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Reinheit ist unverzichtbar - als Wunsch, als Ideal, als Forderung. Und sie ist imaginär: In der sozialen Wirklichkeit und in der Biologie ist sie Fiktion. Trotzdem ist Reinheit eine machtvolle religiöse und moralische Kategorie, im Mittelalter ebenso wie in der Gegenwart. Mit welchen Slogans, Bildern und Erzählungen wird sie wirksam gemacht - und als Verkaufsargument eingesetzt? Von den Predigten der Bettelorden vor 600 Jahren bis zu den Werbekampagnen von heute gibt es kaum ein Feld, das ohne Berufungen auf Reinheit auskommt. Vom reinen Gewissen bis zum naturreinen Bio-Saft dient der Begriff…mehr

Produktbeschreibung
Reinheit ist unverzichtbar - als Wunsch, als Ideal, als Forderung. Und sie ist imaginär: In der sozialen Wirklichkeit und in der Biologie ist sie Fiktion. Trotzdem ist Reinheit eine machtvolle religiöse und moralische Kategorie, im Mittelalter ebenso wie in der Gegenwart. Mit welchen Slogans, Bildern und Erzählungen wird sie wirksam gemacht - und als Verkaufsargument eingesetzt? Von den Predigten der Bettelorden vor 600 Jahren bis zu den Werbekampagnen von heute gibt es kaum ein Feld, das ohne Berufungen auf Reinheit auskommt. Vom reinen Gewissen bis zum naturreinen Bio-Saft dient der Begriff dazu, Ursprünglichkeit und Auserwähltheit, moralische Überlegenheit und vermeintliche Unvermischtheit zu behaupten. Wie funktioniert das? Woher kommen die Bezugnahmen auf die Reinheit, und was soll mit ihnen zum Verschwinden gebracht werden? Der Historiker Valentin Groebner begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Schlagworte. Willkommen in der Welt der Saubermänner: eine schmutzige Ideengeschichte.
Autorenporträt
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2019

Der Jungfrau weiße Gabe an die Warenwelt
Valentin Groebner schreibt eine kleine schmutzige Ideengeschichte der Reinheit

Ohne Reinheit geht es nicht, so scheint es. Wir lieben es "porentief rein", reden von "Reinhaltung", fordern "Reinheitsgebote", haben ein "reines Gewissen" und sind "reinen Herzens". Der "reine Ton" ist uns ebenso vertraut wie die "reine Quelle", die "reine Forschung", "die reine Lehre", das "reine Wort". Und das ist so, obwohl wir wissen, dass die soziale (und wissenschaftliche) Wirklichkeit eine andere ist. Der Luzerner Mittelalter- und Kulturhistoriker Valentin Groebner geht in seiner "kleinen Begriffsgeschichte" der Frage nach, wie es dazu kommt. Es sei auch eine "schmutzige Ideengeschichte", denn wer von Reinheit spricht, handelt immer auch von ihrem Gegenteil, von Befleckung, Kontamination, Hybridität.

Das erste Kapitel des Essays ist jenen "reinen Ursprüngen" gewidmet, die als Erzählungen omnipräsent sind. Wir mögen die Rede von der Reinheit als etwas Ursprünglichem für verfehlt, wenn nicht für gefährlich halten, nicht zuletzt politisch. Ihre Anziehungskraft aber ist ungebrochen. Vor den vielfältigen Beschwörungen ursprünglicher Reinheit, so Groebner, nehmen sich unsere Hybriditäts- und Rationalisierungsdiskurse erschreckend hilflos aus.

Groebner unterscheidet Erzählungen von Reinheit, die auf eine verlorene, aber nicht hoffnungslos verlorene unbefleckte Vergangenheit zielen, von Erzählungen, die Reinheit als "Reinigung" verstehen, als Ergebnis wiederholter Anstrengungen und konkreter Handlungen. Reinigung gerät auf diese Weise zu ritueller Arbeit, die ausschließlich der Rückkehr zu geträumten Anfängen gewidmet ist, zu Ur-Vergangenheiten, die verunreinigt und damit zerstört worden seien - und die es wiederzugewinnen gelte.

