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"Fremde Verwandtschaften" ist ein sprachliches Kunstwerk, eine groß angelegte Reflexion über das Sein, voller Details und Feinheiten, doppelter Böden und versteckter Gänge. Thomas Stangl gibt seinen Figuren Raum zur Entfaltung. Während seiner Reise zu einer Konferenz nach Westafrika öffnen sich einem Wiener Architekten ungeahnte Denkregionen. In schlaflosen Nächten, auf Irrwegen durch die fremde Stadt und bei immer weniger einzuordnenden Begegnungen werden dem Mittvierziger seine Vorstellungen und sein Handeln, seine Verantwortung und seine Routinen als Architekt, Europäer, Vater, Sohn und…mehr

Produktbeschreibung
"Fremde Verwandtschaften" ist ein sprachliches Kunstwerk, eine groß angelegte Reflexion über das Sein, voller
Details und Feinheiten, doppelter Böden und versteckter Gänge. Thomas Stangl gibt seinen Figuren Raum zur
Entfaltung.
Während seiner Reise zu einer Konferenz nach Westafrika öffnen sich einem Wiener Architekten ungeahnte Denkregionen.
In schlaflosen Nächten, auf Irrwegen durch die fremde Stadt und bei immer weniger einzuordnenden
Begegnungen werden dem Mittvierziger seine Vorstellungen und sein Handeln, seine Verantwortung und seine
Routinen als Architekt, Europäer, Vater, Sohn und Ehemann immer fremder. Je tiefer er in sein Inneres eindringt,
desto größere Risse und poröse Stellen bekommen die Säulen seiner Existenz. Die Möglichkeit eines ganz anderen
Lebens blitzt auf.
Eine parallele Reise unternimmt ein namenloses Ich, das wie ein Rauschen, Rascheln und Hallen aus dem Hintergrund
zu hören ist. Seine halluzinatorischen und verstörenden Gedanken- und Erinnerungsbilder schieben sich - in fremder Verwandtschaft - in die Erzählung hinein.
Autorenporträt
Stangl, Thomas
Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, studierte Hispanistik sowie Philosophie und lebt in Wien. Für sein Werk erhielt er u.a. den Aspekte-Preis 2004, den Literaturpreis der deutschen Wirtschaft 2007, den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann- Preis 2007, den Alpha-Literaturpreis 2010 und den Erich- Fried-Preis 2011. Er veröffentlichte bisher die Romane Der einzige Ort (2004), Ihre Musik (2006), Was kommt (2009) und Regeln des Tanzes (2013) sowie die Essaybände Reisen und Gespenster (2012) und Freiheit und Langeweile (2016).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2018

