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Fünf Jahre nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» entwirft Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte und sich doch als überraschende Fortschreibung erweist. Ein Buch über die Zukunft, in der wir schon heute leben. Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: "true barefoot running" heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom…mehr

Produktbeschreibung
Fünf Jahre nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» entwirft Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte und sich doch als überraschende Fortschreibung erweist. Ein Buch über die Zukunft, in der wir schon heute leben.
Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: "true barefoot running" heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom unaufhörlicher Information: In Australien wird die Klimabombe gezündet, seine Freundin in Minneapolis verhandelt mit ihm über Leihmutterkosten, und @dpa meldet den Tod des einschlägigen Eigenbrötlers und Fortschrittsfeinds Alexander Umnitzer - seines Großvaters.
Nio ist fortschrittlich. Schon neununddreißig, kämpft er darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Geschäftstermin verschwindet er vom Radar der Überwachungsbehörden.
Voller überraschender Einfälle und Echos, mit sarkastischem Humor und auf distanzierte Weise mitfühlend, erzählt «Follower» die Geschichte der nächsten Generation und zugleich, in einer aberwitzigen Ausholbewegung, die Vorgeschichte - von allem.

Empfehlung der bücher.de Redaktion

Follower, Eugen Ruge


Fünf Jahre nach seinem international gefeierten Buch „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ schreibt Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte. Follower heißt der neue Roman, der eine Fortschreibung der Geschichte aus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist.

Follower – der neue Roman des Buchpreisträgers Eugen Ruge


Follower spielt in China im Jahr 2055. Der 39-jährige Nio Schulz lebt in einer Welt des unaufhörlichen Informationsflusses, dem sich kaum einer entziehen kann. In rasantem Tempo wird die Existenz mehrerer Generationen nachverfolgt und so treffen wir die Protagonisten aus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ Kurt, Alexander, Markus und zu dessen Sohn Nio wieder.

Eugen Ruge, Mitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller, kam am 24.6.1954 in Soswa am Ural als Sohn des Historikers Wolfgang Ruge zur Welt. Ruge studierte Mathematik und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Bereits 1986 nimmt er zusätzlich seine schriftstellerische Tätigkeit auf. In den folgenden Jahren verfasste er schwerpunktmäßig Texte für Theater, Funk und Film, zusätzlich übersetzte er aus dem Russischen, unter anderem Tschechow-Texte und wirkt in einer Lehrtätigkeit in Berlin und Weimar, bevor er 1988 aus der DDR in den Westen geht. 2009 erhält Ruge für sein erstes Prosamanuskript "In Zeiten des abnehmenden Lichts" den renommierten Alfred-Döblin-Preis. 2011 wurde derselbe Roman mit dem Aspekte-Literaturpreis und der größten deutschen Auszeichnung, dem Deutschen Buchpreis, geehrt. In der Begründung der Jury des Deutschen Buchpreises heißt es: „Eugen Ruge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen. Zugleich zeichnet sich sein Roman durch große Unterhaltsamkeit und einen starken Sinn für Komik aus.
Autorenporträt
Ruge, Eugen Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» wurde er unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Seitdem erschienen die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung», die Romane «Cabo de Gata», «Follower» und zuletzt «Metropol».
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2016

In diesem Identitätsroulette gibt es nur noch Verlierer

So viel unnütz tolle Wut! Eugen Ruges Dystopie "Follower" erhebt die geballte Faust gegen die vernetzte Welt und erzählt vom Kampf der Geschlechter als Vernichtungskrieg.

