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Anfang der Sechzigerjahre lernten sie sich kennen: Hubert Fichte, der junge und ambitionierte Schriftsteller, der seine Homosexualität zum Programm erhob. Und die Architektur-Fotografin Leonore Mau, die das bürgerliche Familienleben satt hatte. Es entstand eine außergewöhnliche Liebesbeziehung und produktive künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die bis zu Fichtes Tod 1986 anhielt. Die rund achtzig erhaltenen Briefe Fichtes an Leonore Mau zeugen von einem schonungslosen Umgang, vom Ringen um Autonomie innerhalb der Beziehung und von dem unbedingten Willen, ihre gemeinsame Kunst durchzusetzen. Sie…mehr

Produktbeschreibung
Anfang der Sechzigerjahre lernten sie sich kennen: Hubert Fichte, der junge und ambitionierte Schriftsteller, der seine Homosexualität zum Programm erhob. Und die Architektur-Fotografin Leonore Mau, die das bürgerliche Familienleben satt hatte. Es entstand eine außergewöhnliche Liebesbeziehung und produktive künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die bis zu Fichtes Tod 1986 anhielt. Die rund achtzig erhaltenen Briefe Fichtes an Leonore Mau zeugen von einem schonungslosen Umgang, vom Ringen um Autonomie innerhalb der Beziehung und von dem unbedingten Willen, ihre gemeinsame Kunst durchzusetzen. Sie überraschen aber auch durch Fürsorge und das tiefe Vertrauen, auf dem diese offene und doch innige Partnerschaft beruhte.

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Hubert Fichte, 1935 in Perleberg geboren, wuchs in Hamburg auf, war Schauspieler, Schafhirte und Landwirtschaftslehrling. Seit 1963 lebte Fichte als freier Schriftsteller in Hamburg. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Romane ¿Das Waisenhaus¿ (1965), ¿Die Palette¿ (1968) und ¿Versuch über die Pubertät¿ (1974), die ethnopoetischen Reiseberichte ¿Xangö (1976) und ¿Petersilie¿ (1980) sowie die mehrbändige ¿Geschichte der Empfindlichkeit¿ (ab 1987). Hubert Fichte starb am 8. März 1986 in Hamburg.
Rezensionen
Zeit also, diesen Schriftsteller wiederzuentdecken, der seiner Zeit so voraus war, denn auch sonst lebte er atemberaubend modern. Matthias Frings Männer 20160801

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Tilman Krause staunt über die eigensinnige Beziehung zwischen dem homosexuellen Schriftsteller Hubert Fichte und der Fotografin Leonore Mau, die er hier in Fichtes Briefen an Mau nachlesen kann. Dass Fichte selbst überrascht über seine Gefühle zu der verheirateten Frau war, zugleich nicht auf die sexuellen Kontakte zu Männern verzichten wollte und auch Mau dazu anregte ("Ich ficke viel und hoffe von Dir das Gleiche"), liest der Rezensent, und wundert sich doch, dass die Beziehung bis zu Fichtes frühem Tod halten sollte. Darüber hinaus erfährt Krause einiges über die gemeinsame künstlerische Arbeit der beiden und erlebt, wie beruhigend und anregend Mau auf Fichte und sein Werk wirkte. Mit großem Interesse hat er auch die Reiseberichte des Autors gelesen. Allerdings hätte der Kritiker dem reichen Anmerkungsapparat des Herausgebers gern etwas über Leonore Maus Gefühle entnommen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2016

