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Der 20. Juli 1944 zählt zu den Schlüsselereignissen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das missglückte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler und der anschließende Umsturzversuch sind zum Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geworden. Von den Ereignissen völlig überrascht, hatte das NS-Regime in Bezug auf die Gruppe der Verschwörer sofort festgelegt, dass in der Öffentlichkeit nur von einer »ganz kleinen Clique« die Rede sein dürfe - eine Formulierung, die mitunter noch heute das Bild des Widerstandskreises prägt.Die vorliegende Analyse…mehr

Produktbeschreibung
Der 20. Juli 1944 zählt zu den Schlüsselereignissen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das missglückte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler und der anschließende Umsturzversuch sind zum Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geworden. Von den Ereignissen völlig überrascht, hatte das NS-Regime in Bezug auf die Gruppe der Verschwörer sofort festgelegt, dass in der Öffentlichkeit nur von einer »ganz kleinen Clique« die Rede sein dürfe - eine Formulierung, die mitunter noch heute das Bild des Widerstandskreises prägt.Die vorliegende Analyse zeigt erstmals anhand von zahlreichen Netzwerkvisualisierungen, was die NS-Ermittler tatsächlich über das große und komplexe zivile und militärische Netzwerk vom 20. Juli 1944 wussten, das so unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen umfasste wie Offiziere, Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Juristen, Industrielle, Theologen, Gutsbesitzer, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Zeitgenössische Briefe und Tagebücher verdeutlichen schließlich das geschickte Agieren der Verschwörer vor und nach dem Umsturzversuch und offenbaren zudem die Fehlerhaftigkeit der NS-Quellen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.12.2018

Verbindung der Verschwörer
Linda von Keyserlingk-Rehbein hat erstmals eine Gesamtschau über das Netzwerk des deutschen Widerstands vorgelegt.
Vor dem Attentat des 20. Juli 1944 hatte sich ein erstaunlich großer Kreis formiert – ohne feste Organisationsform und vorgegebene Struktur
VON KNUD VON HARBOU
Zukünftig wird man in der Einschätzung des Attentats vom 20. Juli 1944 ohne Bezug auf diese Monografie nicht auskommen. Nach langer Zeit, die gefüllt war mit Detailuntersuchungen, liegt jetzt eine Gesamtübersicht des Netzwerks des deutschen Widerstands vor. Und zwar in einer Form, um die sie die damaligen NS-Ermittlungsbehörden, die vor der schwierigen Aufgabe standen, in kurzer Zeit das „Wer, wie, was“ des Attentats aufzuklären, beneidet hätten. Denn Linda von Keyserlingk-Rehbein stellt detailliert das Wissen der NS-Verfolger über das zivil-militärische Netzwerk vom 20. Juli mittels einer für Historiker noch fremden Methode der kommentierten Netzwerkanalyse dar. In ihr stehen weniger die Akteure als vielmehr die Beziehungen zwischen den Akteuren im Fokus der Untersuchung.
Akribisch wertet sie die von der „Sonderkommission 20. Juli 1944“ des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) zutage geförderten Erkenntnisse aus. Das Wissen der NS-Ermittler über die Verschwörer ist in den sogenannten Kaltenbrunner-Berichten enthalten, die als Edition mit dem Titel „Spiegelbild einer Verschwörung“ erstmals 1961 von Hans-Adolf Jacobsen herausgegeben wurden, 1984 teilweise neuüberarbeitet. Eine historisch-kritische Edition fehlt bis heute. Der Quellenwert der Edition „Spiegelbild“ indes ist beschränkt, man denke nur an Aussagen, die unter Psychoterror oder Folterungen zustande kamen oder was die Ermittler im Einzelnen weggelassen, eigenmächtig interpretiert oder ganz einfach verzerrt dargestellt hatten. Erhalten sind keine Ermittlungsprotokolle, jedoch Verhörprotokolle und Vernehmungsniederschriften, die die Grundlage der manipulativen Verhandlungsführung von Roland Freisler als Vorsitzendem des Volksgerichtshofs abgaben. Sie repräsentierten evident die Intention dieses Sondergerichts als „justizförmige Tötung“ (Johannes Tuchel).