Der Traum des
Architekten
Thomas Stangl reist in ein fiktives Afrika
Der Erzähler hat einen Traum: einmal in einem Raum ohne Koordinaten sein. Unterwegs in unkartiertem Gelände. Es gäbe keine Himmelsrichtungen, kein Zuhause, keine Fremde, keine Stadt, nicht einmal ein Hier oder ein Dort ließe sich bestimmen. Der graue Boden stünde für den grauen Boden, das bleiche Gras für das bleiche Gras. Die Welt wäre nichts als die Welt. Die Vorstellung, die sogenannte Wirklichkeit könnte immer vermittelt sein, ja, jede Wahrnehmung sei ganz von Bildern und Projektionen überlagert, treibt den österreichischen Schriftsteller Thomas Stangl von jeher um. Schon in seinem Roman „Ihre Musik“ (2006) ließ er die Figuren ein Wien durchwandern, das sich mit den Welten der Imagination vermischt. In „Regeln des Tanzes“ (2013) erprobten die Charaktere zuletzt, ob sie die Wirklichkeit durch politische Aktionen verändern können. Nun schickt Stangl seinen Protagonisten auf den afrikanischen Kontinent.
Ein wenig gleicht der Roman einem Versuchsaufbau. Die Figuren tragen zunächst keine Namen, sondern nur Bezeichnungen wie „der Architekt“, „die Belgierin“ oder „der Präsident“. Sie alle sind Teil einer halb wissenschaftlich, halb touristisch angehauchten Reisegemeinschaft, die auf einem Architektur-Kongress die Schwierigkeiten einer Annäherung zwischen Afrika und Europa diskutieren soll. Ihr Gastland ist ein fiktiver Staat in Westafrika, der entfernt an die Elfenbeinküste erinnert, mit einem verstorbenen „ewigen“ Präsidenten namens Koyaga – eine Konstellation, die Stangl aus Ahmadou Kouroumas Roman „Die Nächte des Großen Jägers“ übernimmt.
Schon immer denkt Stangl sein Schreiben vor dem Hintergrund anderer Texte. Der Roman beginnt mit einem Kafka-Zitat, später folgen Anspielungen auf Julio Cortázar oder Georges Perec. Dass auch Ideen von Borges immer wieder über die Seiten schweben, verdankt sich nicht zuletzt der Vorliebe der versammelten Baukunstspezialisten für Bibliotheken und offene Räume. Wobei „der Architekt“ die eigentliche Hauptfigur in diesem „Professoren-, Präsidenten- und Architektenbläschen“ ist. Oder genauer: die einzige Hauptfigur. Als Leser erleben wir die Welt des Romans über weite Strecken aus seiner Perspektive. Wir erfahren etwas über seine Frau Margarita und die beiden Kinder, driften ab in Erinnerungsszenen aus seiner Jugend – und bekommen einen Eindruck davon, wie sehr er sich von der Idee verabschiedet hat, ein „wirklicher Mann in der wirklichen Welt“ zu sein.
„Was sind schon Bilder“, heißt es einmal in „Regeln des Tanzes“, und der Erzähler fährt fort: „Formen auf Papier oder Bildschirmen, Licht, versteckte Magie.“ Von dieser Restvorstellung einer magischen Aufladung der Bilder ist in „Fremde Verwandtschaften“ nicht viel übrig geblieben. Zwar liefern die Bilder bisweilen einen Hauch von Sicherheit, von Halt, weil die tägliche Angst darin verändert, vielleicht sogar gebändigt erscheint. Doch der Architekt leidet unter der Künstlichkeit all der Pläne und Karten. Erst recht, seit die „Sekundärmechanismen“ der digitalen Welt Räume erzeugen, die so tun, als würden sie keine Wirklichkeit mehr brauchen. Was er tief in seinem Innersten sucht, ist Lebendigkeit, sind Momente des Unvorhersehbaren.
In seinen architektonischen Plänen will er diesem Wunsch eine Gestalt geben. Mit seiner Idee des offenen Gebäudes versucht er, Häuser zum Leben zu erwecken, die Bauten sollen gewissermaßen gemeinsam mit ihren Bewohnern wachsen, sich verändern. Doch zu oft verliert er sich im luftleeren Raum des Denkens. Kein Wunder, dass er in Westafrika alles vergessen will, was er bis dahin gewesen ist. Vor allem aber meint er bisweilen ein Moment von Ganzheit und Ernsthaftigkeit zu spüren, das er in Europa nicht findet: „Ein Verschmelzen feiner feuchter Schichten: der Druck der Hitze löst sich und die Stadt verästelt sich in Wegen und Höfen, Klängen, Sätzen“. Gleichwohl ahnt der Architekt, dass er den Widersprüchen des Exotismus nicht entkommen kann.
Dabei erinnert ihn sein Wunsch an einen Traum aus seiner Kindheit. In diesem Traum entdeckt er hinter einem Spielzeugregal den Eingang zu einem geheimen Raum, in dem alles einen ganz eigenen Glanz ausstrahlt. Und er kommentiert: „Immer geht es um Schritte aus der bekannten Welt heraus, aber im Inneren von dieser; als würde der Raum sich aus sich selbst herausstülpen.“ Das klingt nun freilich wie ein Satz aus Stangls Essays, etwa aus dem Band „Freiheit und Langeweile“, in dem er über das Wunder der Zeichen nachdenkt und über die Kunst, kleine Momente zu zeichnen, die den Alltag der bekannten Welt durchbrechen.
Jetzt aber steht ein solch begrifflich angelegter Satz nicht in einem Essay, sondern in einem Roman. Und der Roman folgt nach Thomas Stangls Vorstellung dem Anspruch, sich der „Gewalt des Begriffs“, wie er es nennt, zu verweigern. Diesem Widerspruch zu seinen eigenen Ideen entgeht Stangl nicht immer. An manchen Stellen neigt „Fremde Verwandtschaften“ zu einer gewissen Typisierung. Auch versucht Stangl in den Sätzen seiner Figuren so viele Diskurse unterzubringen (von Identitätsfragen über Liebes- und Mediendiskurse bis zu postkolonialen Theorien), dass weder die Sätze noch die Figuren dieses Gewicht immer tragen können.
Zum Glück aber ist Thomas Stangls literarisches Gespür zu groß, als dass ihm der Roman entgleiten könnte. Vor allem in der zweiten Hälfte des Buches entfaltet er seine ganz eigene Ästhetik. Seit seinen Anfängen sucht dieser Autor nach einer Schreibweise, die es ihm ermöglicht, etwas zu erzählen, die zugleich jedoch den Sprüngen und Brüchen des Bewusstseins gerecht wird. Und die ihm Mittel an die Hand gibt, um Machtmechanismen, politische und ökonomische, ja, schon Denkhierarchien reflektieren zu können, ohne diese Hierarchien selbst in der Sprache zu wiederholen. Eine „Sprache des Verzichts“ hat er es in einem Essay genannt, und er meint damit den Verzicht darauf, den anderen, den Fremden beherrschen zu wollen, ihn zum bloßen Gegenstand zu machen.
Dazu gehört ein Präsens-Stil, der die Sichtweise des Architekten in mehrere, zeitlich verschobene Stränge und Sprechweisen aufspaltet – wobei immer deutlicher ein Erzähler hinter der Figur aufscheint, der aber seinerseits in Reflexionen hinterfragt wird. Zudem bedient sich Stangl bei spieltheoretischen Betrachtungen à la Raymond Roussel und baut Elemente aus Inger Christensens wunderbarem Langgedicht „alphabet“ in seine Kapitel ein. Die Logik von Träumen kommt dabei ebenso zu ihrem Recht wie die Wahrnehmungswelt der Kinder mit ihren Fantasien und Spielzeugen. Wiederholungen und Variationen sorgen dafür, dass irgendwann, wie es heißt, „alles im Kreis geht“.
So erlebt man als Leser eine Welt aus sinnlichen Details, die durch zwischengeschaltete Überlegungen, Denkirritationen, Lücken und verschobene Kontexte immer wieder auf Abstand gerückt wird. Es ist ein Erzählen ohne sicheren Boden, dessen Bewegung eher einer Spirale als einem Kreis gleicht. Politische, ästhetische und moralische Bezüge spiegeln sich in den besten Momenten gegenseitig. Und tatsächlich ist darin etwas von jenem Glück des „Struktur- und Zeichenseins“ spürbar, das für Thomas Stangl die Essenz gelungener Literatur ausmacht.
NICO BLEUTGE
Thomas Stangl: Fremde Verwandtschaften. Roman. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2018. 271 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Hier erlebt man ein Erzählen
ohne sicheren Boden, dessen
Bewegung einer Spirale gleicht
Thomas Stangl.
Foto: Aleksandra Pawloff
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2018