Lokstedt war
nicht meine Welt
Es sind Briefe von Hubert Fichte an
die Fotografin Leonore Mau aufgetaucht –
man nehme sie
als Wegweiser zum Werk
VON WILLI WINKLER
Es kann schon sein, dass die Elbphilharmonie nächstes Jahr noch alles rausreißt, aber der Anspruch Hamburgs auf das Weltkulturerbe beschränkt sich bisher doch eher auf die Bratkartoffeln und die Leidensjahre, die Gottlob Ephraim Lessing mit der Hamburgischen Dramaturgie zu erdulden hatte. Dafür gilt viel zu wenig jene Kultursumpfblütenzeit, die sich in Hamburg zu Anfang der Fünfziger um alte Hafenkommunisten, jüdische Remigranten und Langzeit- und Werkstudenten bildete. Der Dichter Werner Riegel gehörte dazu, die spätere Gerichtsreporterin Peggy Parnass, und in der Mitte sausten und brausten die zweieiigen Geisteszwillinge Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl. Sie feierten sich als „Vereinigung der KZ-Anwärter des Vierten Reiches“, nannten ihr Kabarett „Die Pestbeule“ und spielten regelmäßig die Säle leer, in denen sie geduldet wurden.
  Adenauer und Erhard wurden verachtet, mit der DDR, in die Wolf Biermann, der Sohn eines ermordeten Kommunisten, gutgläubig auswanderte, sollte gesprochen werden, Alfred Döblin (früher Expressionist, jetzt katholisch) und Gottfried Benn (früher Nazi, jetzt nur noch Facharzt für Geschlechtskrankheiten) wurden als Hausgötter verehrt, der Schwerfälligkeitsweltmeister und Pazifist Hans Henny Jahnn wurde angebetet.
  Hubert Fichte war ein Schoßkind dieser schönen, längst nicht erforschten Subkultur. Mit, durch und auch in Fichte hätte Hamburg doch Weltniveau, jedenfalls strebte er mit aller Macht danach, als er 1966 im „Star-Club“, durch den bereits eine unscheinbare Liverpooler Band namens The Beatles berühmt geworden war, mit Band auftrat und, angetan mit einer rotseidenen Jacke, aus seinem unveröffentlichten Heimatkundewerk „Die Palette“ las. „Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin“, ließ er sein anderes Ich Jäcki verkünden, „nur als eine gigantische weltweite Verschwulung vorstellen.“
  Aber erst Hamburg, und dann auch noch dieser elende Stadtteil: „Lokstedt war nicht meine Welt. / Ich komme von weither“, nur von wo? Als Sohn eines Juden 1935, im Jahr der „Nürnberger Gesetze“ geboren, „Mischling“ deshalb, und so gefährdet, dass die Mutter ihn eine Zeit lang in ein katholisches Waisenhaus in der Spargelhauptstadt Schrobenhausen steckt. In Hamburg erlebt er den Feuersturm nach der Bombardierung durch die Engländer, schlägt sich so durch, steht als Kleindarsteller auf der Bühne und entdeckt den Dichter und Züchter Jahnn. Der prüft als moderner Haruspex den Urin mit dem Ergebnis, dass Fichte „fifty-fifty“ sei, nämlich bisexuell, wobei Jahnn sich offenbar seinen Teil am Vierzehnjährigen holt; heute gälte das als schwerer Missbrauch.
  Fichte trampt nach Frankreich, verzeichnet in Jahnns Auftrag romanische Kirchen, bleibt da, wird fast katholisch, dann Schäfer und Teil einer menage mindestens à trois. Noch in den Sechzigern, als ihn die Hamburger teurere Gesellschaft teilzeitadoptierte, machte er mit seinem Geschick beim Schafescheren Eindruck, mehr noch mit Bekenntnissen wie diesem: „Ich glaube, dass Strichjungen, Straßenmädchen und Vaudoupriester sehr wichtige und aufopfernde Tätigkeiten ausüben, künstlerische Tätigkeiten, wenn man sie recht betrachtete, hygienische, psychoanalytische, poetische, ich meine, sie gehören zu den letzten großen Wohltätern auf der Erde.“
  Anfang der Sechzigerjahre lernt Fichte die Fotografin Leonore Mau kennen. Sie ist 19 Jahre älter, Mutter zweier Kinder und dabei, aus ihrer Ehe zu fliehen, während er nicht mehr bereit ist, „irgendeine leidenschaftliche Bindung einzugehen“. Es wird eine besonders leidenschaftslose, die einzige neben der zu seiner Mutter. „Du bist mir in Deiner Amoralität sehr verwandt“, lobt er die Lebensfreundin in einem seiner ersten Briefe. Bald schon droht dem jungen Glück eine ungewollte Schwangerschaft, die aber den werdenden Künstler nur von der Kunst ferngehalten hätte. „Die natürliche Spannungslosigkeit, die mir das normale Liebesleben geben würde, wäre wahrscheinlich vernichtend für meine künstlerische Tätigkeit“, doziert er geschwollen. Zum Glück vergeht diese Gefahr, sie können zusammenbleiben. Das „ehebrecherische Zusammenleben“ wird sogar amtsgerichtlich gerügt, doch ohne viel Amoralität werden sie gemeinsam und getrennt berühmt: sie als Fotografin, er als Schriftsteller, den es immer weiter fort von Hamburg treibt.