Gleichzeitig aber, so Groebner im zweiten Kapitel, ist Reinheit immer auch ein individueller Wunsch, der den eigenen "reinen Körper" als ursprünglichen, unvermischten Selbstzustand im Blick hat: vom Zähneputzen bis zur Ayurveda-Kur. Ein Wunsch, der allerdings nur in je einschlägigen "Zugehörigkeitsgemeinschaften" erfüllbar zu sein scheint, die ihrerseits mehr oder weniger kollektiven kulturellen Codes von Reinheit folgen, auch wenn diese Codes nicht immer unmittelbar erkennbar sind. Zugehörigkeitsgemeinschaften wiederum ziehen Grenzen an den Rändern "ihrer" Reinheit. Genau dort aber, wo die eigene Reinheit endet und die andere, die "fremde" beginnt, entstehen "Gefühls-, Befürchtungs- und Erregungsgemeinschaften", wie Groebner sie nennt, die "ihre" Reinheit bedroht sehen und deshalb umso aggressiver beschwören.

Die Frage, wie Reinheit beschworen werden kann, behandelt Groebner am Beispiel der Jungfrau Maria, der Verkörperung weiblicher Reinheit schlechthin im christlichen Europa. Er zeigt etwa, wie die Milch der Muttergottes als visueller Code für Reinheit fast nahtlos in die Warenwelt der Moderne übersetzt wurde, wanderte das Weiße der jungfräulichen Milch doch im Zeitalter der Industrialisierung "von der Brust auf die Haut". Reinheit war endgültig weiß - und schön - geworden.

Das aber heißt auch: Obwohl viele nicht mehr an die geweihte Hostie als den reinen Leib Christi und an die unbefleckte Empfängnis Marias glauben oder nicht einmal wissen, worum es sich dabei handelt, scheinen die Embleme, Formen, Farben und ikonographischen Anordnungen, mit denen diese und andere Erzählungen von Reinheit seit dem Mittelalter in Szene gesetzt wurden, wenig an Überzeugungskraft und Deutungsmacht verloren zu haben. Die tradierten Bilder imaginärer reiner Körper, so Groebner im dritten und abschließenden Kapitel, seien immer noch allgegenwärtig und fänden ihr Publikum: ob als Werbung für Mund- und Mineralwasser, Milch und Milchprodukte, Kosmetika, Putzmittel und Badeessenzen oder für ganze Landschaften wie die Alpen. Wobei Reinheit als Idee von Ursprünglichkeit allem Anschein nach am besten zu vermarkten ist, wenn die (oft genug schmutzigen) Herstellungsbedingungen der jeweiligen Ware unsichtbar gemacht werden. Reinheit ist im Grunde nur Reinheit ohne "Vorgeschichte" und ohne Erinnerung an ihre eigene Produktion.

Groebners Antwort auf die Frage, warum die tradierten Bilder immer noch wirken, lautet: Reinheit sells! Wer von Reinheit spricht, will etwas verkaufen, wie schon die Bettelmönche des späten Mittelalters mit ihren Askeseofferten. Der Reinheitsmarkt boomt und macht sogar den Antikonsum zum Konsumangebot. Aber reicht diese Antwort? Aus einer Perspektive, die unsere visuelle Alltagskultur im Blick hat, wohl. Aus einer Perspektive aber, die Vorstellungen von Reinheit vor allem dort am Werk sieht, wo es um kollektive Zugehörigkeiten geht, wohl nicht. Aber das weiß letztlich auch der Autor.

PETER BURSCHEL

Valentin Groebner: "Wer redet von der Reinheit?". Eine kleine Begriffsgeschichte.

Passagen Verlag, Wien 2019. 106 S., br., 11,90 [Euro].

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