Nur ein Fehler, und alles ist verloren

Eine U-Bahn für Afrika: Im Roman "Fremde Verwandtschaften" schickt Thomas Stangl einen Architekten in den Süden und lässt ihn dabei die Hohlräume seines Inneren erkunden.

Zu beschreiben, wer man ist, mag eine der Haupttriebkräfte von Literatur sein. Dabei könnte sie es sich leichtmachen und sich bei den Sozialwissenschaften bedienen: davon sprechen, dass man Rollen spielt (und welche) oder psychologische Termini heranziehen oder gar den schwammigen Begriff "Identität". Thomas Stangl geht indessen seit seinem Debüt "Der einzige Ort" (2004) einen ganz eigenwilligen Weg, betont langsam in der Art, wie er wahrnimmt und erzählt, fragend, hinterfragend und bedächtig. Auf diese Langsamkeit zu erarbeitender Erkenntnisse sollte man sich einlassen wollen, um die Perlen in Stangls neuem Roman zu bergen.

"Fremde Verwandtschaften" erzählt von einem Wiener Architekten, der, noch in Gedanken an Ehefrau und Kinder, zu einem Kongress in Westafrika fliegt. Bereits am Flughafen, wo sich alle Teilnehmer treffen, fällt ihm die Frau auf, mit der ihn schon auf früheren Tagungen mehr als nur das Berufliche verband. Er nennt sie konsequent nur "die Belgierin", und es wird in diesem Buch, das von Afrika und Europa handelt, auch darum gehen, wie viel Raum er ihr gibt und sie sich geben lässt. Man unterschätzte Stangl aber, wenn man ihn auf dieses bekannte Muster reduzierte. Die mal erwünschte, mal abgewehrte Affäre bildet vielmehr nur den Verlaufsfaden und ist mit dessen wenig überraschender, körperfixierter Blickführung das Schwächste an diesem Roman.