  Die Lichtbildnerin, wie er sie nennt und sie nicht genannt werden will, fotografiert für Schöner Wohnen und Merian, Fichte lernt Sprachen, darunter so viel Altgriechisch, dass seinen Grabstein ein Spruch von Empedokles zieren kann, und erforscht arabische, brasilianische und alle Arten kreolischer Grausamkeitsriten und ungezählte Männerhintern. Im Nachlass der 2013 verstorbenen Leonore Mau fanden sich achtzig Briefe und Karten, die ihr Fichte in 25 Jahren aus aller Welt geschrieben hat. So erfährt man von exotischsten Reisen, zumeist von deutschen Rundfunkhäusern und zum Besten der Literatur bezahlten Fahrten, ein letzter Gruß der Peter-Stuyvesant-Generation. „Tunesien ist sehr schön“, wird der Korrespondentin mitgeteilt, die dankbar auch die weiteren Informationen entgegengenommen haben dürfte, die ihr Fichte aus Afrika zudenkt: „Tagsüber sehr heiß. / Nachts sehr kalt.“
  Dem Herausgeber Peter Braun fällt dazu der interessante Euphemismus von der „ungaren Mittelform“ ein. Diese Briefe, einmal muss es doch heraus, sind nämlich von sensationeller Belanglosigkeit. Es sind Mitteilungen, wie sie sich Vertraute schreiben, sogar bürgerliche Eheleute, also nichts anderes als bessere Post-it-Zettel, und bestimmt keine Herzensergießungen. Braun versucht die „ungeliebten Briefe“ (er meint damit, dass Fichte ungern Briefe schrieb) mit dem verräterischen Hinweis zu retten, sie seien „einfalls- und abwechslungsreich ( . . . ) im Hinblick auf die abschließenden Grußworte und die Unterschrift“. Gut, Fichte zeichnet da gern einen Pimmel hin, aber sonst wird der Voyeur genauso enttäuscht wie der gewöhnliche Fichteaner. Ohne eine gigantische Fußnote, die nicht nur Fichtes drei frühe Romane einschlösse, sondern auch die Geröllhalde der – je nach Zählung – 12- oder 17-bändigen „Geschichte der Empfindlichkeit“ sind so geist- und witzlos, wie sie ihr Autor fand. Weder der deutschen Literatur noch dem dito Verlagswesen fehlte etwas, wenn die achtzig Zettel in Marbach oder im Keller der Hamburger Universitätsbibliothek verblieben wären.
  Dabei hätte es Fichte doch verdient, dass seine Bücher wieder gelesen würden, sein Hamburger Frühwerk vor allem. Schon jetzt droht ihm ein Überleben allenfalls als Wundertier und Paradiesvogel in den Tagebüchern von Fritz J. Raddatz. 1986 widmete Raddatz dem bewunderten und nicht wenig beneideten Dichter einen liebevollen Nachruf, nur um dann zu erfahren, wie Fichte ihn in seinen eigenen, postum veröffentlichten Tagebüchern ausgiebig mit „Giftmüll“ bedachte. Raddatz nun wieder, nicht faul, empörte sich nicht bloß darüber, sondern trat nach ins Grab und amüsierte sich über die Tatsache, dass dem todkranken Fichte ein künstlicher Darmausgang gelegt werden musste, ausgerechnet ihm, „der sich so gerne von Türken ficken ließ“. Sag ich doch, Weltkulturerbe Hamburg.
  Der Herausgeber kommentiert mit manchmal recht ungelenken Sätzen („Neugierig geworden, schloss sich eine erste Reise nach Brasilien in den ersten Monaten des Jahres 1969 an“) diesen bescheidenen Brief-Nachlass, spricht großartig, weil’s sonst gar keiner kaufte, von „raren Dokumenten“, hofft auf „Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft“ beim gotthabihnselig „Akt des Lesens“ und ergänzt wenig hilfreich, was niemandem fehlt. So wird der Kunde netterweise darüber aufgeklärt, dass der Airbus A 300„das erste Großraum-Verkehrsflugzeug für Kurz- und Mittelstrecken des Herstellers Airbus S.A.S.“ war oder, gleich zwei Mal, dass „Casa“ die Kurzform für die Stadt Casablanca sei.
  Braun bezeichnet sich als „Medienwissenschaftler“ und weiß von der „Kritik vieler Intellektueller an den Zeitschriften des Springer Verlages, allen voran an der Bild und der Welt mit ihrer rechtslastigen Kommentarseite“ zu fabeln. Dafür erscheint von der Zeitschrift Geo, für die Leonore Mau auch arbeitet, 1976 nicht etwa das erste Heft, sondern es gibt eine „Erstausgabe“. Nebenbei gesagt, weiß doch jedes Kind, dass Oswald Wieners berühmtes Buch nicht „Die Verbesserung von Mitteleuropa“, sondern „Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman“ heißt. Aber was ist schließlich Mitteleuropa, wenn es in Tunesien manchmal heiß ist und dann wieder kalt?
Hubert Fichte: Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonore Mau. Herausgegeben von Peter Braun. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 Seiten, 26 Euro. E-Book 22,99 Euro.
In den postumen Tagebüchern
Fichtes fand Raddatz „Giftmüll“
über sich – und schlug zurück
Ein Selbstporträt im Spiegel, aufgenommen von Leonore Mau in Hamburg im Jahr 1962. In ihrem Nachlass fanden sich die Briefe Hubert Fichtes. Auch das Bild von Fichte (links) wurde aufgenommen von Leonore Mau, Herbst 1961 in Hamburg.
Fotos: S. Fischer Stiftung
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2016

