nur sparsam vor. Nun sind andere die festen Bezugsgrößen über längere Perioden hinweg: Lew Kopelew, der immer wieder zu politischen und poetologischen Selbstbestimmungen herausfordert, Max Frisch und später Günter Grass als nahestehende Kollegen im Westen oder – bis zum Bruch nach der Wende – Sarah Kirsch, von der Christa Wolf zu erstaunlich verspielten, märchenhaften Erzählungen angeregt wird.
Es gibt sorgenvolle Briefe an Nachbarn, freundlich bestimmte an Leserinnen und Leser, mütterliche an die Kinder, liebevolle an den Ehemann Gerhard Wolf, an Freunde und Familie, mutige an Genossinnen und Genossen bis hinauf zu Erich Honecker, an den zu schreiben sie nicht zögerte, wenn es darum ging, Hilfe für in Bedrängnis geratene Kollegen zu erbitten. Für alle Empfänger fand Christa Wolf einen eigenen Ton und eine stets aufrichtige Hinwendung. Das ist das Beeindruckende an diesen Briefen. Sie lassen einen Menschen lebendig werden, der seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt und den Empfängern nie nach dem Mund redet. Wenn sie gegenüber Kollegen – sei es Erwin Strittmatter oder Erich Loest – über deren neue Bücher spricht, scheut sie vor kritischen Bemerkungen nicht zurück.
Die Briefe reichen von 1952 bis ins Todesjahr 2011, anders gesagt, von der jungen, altklugen Literaturkritikerin, die sich an den Postulaten des sozialistischen Realismus orientiert, über die angehende, schon nicht mehr ganz so selbstgewisse Autorin hin zur zunehmend konfliktreich agierenden sozialistisch-humanistischen Intellektuellen in einem degenerierten sozialistischen Staat und schließlich zu einer zwar desillusionierten, aber weiterhin engagierten Bürgerin des wiedervereinigten Deutschland. Dass sie für eine Genossin vielleicht zu bürgerlich, für eine Bürgerin zu sozialistisch war, macht die besondere Spannung aus, die in den Briefen spürbar wird. Ohne diese Spannung hätte sie nicht schreiben können. Das war ihr durchaus klar, und sie erwähnt es immer wieder.
Christa Wolf wurde erst von Mitte der Sechzigerjahre an, als die Differenzen mit der Partei nicht zu übersehen waren, tatsächlich „Christa Wolf“. Sie hat sich nicht danach gedrängt, aber der Konflikt der idealistisch gestimmten Sozialistin, die an ihren Idealen zweifelte und an der Wirklichkeit verzweifelte, trieb nun ihr Schreiben an, und es ist kein Zufall, dass die Briefdichte von den Siebzigern bis in die Neunzigerjahre am größten ist. Doch schon um 1955 schickte sie dem Schriftsteller und väterlichen Protegé Louis Fürnberg den Stoßseufzer: „Himmelherrgottsakra, Eure ganze ‚ideologische Klarheit‘ hilft Euch nischt, wenn Ihr kein Talent habt!“
Damit begann das Ringen um eine eigene Haltung und Ästhetik, um das, was Christa Wolf später das „Unsagbare“ nannte, das sie jenseits der Grenzen des bloß Richtigen und politisch Opportunen erreichen wollte. Dass dieses „Unsagbare“ manchmal einfach bloß dem Umstand geschuldet war, mit Lesern bei der Stasi rechnen zu müssen, und es deshalb besser war, manches nur verklausuliert anzusprechen, ist eine andere Pointe dieses in vielen Nuancen schillernden Briefwerks. Besonders deutlich wird die Vorsicht in Briefen an die tschechische Freundin Františka Faktorová rund um das Jahr 1968 und den Prager Frühling.