Science-Fiction-Autoren und Dystopisten haben es heute bequem. Es reicht, die Gegenwart mit wenigen Schritten hochzurechnen, um dort zu sein, wo Techno-Intellektuelle und KI-Ingenieure längst sind: in einer posthumanen Welt, deren humanem Bestand über den gewachsenen Möglichkeitssinn schrittweise das Wirklichkeitsgefühl abhandenkommt. Der Mathematiker, Geophysiker und Schriftsteller Eugen Ruge, dessen Romandebüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" im Jahr 2011 auf Anhieb den Deutschen Buchpreis gewann, kann auf diesem Feld zudem seine naturwissenschaftliche Bildung ausspielen. Ob Ruge auch den Ton der ihm ungeliebten technischen Zivilisation treffen würde, war nach seinen bisherigen Büchern, einem historischen Familienepos und einer metaliterarischen Reflexion über das Schreiben, aber ungewiss.

Nio Schulz, der Held von Ruges Zukunftsroman "Follower", trägt die technisch überformte Welt hautnah am und im eigenen Körper: als Silikon-Implantat, mentales Exoskelett und Dauer-Innervation im Hashtag-Strom: "@Luzia teilt mit, dass ihr Kokos-Bounty-Geburtstagskuchen angebrannt sei", liest Schulz auf seinem Newsfeed. Wer ist das globale Wir, auf dessen Neugier die unbekannte Luzia spekuliert? Es sind in jedem Fall nicht mehr Mann und Frau. Die Emanzipation hat sich bei Ruge im Identitätsroulette verloren und eskaliert im Geschlechtervernichtungskampf. Die neutralisierten Körper sind strategische Verfügungsmasse und werden meist zum Nachteil der Männerwelt eingesetzt, die es als Zielscheibe radikalfeministischer Hetze noch gibt. "Post von @femfatal: Geh sterben fetter weißer Hetero." Reproduktion ist im Kern eine Finanzfrage. Nio Schulz quält der Zweifel, ob seine Partnerin die Qualität seines Spermas akzeptieren wird und ob sie oder er das Kind austragen muss. Oder doch die nepalesische Leihmutter? Die Political Correctness ist ein universeller Gedankenscanner, der jeden Gedanken des Protagonisten mit einer Checkliste internalisierter Tabus abgleicht. Das eigentlich Gemeinte sprudelt aus dem Unbewussten, wird aber nur noch in verzerrter Lautgestalt explizit. "Sei doch nicht so negertief", sagt die Vorgesetzte zu Schulz.

Leicht gesagt in der von Ruge grell und genüsslich inszenierten Warenwelt, die Sinn und Sinnlichkeit aufgesogen hat und in Produktform als Identitäts-Applikation anbietet: Kurzburka mit Pilotenstiefeln. Dummies mit combat traces. Pantys mit gender confession brand. Die globale Produktpalette zielt auf den Verkauf kollektiver Identitäten. An jeder Ecke stellt sich Schulz das Gebot: "Checking identity." Frauen, die es nicht mit der Militanz halten, laufen als pinkfarbene Mickymäuse durch diesen Markenkosmos oder, zeitlich versetzt, als beides: erst Escort-Girl, dann militant fem. Islamic gilt als chic. Wie der Islam die weibliche Erotik in Schleier hüllt, schweißt sie der Westen ins Markenprodukt, dem man sich ebenso bedingungslos unterwirft: "Follower" eben, jeder auf seine Art.

Die next economy hat auch die Zeit kolonisiert. China ist nach Unternehmensanteilen in vier Zeitzonen aufgeteilt. Russland wird gerade an der Börse verscherbelt. Nio Schulz arbeitet bei E.on/Deutschland in befristeter Anstellung. Was seine Leistungsbereitschaft fördert und ihn zu penibler Selbstbefragung anhält, die mit immer neuen Erfolgen besänftigt werden muss.

In dieser Welt wacht Nio Schulz eines morgens in einem seltsamen Identitätsschwindel auf. Die globale Markenwelt bietet ihm keine Anhaltspunkte. Sein Aufenthaltsort nennt sich Wú Chéng, liegt irgendwo in China und heißt zu Deutsch: keine Stadt. Auch sein Geruchssinn bringt Schulz auf der Suche nach dem verlorenen Weltgefühl nicht weiter. Es riecht verkaufsfördernd nach gemähtem Gras.