Der 1966 in Wien geborene Thomas Stangl, der Philosophie und Hispanistik studierte, beschreibt keine Welten, sondern eher Choreographien, Bewegungen zueinander hin und voneinander weg. Am besten gelingt das, wenn er Kongresserfahrungen mit Afrika-Impressionen montiert. Die Gruppe ist vor Ort, um einen bislang als Universität und Wohnheim genutzten Gebäudekomplex zu überplanen. Ein Kollege schlägt den absurden Bau einer U-Bahn vor. Man diskutiert kritisch "Aneignungsprozesse" und die gereichten "Stützen". Dieses bizarre Szenario zwischen Empfängen, Busausflügen und prägnanten Stadtbildern erfasst ernüchternd das diffuse Hierarchietheater schlecht funktionierender Projekte.

Neben Afrika beschäftigt den Architekten aber auch seine eigene Vergangenheit: Vater und Mutter, der viel zu früh an Drogen gestorbene, einst erfolgreiche Bruder, vor allem aber die Angst, die mit diesen Erinnerungen einhergeht. Nachts fantasiert der mal in Ich-, mal in Er-Perspektive belichtete Architekt den toten Vater im Hotelzimmer. Tagsüber realisiert er das Verdrängte zusammenhangslos in versichernden Sätzen während der Tagungsausflüge: "Mein Bruder, denkt er, ist wirklich nicht mehr da." Je mehr er mit sich selbst beschäftigt ist, desto ferner rücken die Vorgänge vor Ort. Schon immer eher eine Randfigur, droht er aus allen Kontexten herauszustürzen. Und auch die ewig gedehnte Annäherung an "die Belgierin" wirkt eher wie ein Film-Loop ohne Vollzug, stetig unterfüttert mit Lebensweisheiten, die Kollegen diffus raunend fallenlassen wie Brosamen in einem surrealen Märchen: "Wenn man am falschen Punkt des Spielfelds einen Fehler macht, sagt der Mann mit der Foucaultglatze lächelnd, kann man alles verlieren."

Nun ließe sich Stangls Roman mit dem hier assoziierten französischen Philosophen sicherlich entschlüsseln, etwa als Versuch, die komplizierte Beziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft am Beispiel kolonial geprägter Historie in die Gegenwart zu holen, indem man sie zerlegt: in Träume, Wahrnehmungen, Ängste. Zu lesen wäre der Architekt dann ästhetisch wohlwollend als Figur, die wie im postdramatischen Theater Spielfigur und Projektionsfläche ist - hätte er nicht doch zu viel enervierende, subjektive, leidvolle Substanz. Vieles, was er wahrnimmt, führt früher oder später zu ihm selbst. Schlafende Menschen - und ihm fällt ein, dass er selbst schlecht schläft. Netze - und er stellt fest, dass er nie Teil eines Netzes werden kann.

Das Gelangweiltsein angesichts des Allzuvertrauten breitet sich wie ein Virus in diesem Text aus und übertönt den Zauber vieler Beschreibungen und irisierender Gedanken. Abwehr dieses subjektiven Sogs in Stangls Spiegellabyrinth eines reflexionsfreudigen Irritierten sind regieartige Anweisungen dieser Art: "Der Architekt schaut aus dem Autobusfenster, er sitzt allein in seiner Reihe, einen Fuß hochgelegt, stützt die schmerzende Schläfe in die offene Hand. Hohlräume in seinem Inneren." Wenn gar nichts mehr gegen den Überdruss hilft, rettet sich der Erzähler gerne in Aufzählungen: "Es gibt die Familie, die Siedlung, den Stand (die Beamten, die Bauern, die Schmiede, die Priester), das Büro, die Firma, die Clique."

Die Klammern mögen die Grenzen des Erzählbaren markieren, wirken aber oft genug manieriert. Sie stehen symptomatisch für die allgemeine Bedeutungsanreicherung in anderen theorielastigen oder gedankenschweren Passagen. Bei aller sprachlich beeindruckenden Musikalität und Tempiwechseln fühlt man sich auf Dauer doch etwas sediert. Und so entblößt die hier gestellte Frage, was "echtes Leben" ist und wie es sich anfühlt, am Ende doch kaum mehr als ihre eigene Mechanik.

ANJA HIRSCH

Thomas Stangl: "Fremde Verwandtschaften".

Roman.

Literaturverlag Droschl, Graz 2018. 272 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Gegenwärtig einer der besten, weil feinsten und ernsthaftesten Autoren im deutschsprachigen Raum." (Katja Gasser, ORF Fernsehen)