Jemanden brauchen, wie macht man das?
Die Briefe des Schriftstellers Hubert Fichte an die Fotografin Eleonore Mau sind ein Doppelporträt der Suche nach einem Schutzraum für Kunst

Schreiben, heißt es oft, sei eine Form der Rede, die sich stets an Abwesende richte. Das klingt bis in unsere Zeit wahr, scheinbar beglaubigt selbst vom Umgang per E-Mail und SMS. Manchmal aber schreibt ein Liebender einen Zettel für die nicht ansprechbare Geliebte und steckt ihn ihr zu, bevor er sich nebenan bettet, dann steht darauf zum Beispiel: "Guten Morgen, wenn Du aufwachst, komm und leg Dich zu mir, bitte! Hubert".

Mit dieser Botschaft, abgedruckt auf Seite 101 der Sammlung "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart. Briefe an Leonora Mau", in der Mitteilungen des Schriftstellers Hubert Fichte an die fast zwanzig Jahre ältere Fotografin Leonore Mau aufgehoben sind, gibt das Buch zu erkennen, dass man es nicht als Briefroman lesen darf, der mit Anwesenheit und Abwesenheit spielt. Denn für solche Spiele hatten die beiden, um die es hier geht, keine Zeit. Nah oder fern, immer waren sie direkt miteinander, ob er sie um Geld bat oder sie sich im einzigen ihrer Schreiben, das wenigstens als Entwurf erhalten blieb, gegen seine "schwesterlichen Stirnküsse" verwahrte wie gegen jede Form von betulicher Indirektheit, denn "Du solltest Dir klarmachen, dass ich durch Ehe-Erfahrungen allergisch geworden bin gegen Freiheitsbeschränkungen jeder Art".

Jahre später bekennt er, wie wichtig sie mit solchen deutlichen Zeichen für ihn geworden ist: "Soll ich schreiben, dass ich Dich brauche? Es ist so, aber ich schreibe es nicht gern. Es ist nichts Gutes, wenn man jemanden nur braucht."

So unersetzlich war sie, die in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, ihm nicht etwa als Schmusedecke, sondern als Stabilisatorin seines selbstgewählten Weges: Autor, offen Homosexueller, überhaupt öffentliche Person, das waren keine leichten Rollen - wenn er ihr kurz nach der Publikation seines Romans "Die Palette" 1968 aus Marokko schreibt, sie solle ihm Rezensionen schicken, d Angepasste Mehrheitsmenschen waren zu der Zeit und an dem Ort, da Fichte sich sein Leben bauen musste, durchaus punktuell willens, sich zumindest "in Sachen sexuellen Affronts" (Piwitt) aufgeschlossen zu geben, solange es ihnen nicht an die Trägheitsprivilegien ging und sie einen wie Fichte bestaunen konnten, ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen.