Echt scheint nur die fette weiße Fliege, die unablässig gegen den Bildschirm im Hotelzimmer prallt. Es ist die millionenfach geklonte Zeitfliege der Universe-Uhr, die das globale Niemandsland synchronisiert. Im Alltag wird Schulz durch sein Kommunikationsverhalten stabilisiert, amtlich erfasst nach aktiven und passiven Kontakten, Clusterzahl, Agglomeration, und gebündelt zu einem Psychotyp. Schulz ist Fischmaul: viele passive, wenige aktive Kontakte. Verdächtig. Beruflich bewirbt Schulz Lauf-Fußbänder, die er dem chinesischen Markt so schmackhaft machen will wie seinen letzten Verkaufshit: das essbare Zimmermädchenkostüm.

Schulz ist gut im Geschäft, wird seit einem gescheiterten Projekt aber von Selbstzweifeln gequält. Seine Chefin sieht ihn aufmerksamer an und hat neuerdings ein Verhältnis mit Schulz' Kollegen Jeff, einem schleimigen Crossgender-Strategen, der ab und zu die Damentoilette benutzt, weil ihm "mösig zumute ist". Schulz, der solche Kalamitäten mit Antidepressiva und Männlichkeitspillen besteht, peinigt die Gier nach unverstellter Erfahrung. "Am Frühstückstisch wird er von einer Welle des Hasses durchströmt, von dem heißen Wunsch, der pinkfarbenen Mickymaus etwas Schlimmes anzutun, guten Appetit."

Von seinem Newsfeed wird Schulz parallel über die weltpolitische Lage informiert, skizzenhaft dargestellt am UNKlimaprogramm, das in Australien H-Bomben gegen den Klimawandel zündet, gegen den Protest von Aktivisten, mit denen sich ein globaler Bierbrauer solidarisiert: "Zäpfle-Bier eröffnet ein Spenden-Konto für die Ptjantjatjara Arrernte Luritja und weitere Stämme des vorkolonialen australischen Kontinents." Lokalkolorit kommt aus der kulinarischen Konserve: Der Wienerwald von Wú Chéng bietet Tofu-Eisbein und Thüringer Klöße an, serviert von einer Chinesin in Schottenrock.

So gibt es auf jeder Seite gleich mehrere Exotika zu bestaunen: nepalesische Spenderprofilkinder, die Steve-Jobs-Oberschule oder "neoplasmatisch veredelte Ärsche". Ruge schreibt mit geballter Faust, beißend, viril, stellenweise überdeutlich, doch präzise und kenntnisreich, fast immer auf der Höhe des Gegenstands. Bewundernswert, wie mühelos ihm der Genrewechsel gelingt und wie ökonomisch er seine Erzählung auf wenige Orte konzentriert: Hotelzimmer, Bad, Frühstücksraum, Shopping-Mall. Die Welt schwappt über Ticker und Streams ins hyperventilierte Bewusstsein. So steigert Ruge die Irrealität und fasst sie zugleich konkret.

Wäre sein Zorn nur nicht so groß. An einer Stelle schreibt Ruge von brachialem Schneefall. Hat man Schnee je so hart fallen sehen? Man kann es als Symptom deuten. Nach gut zweihundert Seiten macht Ruge nämlich den gewaltsamen Versuch, den Roman mit seinem Vorgänger zu verschalten, das DDR-Familienepos gleichsam in die nächste Generation fortzuerzählen. Der Tod des Großvaters, zu dem Whatsapp Nio Schulz herzlich gratuliert, motiviert den Erzähler zu einem weit ins Kosmologische ausholenden Exkurs, mit dem spärlichen Erkenntnisgewinn, das Leben in seiner Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz begreifbar werden zu lassen - als hätte das erst deutlich werden müssen. Der historische Notausgang aus der vernagelten Welt ist in der Idee überzeugend, gerät bei Ruge aber zur wutentbrannten Elegie. Von seinem Großvater, einem enttäuschten Kommunisten, wie Ruge 1954 geboren, leiht Nio Schulz sich die antitotalitäre Leidenschaft, um die ewig flüchtige vernetzte Welt zu stellen und mit eiserner Faust zu zerschmettern.