Dem Komplex der Auswertung der Kontakt- und Akteursmerkmale der Verschwörer, die quantitativ der Intensität der Kontakte nachgeht und auf diesem Wege die Relevanz der Akteure definiert, stellt Keyserlingk-Rehbein deren hinterlassene Aufzeichnungen gegenüber. Diese sind natürlich zum Teil bekannt, wie die Moltke- oder Hassell-Tagebücher. Doch noch nie wurden die Nachlässe hinsichtlich des Kontaktnetzes untereinander ausgewertet. So zeigt sie – auch dank einer Visualisierung des Netzwerkes – einmal das Wissen der Verfolger über die erstaunlich komplexe zivil-militärische Organisation der Verschwörer und gleichzeitig Facetten der verborgenen tatsächlichen Struktur des Widerstands. Das mündet in die Kernthese, es habe sich bei dem Widerstand keineswegs nur um eine „ganz kleine Clique“ reaktionärer Offiziere gehandelt, wie Hitler und die NS-Propaganda sich bemühten mit großem Aufwand der Bevölkerung zu suggerieren. Schon bisher vorliegende Zahlen von etwa 7000 namentlich bekannten Widerstandskämpfern eines engeren als auch erweiterten Personenkreises ließen daran zweifeln.
Das Schrifttum über den 20. Juli 1944 ist unüberschaubar geworden, jedoch nur wenige Arbeiten liegen über die Rezeptionsgeschichte des Staatsstreichs vor. Erst Mitte der 1980er-Jahre tauchte überhaupt die Frage nach gruppenbiografischen Ansätzen auf, bis jetzt fehlte eine differenzierte Strukturanalyse der Organisation und Kommunikation innerhalb des Netzwerks vom 20. Juli. Die Autorin definiert Netzwerk als „abgegrenzte Menge von Akteuren und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden Verbindungen“, die wiederum aus vielen kleinen Netzwerken bestehen. In diese methodischen Vorgaben bindet sie das inhaltliche Beziehungsgeflecht der Beteiligten des 20. Juli, also nicht zum wiederholten Mal die Motive und Ziele einer Person oder Personengruppe. Gegenstand sind nur Personen, die aus Sicht der NS-Verfolger an der Vorbereitung oder Durchführung des Putsches beteiligt gewesen sind oder sich für eine spätere Aufgabe zur Verfügung stellten. Bis in feinste Verästelungen werden die Merkmale der Akteure untersucht.
Schon im Kapitel über die Quellenlage wird man mit einer neuen Dimension von Anmerkungen konfrontiert, Fußnoten und 180-seitiger Anhang lesen sich gewissermaßen wie ein Buch im Buch über den Widerstand und geben als Fundgrube unendliche Anstöße für weitere Forschung. Gesondert nimmt Keyserlingk-Rehbein sich unter dem Aspekt der Entschlüsselung der Netzwerkstruktur alle dafür relevanten Komplexe des Staatsstreichs vor, etwa die Urteilspraxis des Volksgerichtshofs, den handelnden Personenkreis, die Unterschiede von zivilem und militärischem Widerstand, die Sicht der Verfolger, nicht aufgedeckte Kontakte, das Entstehen von Kontakten. Nicht nur die Gesamtüberschau einzelner Aspekte schildert sie souverän, unterlegt mit einer Fülle vieler unbekannter biografischer Details. Vielmehr besticht sie mit dem Reiz einer neuen Perspektive über die inneren Zusammenhänge des Widerstands. Diese überdies durch stringente Grafiken zu veranschaulichen, hat man so in der Literatur noch nicht gesehen. Natürlich kann man einwenden, dass über die Struktur des tatsächlichen Netzwerks noch Aufklärungsbedarf herrscht – unabhängig von den NS-Ermittlungen. Die Autorin räumt ein, dass es Aufgabe eines breit aufgestellten Forschungsprojekts sein müsste, „sämtliche vorhandene Quellen aus dienstlichen Zusammenhängen, aus Wiedergutmachungsverfahren, aus persönlichen Nachlässen sowie der Erinnerungs- und Forschungsliteratur“ einzubeziehen und aufzuarbeiten. Den Widerstand des 20. Juli in seiner Bandbreite so aber überhaupt dargestellt zu haben, ist ein großes Verdienst.
Geheimes Netzwerk bedeutet vieles: die Schwierigkeit stabile Quellen zu ermitteln, auch weil die NS-Ermittler weder über das Ausmaß des Widerstandswerks noch über die Umsturzpläne informiert waren. Dem Widerstand war es gelungen alle Umsturz- und Aufbaupläne bis 1944 geheim zu halten. Diese notwendige Geheimhaltung hatte natürlich direkte Auswirkungen auf das Funktionieren des Netzwerkes. Jede Anwerbung neuer Mitwisser bedeutete ein extremes Risiko. So stellte beispielsweise die Redseligkeit von Carl Goerdeler, immerhin einer der Drehscheiben des Widerstands, ein erhebliches Risiko dar. Keyserlingk-Rehbein räumt ein, dass bislang nur unvollständig rekonstruiert werden kann, wie das Netzwerk des 20. Juli tatsächlich gewesen ist, verweist aber im Gegenzug auf ihr netzwerkanalytisches Vorgehen, das immerhin verdeutlicht, was die NS-Verfolger wussten. Um dieses Unwissen und die Überraschung über das Attentat zu kaschieren, sprach Hitler noch in der Nacht zum 21. Juli von „einer ganz kleine(n) Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere“. Tatsächlich reicht eine einzige Visualisierung des Netzwerks, sich den großen und höchst komplexen zivil-militärischen Kreis der Putschisten vor Augen zu führen.