Erotisch-literarische Energie, mit der er sich auf den Märkten dieser Aufgeschlossenen eine Künstlernische erobern konnte, hatte Fichte dabei genug; sie speist auch die Texte an Leonore Mau - bis in den Titel des Buches, der das letzte Wort im Originalbrief allerdings unterschlägt, wo es mit verschmitztem Zeilenumbruch heißt: "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart / wohin." Manches, das auf Briefpapier riskant geknistert haben dürfte, etwa diverse Sauereien auf Französisch, ist uns Heutigen ferngerückt, es wirkt mitunter, wie wenn der Romanistikstudent davon erzählt, Napoleon habe seiner Liebsten in Briefen mit versprochenen Küssen unterhalb des Nabels imponiert. Anderes, das der Band birgt, ist dagegen von geradezu philosophischer Würde - zum Beispiel die schwere Arbeit, die Fichte sich damit macht, die bei einem Autor wie ihm immer naheliegende Versuchung abzuwehren, mehr in Erfahrung zu bringen, als ein Text wissen darf, um noch wahr zu sein. Man darf Fichte da bei der Erfüllung einer Beschützerpflicht bewundern, unter deren strengem Gebot er Leonore Maus Fotos und seine eigenen Schriften davor bewahren will, möglichen Selbsterkenntnissen der Vertrauten oder dem wechselseitigen Einanderdurchschauen zum Opfer zu fallen: "Ich glaube, Du hast Recht", stimmt er ihr einmal in einem strittigen Punkt zu, nur um aber sogleich zu warnen: "Handeln kann man nur aus Täuschungen heraus."

Mit "Handeln" meint der Künstler natürlich vor allem "Kunst machen"; die vom Satz über die Täuschung bejahte Abwehr des Zuvielverstehens ist bei jenen Empfindsamen und Nervösen, die in der Neuzeit die meiste Kunst verantworten, bekanntlich eine ehrwürdige. Rilke hatte Scheu vor der Psychoanalyse, weil sie ihm seinen produktiven Selbstbetrug hätte zersetzen können, und Fichtes ambivalenter Mentor Hans Henny Jahnn war der Ansicht, Trübungen des Denkvermögens durch rauschartige hormonelle Selbstkorrekturen des Hirnstoffwechsels wären geradezu Voraussetzungen fürs Dichten.

Bei Fichte und Mau indes ging es nicht um Spekulatives, sondern darum, in der Wohlstandslibertinage der westdeutschen Bohème ihrer Zeit, wo auch mal mehrere Beziehungen zur selben Zeit ausprobiert und erotische Identitäten erschüttert wurden, die Frage praktisch zu beantworten: Was dürfen wir von uns selbst wissen, ohne unseren ästhetischen Eigensinn zu Tode zu ernüchtern?

Wo ein Leben zu aufrichtig wird, braucht und zeugt es keine Kunst mehr, wo es umgekehrt allzu stur geradeaus auf Kunstzwecke zumarschiert, wird die Kunst verlogen. Fichtes riskante Lösung des Dilemmas war ein Modell der mehrstufigen Selbstentdeckung - das Suchen darf man ruhig auch in gutbezahlten Foren wie dem Magazin "Stern" vor aller Welt entfalten, die auf diesem Weg vielleicht gefundenen Positionen gehören dann eher ins intime Schreiben - "Ich lebe sehr abstrakt", erklärt er der Seelenpartnerin einmal brieflich - und alles, was zwischen Suchen und Behaupten hin- und herstrebt, ist als dritte Form der Wahrheit weder exklusiv für Nahestehende noch für die Laufkundschaft bestimmt, sondern wird den Büchern übergeben, wo es ein unbestimmbares Kollektiv erreichen soll, das "mein eigenes Publikum" heißen könnte.

Liebste, Fremde oder treue Leserschaft - an welche der drei Instanzen Fichte sich auch gewandt hat, nie vergaß er, dass sein Bewusstsein, ob neugierig oder leidend, eben kein Ding war, über das er frei verfügte, sondern ein Verhältnis zu anderen. Selbst Verrückte sind ja nur verrückt am Maß der Welt, ein Zustand, über den man also bei Strafe schwerer, für Literatur tödlicher Wahrhaftigkeitsverluste besser nicht in angemaßter Eigenerlebnisbürgschaft monologisieren sollte, weil man diesen Zustand eben nur als Dialog zum Sprechen bringen kann, wie Fichte das an der doppelten Grenze eines anderen Kontinents und der sogenannten mentalen Normalität mit Eleonore Maus Hilfe im Werk "Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika" getan hat.

Kein Schreiben erreicht diejenigen ganz, zu denen es will. Die Brücke, die Schreibende bauen wollen, muss immer zu kurz geraten. In Fichtes Briefen wie seinen Büchern aber gibt es Momente, in denen der Text ganz von sich absieht, aus Zuneigung zu den bekannten oder fremden Augen, die ihn lesen könnten. Mehr haben Schreibende nie erreicht; so unheimlich ist ihr Glück.

DIETMAR DATH

Hubert Fichte: "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart". Briefe an Leonore Mau.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 S., geb., 26,- [Euro].

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