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Anknüpfend an Michel Foucaults Begriff der Gouvernementalität untersucht die Autorin, wie sich Formen der Menschenführung mit den Konzepten von Staat und Gesellschaft verändern. Denn so, wie sich gegenwärtig das Verhältnis von Staat, Ökonomie und Sozialem entlang gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse neu formiert, werden auch die Adressaten des Regierens neu konfiguriert. Ein Beleg hierfür sind die gesellschaftlichen Problematisierungen von Abweichung und Kriminalität. War der "Delinquent" im 19. Jahrhundert die Kategorie, mit der die Kriminologie sich als Wissenschaft zur Verteidigung des…mehr

Produktbeschreibung
Anknüpfend an Michel Foucaults Begriff der Gouvernementalität untersucht die Autorin, wie sich Formen der Menschenführung mit den Konzepten von Staat und Gesellschaft verändern. Denn so, wie sich gegenwärtig das Verhältnis von Staat, Ökonomie und Sozialem entlang gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse neu formiert, werden auch die Adressaten des Regierens neu konfiguriert. Ein Beleg hierfür sind die gesellschaftlichen Problematisierungen von Abweichung und Kriminalität. War der "Delinquent" im 19. Jahrhundert die Kategorie, mit der die Kriminologie sich als Wissenschaft zur Verteidigung des Sozialen etablieren konnte, so bringt die "Ökonomisierung des Sozialen" diese Kategorie eher zum Verschwinden. Soziale Probleme werden weniger an individuellen Tätern und Pathologien als an Risikomerkmalen und -gruppen festgemacht. Exemplarisch kommt diese Tendenz etwa im flächendeckenden Einsatz von Videoüberwachung in Einkaufszentren oder an öffentlichen Plätzen zum Ausdruck. Im Medium der Kamera wird Devianz zu einer Frage von Sichtbarkeiten und kontextabhängigen Ordnungen. Technische Formen der Kontrolle ermöglichen nicht nur die Identifizierung und Inkriminierung bestimmter Gruppen, die dann zu Adressaten neuer Strategien des Verantwortlichmachens und des Ausschlusses werden. Sie scheiden abweichendes und nicht abweichendes Verhalten entlang einer neuen, flexiblen Funktionslogik. Die Autorin analysiert, inwiefern diese Entwicklungen systematisch das alltägliche Leben der Gegenwart bestimmen und damit auch die Konzepte der Soziologie neu auszuloten wären: Das "Soziale" ist nicht nur als ein Referenzfolie von Politik fragwürdig geworden, sondern auch als das bestimmende Element soziologischer Theorien.
Autorenporträt
Susanne Krasmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Mit der vorliegenden Arbeit habilitierte sie sich 2002 an der Universität Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2004

Foucaults Gouvernante
Susanne Krasmann überwacht und straft das Strafrecht

Die Kriminologie hat es schwer. Sie ist die Wissenschaft, die Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens untersucht und sich mit seiner Bekämpfung befaßt. Mit der Bekämpfung des Verbrechens befaßt sich aber auch eine andere, viel ältere Wissenschaft. Die Strafrechtswissenschaft betrachtet Straftaten schlicht als Unrecht. Was Straftaten sind, bestimmt allerdings der Gesetzgeber im Rahmen der Verfassung, weil es keine Strafe ohne Gesetz geben darf. Neben der Strafrechtswissenschaft hat die Kriminologie daher nur Platz, wenn sie eine andere Perspektive wählt. Die andere Perspektive ist die Kritik. Deshalb fragt die Kriminologie: Dient es wirklich der Gesellschaft, bestimmte Verhaltensweisen zu bestrafen? Oder - ein Ansatz, dem Susanne Krasmann zuneigt - etikettiert die Politik nur unliebsame Typen als Straftäter? Darin steckt eine fabelhaft effektive Lösung des Strafproblems. Man braucht nur das Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen aufheben, und schon gibt es keine Kriminalität, vor allem keine ungerechten Strafurteile mehr. Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen. Selbstverständlich vertritt kein Strafrechtler und kein Kriminologe einen derart abstrusen Gedanken, zumal er damit den professionellen Ast absägte, auf dem er sitzt. Aber der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) kokettiert mit dem Gedanken. Aus der Sicht der Kriminologie ist die Möglichkeit der Etikettierung wichtig, weil sie zu der Frage zwingt: Warum straft der Staat überhaupt und warum nehmen die Leute das hin?

Susanne Krasmanns Antwort ist: Gouvernementalität. Genaugenommen ist das Wort ein Kalauer. Das darf man aber nicht sagen, weil der bedeutende französische Philosoph Michel Foucault es erfunden und möglicherweise ernst gemeint hat. "Gouvernemental" bedeutet regierungsfreundlich, ist aber veraltet. Man sollte auch eher an "Gouvernante" denken. Krasmann will das Wort als "Regierungsdenkweise" verstanden wissen, als Zusammensetzung aus "gouverner" (regieren) und "mentalité" (Denkweise, Geisteshaltung): Die Leute nehmen das Strafrecht also hin, weil sie gouvernementalitär denken, weil die Regierung die Notwendigkeit des Strafens in ihr Gehirn eingegraben hat.

