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Das Interesse der europäischen Philosophie am Gesichtssinn hatte zumeist eine objektivistische oder eine subjektivistische Schlagseite. Beiden, dem sehenden Subjekt und dem "objektiv" Sichtbaren, wird dabei einerseits zu viel und andererseits zu wenig zugetraut: Die objektivistische Interpretation kann die Selektivität des Sehvermögens nicht erklären, in der subjektivistischen Konzeption bleibt unklar, wie die Beziehung von Wahrnehmung und Welt zustande kommt. Die vorliegende, mit zahlreichen Abbildungen ausgestattete Studie entwickelt an der Schnittstelle von Philosophie und Kunstwissenschaft…mehr

Produktbeschreibung
Das Interesse der europäischen Philosophie am Gesichtssinn hatte zumeist eine objektivistische oder eine subjektivistische Schlagseite. Beiden, dem sehenden Subjekt und dem "objektiv" Sichtbaren, wird dabei einerseits zu viel und andererseits zu wenig zugetraut: Die objektivistische Interpretation kann die Selektivität des Sehvermögens nicht erklären, in der subjektivistischen Konzeption bleibt unklar, wie die Beziehung von Wahrnehmung und Welt zustande kommt. Die vorliegende, mit zahlreichen Abbildungen ausgestattete Studie entwickelt an der Schnittstelle von Philosophie und Kunstwissenschaft einen neuen Deutungsrahmen, indem sie sich von der Annahme leiten läßt, daß Sehen eine performative Tätigkeit ist, mit deren Hilfe wir uns die Welt epistemisch, ethisch und ästhetisch erschließen.
Autorenporträt
Schürmann, EvaEva Schürmann ist Privatdozentin für Philosophie an der TU Darmstadt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2008

Ich sehe was, was du nicht siehst
Wenn Blicke schweifen: Eva Schürmann verknüpft Sicht und Einsicht

Es ist sehr schön, dass Eva Schürmann von der Universität Darmstadt dem Sehen ein ganzes Buch gewidmet hat. Neu ist das innerhalb der Philosophie, die sich ja auch mit dem Körper insgesamt zu beschäftigen weiß, nicht, man erinnere sich nur an Sartres Interpretation des Blickes oder an Merleau-Pontys Interesse am Auge. Auch macht die gesamte Philosophiegeschichte für die Fokussierung aufs Sehen eine gute Vorgabe, weil Philosophen doch gerne über innere Bilder, Vorstellungen und Anschauungen nachdenken. Was passiert, wenn man sieht? Biologen schauen sich an, was im Auge und im Gehirn vor sich geht. Die Philosophen fragen lieber, was es bedeutet zu sehen. Das Sehen wird damit aus einer Perspektive betrachtet, in der das Sehen wie gesprochen ausschaut. Aus einem Sprechakt wird ein Sehakt. Das Gesehen-wie-gesprochen-Wesen erinnert an Doktor Doolittles Stoß-mich-zieh-mich, ein afrikanisches Tier, mit dem er in England großes Aufsehen erregte.

Am Ende ihrer Studie unterscheidet die Darmstädter Philosophin zwei Künstler danach, ob sie syntaktisch (das nennt sie das Sehen-wie) oder semantisch (das Sehen-als) sehen. Das Sehen als eine Art sprachlicher Praxis zu sehen heißt mithin zum semantischen Philosophentyp zu gehören, nicht zum syntaktischen, der das Sehen als Sehen-wie sehen würde. Sehen wie Praxis geht nun gar nicht. Doch kann man daraus vielleicht eine Einsicht gewinnen? In dem Sehen-wie-Fall würde es wahrscheinlich nicht darum gehen, wie man über das Sehen reden und denken, sondern erst einmal darum, wie man das Sehen sehen kann. Wie man über das Denken nachdenkt, indem man genauer denkt, müsste man das Sehen sehen, indem man genauer hinschaut. Für das eine sind Philosophen zuständig, für das andere die bildenden und darstellenden Künstler. Für das eine die Philosophen, weil sie meistens tatsächlich zeigen können, dass sie besser über das Denken nachdenken. Für das andere meistens die bildenden und darstellenden Künstler, weil sie tatsächlich besser zeigen können, dass sie mehr vom Sehen sehen - so wie Musiker mehr vom Hören hören. Wer das Hören als Praxis versteht, drängelt sich wieder als semantischer Typ vor.

