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Das Haus hatte einen kleinen Garten. Mit diesem unscheinbaren Satz beginnt das Buch, eine Erzählung aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, einer 11jährigen Grundschülerin. Aber die Unscheinbarkeit verliert sich schnell, der Leser ahnt schon nach wenigen Seiten, dass es um etwas Außergewöhnliches geht. Nicht um den Garten und das Haus, in dem das Mädchen allein mit ihrer strengen, von einem Reinlichkeitswahn besessenen Mutter zusammenlebt, nicht um die Nachbarn, von denen die Mutter sich abschottet, nicht um die Einsamkeit des Mädchens in der Schule. Eine Reihe eher merkwürdiger häuslicher…mehr

Produktbeschreibung
Das Haus hatte einen kleinen Garten. Mit diesem unscheinbaren Satz beginnt das Buch, eine Erzählung aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, einer 11jährigen Grundschülerin. Aber die Unscheinbarkeit verliert sich schnell, der Leser ahnt schon nach wenigen Seiten, dass es um etwas Außergewöhnliches geht. Nicht um den Garten und das Haus, in dem das Mädchen allein mit ihrer strengen, von einem Reinlichkeitswahn besessenen Mutter zusammenlebt, nicht um die Nachbarn, von denen die Mutter sich abschottet, nicht um die Einsamkeit des Mädchens in der Schule. Eine Reihe eher merkwürdiger häuslicher und schulischer Ereignisse, vorgetragen aus der unschuldigen Sichtweise des Mädchens, macht bald klar, dass sich in Umizuka, der Stadt am Meer, in der das Mädchen und seine Mutter leben, etwas Ungeheuerliches ereignet hat und dass die Bewohner alles dafür tun, dieses Ungeheuerliche nicht zur Kenntnis zu nehmen. Man ist eine Gemeinschaft, die Schlimmes überstanden hat und deshalb um so mehr Gemeinschaft sein muss. Niemand darf ausscheren, niemand er selbst sein. Das Gemüse, das man zieht und isst, ist gesund, weil es gesund sein muss. Die Fische, die man aus dem Meer holt, sind nicht nur essbar, sondern schmackhaft. Sie müssen es sein. Die Leute sind alle nett. Sie müssen es sein. Man hat eine Hymne, die Umizuka-Hymne. Man singt sie gemeinsam, man hilft sich, wo man kann, und man bespitzelt sich. In der Schule aber sterben die Kinder, Lehrer verschwinden, Männer in Anzügen tauchen auf. Mit jedem Satz, jedem Kapitel wird klarer, dass die Fassade nur eine Fassade ist. Und zugleich: dass Risse in der Fassade nicht geduldet werden. Sie werden erbarmungslos übertüncht.Welches Unglück die Bewohner von Umizuka heimgesucht hat, wird nicht ausgesprochen. Man denkt sofort an die Reaktorkatastrophe von Fukushima. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Das Buch beschreibt in sehr leisem, aber nach und nach immer eindringlicher werdendem Tonfall, was passiert, wenn man, koste es, was es wolle, die Augen und Ohren vor Dingen verschließt, die nicht sein können, weil sie nicht sein dürfen; es beschreibt, wie aus Not Gemeinschaft ensteht und ein falsch verstandenes Gemeinschaftsgefühl, das zu Bespitzelung, Unterdrückung und schließlich Gleichschaltung führt. In Umizuka. In Japan. Überall.
Autorenporträt
Manichi Yoshimura, geb. 1961 in Ehime, aufgewachsen in Osaka. Studium in Kyoto. Gab erst spät sein literarisches Debüt. Akutagawa-Preisträger des Jahres 2003. Kein schönerer Ort (OT: Bor¿do-by¿) erschien in Japan zuerst im Januar 2014. Anlass des Schreibens waren der Tsunami und die Reaktorkatastrophe in Fukushima vom 11.3.2011.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2018

Jeder Nachbar kann ein Spion sein
Willkommen im Hyperparadise: Manichi Yoshimuras allegorischer Post-Fukushima-Roman

Manichi Yoshimura erzählt in seinem in Japan 2014 erschienenen und unter dem Eindruck der Havarie von Fukushima verfassten Werk, das zugleich Warnschrift vor weltweiten totalitären Tendenzen ist, die Geschichte einer Gleichschaltung als Katastrophe nach der Katastrophe. Zunächst als Pennäler-Roman aus der Perspektive der Grundschülerin Kyoko beginnend, steigert sich das Buch in eine fulminante Japan-Satire auf Niedlichkeits-Uniformismus, Hierarchien der Höflichkeit, Sauberkeitswahn, Wiederaufbau-Nationalismus und eine von offiziellen Stellen ausgerufene "neue Sicherheitskultur".

Nach der Evakuierung als Folge einer nicht näher explizierten Katastrophe lebt Kyoko mit ihrer Mutter in Umizuka. Die Bewohner der Kleinstadt am Meer sind füreinander da: in Grauzonen der Fürsorge zwischen Beobachtung und Bespitzelung. "Starkes Band", "Gemeinschaft", "Freiwilligendienst" sind Euphemismen eines Repressionssystems. Jeder Nachbar kann Spion sein. Wer im Supermarkt trotz farbenfroher Aufkleber und Unbedenklichkeitssiegel nur zögerlich zugreift, macht sich verdächtig: Die Mutter wirft das gekaufte Frischobst heimlich weg. Das Buch zeichnet eine posthumane Effizienzgesellschaft als kafkaeskes Kammerspiel: Vom Rektor hofierte "Anzugmänner" tauchen auf, Lehrer wie Fujimura, der den Kurs "Selbstständiges Lernen" anbietet, verschwinden, schließlich mehren sich mysteriöse Todesfälle von Schulkindern. Die alleinerziehende Mutter lebt in steter Angst vor deviantem Verhalten ihres Kinds, das unfähig ist, beim Malen gerade Linien zu ziehen, und das "Umizuka-Lied" nur widerwillig mitträllert. Kyoko, die Refugien in ihrem Tagebuch findet, ist in Zeiten der Massenorchestrierung ein "taubes Instrument", eine "Geige ohne Saiten".

Manichi Yoshimura sinniert über Wahrheit und fremdgelenkte Fehlwahrnehmung, totalitären Rausch und Manipulationsmomente des freien Geistes. Zuletzt verfällt auch die ideologieferne Kyoko dem Wahn. Schließlich wird sie einem "Anzugmann" übergeben und auf eine ferne Insel verbracht: Der Roman entpuppt sich als in der Isolierstation verfasster Bericht an eine Behörde.

Jenseits spätkapitalistischer Sicherheitsmythen entlarvt Yoshimura die Psychologie totalitärer Systeme und deren Rückgriff auf Gewalt als Schwäche und Vertuschungsstrategie. Sie brauchen Kritiker und "kranke" Feinde, um den Alltagswahnsinn als gesund und alternativlos einzustufen.

STEFFEN GNAM.

Manichi Yoshimura: "Kein schönerer Ort". Roman. Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph. Cass Verlag, Löhne 2018. 158 S., geb., 17,- [Euro].

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