Getragen wurde der Putsch vom organisierten militärischen Widerstand. Ihn zu formieren dauerte, nicht zuletzt weil dessen Führung am Anfang eine unkritische und opportunistische Haltung gegenüber Hitler und der NS-Spitze offenbarte, die den Aufbau des Widerstands vor große Probleme stellte.
Als hinderlich erwiesen sich der Eid auf Hitler sowie vor allem die Einhaltung des Prinzips von Befehl und Gehorsam. Zu Recht verweist die Autorin darauf, dass auch die Konsolidierung der Widerstandskontakte bislang noch nicht systematisch untersucht wurde. Es bildete sich eine heterogene Gruppe ohne feste Organisationsform und vorgegebene Struktur. Weder Geburtsort, noch Zugehörigkeit zum Adel, akademischer Status, Konfession, auch nicht das Alter, waren für die Zusammensetzung ausschlaggebend, sie kamen aus allen Richtungen. Auch die Haltung dem NS-Regime gegenüber differierte stark. Der Kern der Attentäter bestand aus 19 Personen (drei Berufsoffiziere, acht zivil-militärische Akteure, acht zivile Verschwörer).
Neu ist, dass vor allem die vielfältigen Beziehungen zwischen den Putschisten untersucht werden, mit dem Ergebnis, dass entgegen bisheriger Annahmen wesentlich mehr Kontakte erst nach Kriegsbeginn entstanden sind. Vielleicht spielte dem Widerstand auch in die Hände, dass die Gestapo bis zum Sommer 1944 nicht in militärischen Angelegenheiten ermitteln durfte, was die Ahnungslosigkeit des NS-Sicherheitsapparats über die Planungen zum 20. Juli erklären könnte. Eine Grafik illustriert darüber hinaus ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis zwischen zivilem und militärischem Bereich der Beteiligten. Wie umfangreich die Ermittlungen gegen die Verschwörer waren, zeigt, dass sogar die Konflikte unter den Akteuren untersucht wurden. Gab es diese unter den Angehörigen des Militärs kaum, so waren sie im zivilen Bereich stark an die Person Goerdelers gebunden, der von jüngeren Offizieren als zu reaktionär abgelehnt wurde.
Intensiv wird der Drehscheibe des Netzwerks, den Vermittlern, nachgegangen. Der Vergleich von netzwerkanalytischen und in den NS-Quellen ermittelten Werten ergibt ein differenziertes Bild der unterschiedlichen Funktionen der Akteure wie Stauffenberg, Beck und Goerdeler, aber auch weniger bekannter Kontaktvermittler. Nur mühsam konnten die NS-Ermittler ihr Nichtwissen über die Zentren des Widerstands in der Abwehr (Oster, Canaris, Dohnanyi), der Heeresgruppe Mitte (Tresckow, Schlabrendorff), in Paris (Stülpnagel, Hofacker) und über die Auslandskontakte des Kreisauer Kreises kaschieren. Trotz diffuser Kenntnisse der NS-Staatssicherheit über die Involvierung bekannter Generalstäbler in die Umsturzplanungen durfte die Erwähnung ihrer Namen das Klischee von der „ganz kleinen Clique“ nicht in Frage stellen.
Die Autorin zeigt anschaulich,
dass es hier nicht um eine
„ganz kleine Clique“ ging
Intensiv wird der Drehscheibe
des Netzwerks, den Vermittlern,
nachgegangen
Das Netzwerk vom 20. Juli 1944 aus Sicht der NS-Verfolger. Viele dieser Namen sind heute vergessen. Den Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg und die Offiziere im Widerstand unterstützte auch ein großer Kreis von Zivilisten.
Grafik: L. Keyserling-Rehbein/Lukas Verlag, Aus dem besprochenen Buch
Linda von Keyserlingk-Rehbein:
Nur eine „ganz kleine Clique“? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944.
Lukas Verlag, Berlin 2018. 707 Seiten, 34,90 Euro.
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