Der Gedanke stammt von Foucault, an den sich Krasmann betont anlehnt. Aber jeder kennt ihn. Nur für die Philosophen war er neu. Es handelt sich um die sanfte, gütige, liebevolle Großmutter, die mit ihrer Liebe die gesamte Familie tyrannisiert. Ähnlich vereinnahmt der liberale Rechtsstaat seine Bürger für sich: "Unsicherheit scheint ,der Preis der Freiheit' zu sein. Tatsächlich ist sie ihre Grundlage und damit zugleich Grundlage der liberalen Regierung, welche die Freiheit absichern und sich so als Beschützer ausweisen kann." Gut, das erinnert an Herbert Marcuses "Repressive Toleranz". Aber dann wird es wirklich großmütterlich. Nach Foucault proklamiert die Politik das Wohlbefinden des Körpers zum Gemeinwohlziel und macht dadurch die Leute existentiell von sich abhängig. Instrument ist die staatlich veranstaltete Statistik, die den einzelnen lehrt, wie schmerzbedroht sein Körper ist und daß er in den Fängen des staatlich veranstalteten Gesundheitssystems landet, wenn er raucht oder zu spitzen Spitzensport treibt. Diese von Foucault selbst so genannte "Bio-Macht" riecht streng nach Blut, gilt aber nicht als faschistoid, sondern beginnt, bei linken Gesellschaftstheoretikern den Platz des Seins einzunehmen, das nach Marx das Bewußtsein bestimmt. Susanne Krasmann interpretiert nach diesem Konzept auch den Sozialstaat. Er hat den Sinn, "die Arbeiterklasse in den Kapitalismus" zu zwingen. Beleg: Sozialversicherung.

Die Einbeziehung der Arbeiter ändert den Charakter des Strafrechtes vom Schutz der Rechtsordnung zum Schutz der Gesellschaft. Die Gesellschaft wehrt sich gegen Straftaten, indem sie den Straftäter als soziales Risiko betrachtet. "Die Perspektive der Prävention fungiert wie ein Wahrnehmungs- und Beurteilungsschema, das die Wahrheit des Kriminellen sichtbar macht." Erkenntnistheoretisch ist die Feststellung des Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemas eine wahre Beschreibung. Die "Wahrheit", die das Schema durchläßt, ist dagegen nicht wahr. Der durch die Perspektive der Prävention wahrgenommene Kriminelle ist nicht wirklich kriminell, was übrigens logisch richtig ist. Die Prävention soll Straftaten ja verhindern. Die Frage, was gilt, wenn der zunächst nur "wahrgenommene" Kriminelle eine Straftat begeht und dadurch ein wirklicher Krimineller wird, diskutiert Krasmann nicht. Vermutlich meint sie, Straffälligkeit sei ein Fall für die Strafrechtswissenschaft, nicht für sie, deren Wahrnehmungs- und Beurteilungsschema die kritische Analyse ist, nicht Schadensverhütung oder Gefahrenabwehr. Dagegen ist nicht viel zu sagen. Kritik hat immer recht, weil nichts ohne Fehler ist. Es stimmt auch, daß Schemata die Beobachtung steuern. Sonst könnten wir nicht entscheiden. Und natürlich soll Strafen Macht stabilisieren. Deshalb lebt unsere Gesellschaft in der Tat im Falschen und ist Kriminalität möglicherweise keine.

Aber sie lebt. Und wo ist die Alternative? Im historischen und internationalen Vergleich lebt es sich derzeit in der euro-amerikanischen Gesellschaft am besten. Nur die Diebstahls- und Tötungsrate könnte etwas niedriger sein. Mit einer Aufhebung der einschlägigen Strafvorschriften ist den Opfern allerdings nicht gedient. Dazu äußert sich die Kriminologin indessen nicht. Aber schon Foucault hatte "Überwachen und Strafen" mit der Bemerkung geschlossen: "Hier breche ich dieses Buch ab."

GERD ROELLECKE

Susanne Krasmann: "Die Kriminalität der Gesellschaft". Zur Gouvernementalität der Gegenwart. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003. 392 S., br., 39,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gerd Roellecke findet, dass diese kritische Studie von Susanne Krasman es sich zu einfach macht. Es geht Susanne Krassmann, wie der Rezensent es zusammenfasst, um die Frage "Warum straft der Staat überhaupt und warum nehmen die Leute das hin?" Krasmanns Antwort, "Gouvernementalität", ist für Roellecke, "genaugenommen", ein "Kalauer", was man aber nicht sagen dürfe, weil der "bedeutende französische Philosoph Michel Foucault" das Wort "erfunden und möglicherweise ernst gemeint hat". Jedenfalls laute Krasmanns Antwort im Anschluss an Foucault also, dass die Leute das Strafrecht hinnehmen, "weil die Regierung die Notwendigkeit des Strafens in ihr Gehirn eingegraben hat", wie der Rezensent Krasmanns These fasst. Natürlich solle "Strafen Macht stabilisieren", und die Idee der Prävention würde in der Tat, wie Krasmann argumentiert, ein Beurteilungsschema hervorbringen, das den damit Wahrgenommenen, den Kriminellen erst produziere, tatsächlich also sei "Kriminalität möglicherweise keine" und "lebt unsere Gesellschaft in der Tat im Falschen", aber "sie lebt", wendet der Rezensent ein, und fragt: "Wo ist die Alternative?"

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