Ob „Utopie“, „Hoffnung“ oder pragmatische „Alternative“ – ohne den Pol des Anderen, der Wandlung, der Verbesserung hätte sie nicht leben wollen, auch wenn sie die Frage stellt, „wo da der Fortschritt läuft von den Scheiterhaufen des Mittelalters zu den Öfen von Auschwitz“. Sie hätte stattdessen auch den stalinistischen Gulag einsetzen können. Weit entfernt sei sie von einem „räsonierenden, nörgelnden Geschichtsverständnis“, schrieb sie 1973 an Lew Kopelew. „Nur beschäftigt mich unausgesetzt die Frage der Alternativen. Und auch das – dass man nur auf eine Alternative hin glaubt schreiben zu können – zeigt ja, wie man an der These hängt, dass Literatur gleich und möglichst noch politisch wirksam werden könnte.“ Knapp dreißig Jahre später: „Warum ging ich nicht weg? Weil ich in der Bundesrepublik nie den Hauch einer utopischen Gesellschaftsentwicklung gesehen habe. Die Art Langeweile konnte ich auch zu Hause haben.“
Erlebbar wird in den Briefen auch der Bruch, den das Jahr 1989 bedeutete. Denn auch da noch gab es, wie sich zeigte, einen schmerzenden Hoffnungsrest. Entscheidend aber war etwas anderes: der radikale Wandel der Öffentlichkeit und der Bedeutung der Intellektuellen. Im Sozialismus erfuhr Christa Wolf die unmittelbare Wirksamkeit von Literatur und politischem Engagement. Das Wort wurde ernst genommen – das immerhin leisteten die Machthaber, auch wenn die Funktionäre von Kunst keine Ahnung hatten. Trotzdem gab es auch mit ihnen eine Gemeinschaft im Dienste der Verbesserbarkeit der (sozialistischen) Welt. Christa Wolf akzeptierte sie als Gesprächspartner, und sie hatte mit ihren Invektiven gegenüber Erich Honecker und anderen ja auch durchaus Erfolg.
Kam es bis dahin gut sozialistisch auf Standpunkt und Perspektive an, so wurden die östlichen Intellektuellen nach der Wende zurückgestuft auf bessere Bürger, die vielleicht noch eine Meinung äußern konnten oder für eine besondere Haltung standen. Aber was ist schon eine Meinung. Das Starkmachen des eigenen Alltags und der eigenen Subjektivität, mit der Christa Wolf in der DDR durchaus widerständig wirkte, war plötzlich nur noch bieder und brav. „Unsere“ Christa hieß es dann abschätzig oder, brutaler und völlig daneben, die „Staatsdichterin“.
Das öffentliche Getöse der Christa Wolf-Debatten findet in den Briefen nur einen schwachen Widerhall. Umso mehr die neuen und die alten Freundschaften. Ein gewisses Ressentiment gegenüber „dem Westen“ ist durchaus verständlich. Die Intellektuellen im Osten haben zumindest die Erfahrung des Scheiterns voraus, und Christa Wolf wehrte sich dagegen, dass „die im Westen“ sich „für das Urbild des Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ halten. Dagegen setzte sie ihre Erfahrungen und die Geschichte der DDR. Aber auch dann noch galt, was sie schon im April 1977 an Maxie Wander schrieb: „Ich habe mich nie beklagt, nichts bedauert oder gar bereut.“ Und aller Hoffnung auf bessere Zeiten zum Trotz notierte sie auch grundpragmatisch: „Was heißt hier günstigere Zeiten? Die Zeit, in der man lebt, ist die einzige, also auch die günstigste.“
Christa Wolf ist in ihren Briefen nicht anders, aber doch neu zu entdecken: als eine beeindruckend wache, jederzeit Anteil nehmende Zeitgenossin und Gesprächspartnerin. Aus vielen kleinen Momenten setzt sich das Bild ihrer Person, ihr Lebensweg und die deutsche Geschichte in Ost und West zusammen. Und so erfährt man auch etwas darüber, was das ist, diese rätselhafte Sache „Leben“, und wie es sich fügt in seine Zeit.
JÖRG MAGENAU
Zu Beginn schrieb sie als junge,
altkluge Literaturkritikerin
„Ich habe mich nie beklagt,
nichts bedauert oder gar bereut.“
Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952 - 2011. Herausgegeben von Sabine Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 1040 Seiten, 38 Euro. E-Book 32,99 Euro.
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»Die Herausgeberin Sabine Wolf zeigt in diesem klug komponierten Band die ganze Vielfalt der Adressaten und Schreibweisen... eine beeindruckende Auswahl.« Jörg Magenau Süddeutsche Zeitung 20161215