Das Sehen als Sehen zu sehen ist wahrscheinlich so kompliziert wie ein Stoß-mich-zieh-mich zu fangen, das sich deshalb so schwer fangen lässt, weil es ja hinten und vorne einen Kopf und Augen hat und also hinten und vorne sehen kann, ob ein Angreifer sich ihm nähert. Die vom Doktor Doolittle kurierten Affen fingen das Stoß-mich-zieh-mich, indem sie es einkesselten. Das zeigt nun leider erst einmal die Grenzen des Doktor Doolittle an. Denn man kann diese Vorgehensweise nicht mir nichts, dir nichts aus dem Busch auf den Schreibtisch übertragen, in der Hoffung, auf diese äffische Weise das Sehen einzufangen. Vielleicht hilft weiter, dass John Dewey in Hinblick auf Denkwortzwänge gesagt hat, man solle nicht mehr von "mind", vom Geist (Substantiv), sondern nur von denken (Verb) reden. Vielleicht sollte man entsprechend beim Sehen besser nicht mehr von sehen (Verb), sondern von Bildern (Substantiv) sprechen, um eben nicht in die verzwickte und verführerische Lage zu geraten, sehen und sprechen (Sicht und Einsicht) unbedingt miteinander verbinden zu wollen.

Man muss berücksichtigen, dass einer, der nicht vorrangig und exzeptionell sieht oder hört, wie ein Künstler vorrangig und exzeptionell sieht oder hört, aus dem habituellen Zwang des semantischen Sehen-als-Typus nicht einfach schnell herauskommt. Diesen Typus nun vergleicht die Autorin mit einem Wolkenseher, der in etwas Sichtbares etwas hineinzusehen vermag. Das bedeutet, dass er etwas, was da ist, verlängern kann hin zu etwas, was noch nicht dort, aber auch, irgendwo, da ist - zum Beispiel das Sehen zum Sprechen verlängern und in das Sehen den Sprechakt stecken. Das wilde Wolkensehen kann eine sehr wolkige Angelegenheit sein. Man denke nur an den dichtenden Heidegger und an seine von ihm dazu gemachten seherischen Dichter. Manchen Philosophen hat dieses Wolkensehen also zu sehr wolkigen Auslassungen über das dichterische Wort verleitet. Und zwar in der mutwilligen Annahme, dass, wo ein Dichter sein Wort erhebt, mit ebensolcher Verve ein Philosoph, gleichsam aus wortreicher und wortgewandter Nähe, das Wort sich nehmen sollte.

Wenn wir sehen, machen wir Erfahrungen, die anders sind als die Erfahrungen, die wir machen, wenn wir hören. Wir können, vorausgesetzt, wir sind körperlich intakt, nicht nichts sehen, auch wenn man sagen kann: Man sieht nichts. Wir können auch nicht nichts denken, auch wenn man sagen kann: Man denkt nichts. Doch wir können nichts sprechen, wenn wir einfach nicht sprechen: Wir schweigen, was beredt sein kann, aber kein Sprechen im üblichen Sinne ist. Das Sprechen ist insofern kontrollierbar, auch wenn man Unsinn redet, man kann damit beginnen, und man kann damit aufhören. Die bildhaften Ausdrücke von Künstlern sind Erfahrungen, die sie machen, wenn sie sich darauf verlassen, nur zu sehen. Wenn man sich das Resultat anschaut, sieht man, was das Sehen ist: Erfahrungen mit Farben und Formen zu machen. Fangen kann man es nicht, weil es ein Verb ist, das sich sofort in ein Bild verwandelt, wenn man es anrührt, als würde sich eine Gazelle in ein Chamäleon verwandeln, das die Mimikry aus dem Effeff beherrscht.

EBERHARD RATHGEB

Eva Schürmann: "Sehen als Praxis". Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 274 S., br., 11,- [Euro].

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