Nach einem Theorem Jean Baudrillards ist der Tod der einzig uneintauschbare Wert und daher auch die einzige Exit-Option aus den medialen Simulakren. Schulz hat sich das Tötungsrecht an einem straffälligen Hilfsarbeiter gesichert, die Welthandelsorganisation hat die kommerzielle Verwertung des Todes erlaubt. Der Kopf des Delinquenten liegt auf dem Holzklotz, erdige Gerüche verströmend. Und es fragt sich, ob Schulz das eigene Leben zum Tausch anbieten wird, wie Ruge es weiter vorne mit einem Songzitat angedeutet hat: "Ich fühle, aber ich weiß nicht, was. Ich will lieber tot sein als DAS."

Ruge scheut am Ende diese radikale Konsequenz und flüchtet in trunkene Nostalgie. Sein Held erledigt die liquide Moderne mit einem Fausthieb und fährt auf einem Elektroroller hinaus in die atmende, strömende Welt. Mit einem Mal ist alles wieder da: das vom Fahrtwind zerzauste Haar, die singenden Reifen auf dem Asphalt. Eine Krähe grüßt den Flüchtigen, der versöhnt "das Zing-Zing von Großvaters Sense" hört.

THOMAS THIEL

Eugen Ruge: "Follower". Roman.

Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Hans-Dieter Fronz meint in Eugen Ruge schon einen der scharfsichtigsten Analytiker der Gegenwart zu erkennen. Die Zukunftsvision, die er in seinem Roman entwirft, haut den Rezensenten schon durch die schiere zeitliche Spanne um: 14 Milliarden Jahre, vom Urknall bis ins Jahr 2055 vermisst der Autor anhand der Entwicklungsgeschichte seines Helden vom braven Datenbrillenträger bis zum infolge seelischen Amoklaufs aus der digitalen Totalvernetzung in die analoge Vorzeit ausscherenden Genossen. Düster und köstlich satirisch zugleich findet Fronz das und sprachlich geschmeidig und präzise gemacht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2016

LITERATUR
Ganzkörpertattoos unter Kunsthimmel
Am 1. September 2016 erblickt Nio Schulz, der Held von Eugen Ruges Roman „Follower“, das Licht der Welt.
Einen „fiktiven Enkel“ nennt ihn der Autor, aber ist er eigentlich ein Subjekt? Und was tut er im Jahr 2055 in China?
VON JÖRG MAGENAU
Es ist eine sorgfältig geplante, konzertierte Aktion: Wenn am 1. September 2016 Eugen Ruges neuer Roman „Follower“ erscheint, dann ist der Erscheinungstag zugleich der Geburtstag des Romanhelden Nio Schulz. Mit dem Buch erblickt er das Licht der Welt, so ist das nun mal im Kosmos der Literatur, wo Menschen nicht geboren werden, sondern ausgedacht sind. Im Roman feiert Nio Schulz bereits seinen 39. Geburtstag, denn wir befinden uns mit ihm im Jahr 2055 in HTUA-China, das in verschiedene Kommerzzonen aufgeteilt ist. Was es heißt, in dieser zukünftigen Welt in einem Hotelzimmer aufzuwachen und die Datenbrille „Glass“ nicht gleich zu finden, dann aber in einen verwirrenden Tag hineinzuschlittern, davon erzählt Eugen Ruge mit Lust und Leidenschaft. Die Zukunft wird der Horror, alles ist „pisi“ und streng normiert und kontrolliert. Die Zukunft wird aber auch sehr, sehr komisch. Die Frage ist nur, ob die menschlichen Funktionseinheiten das noch bemerken.
  „Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel“ heißt dieser Roman im Untertitel, und tatsächlich handelt es sich – von einigen Einschüben abgesehen, Akten und Statistiken einer ermittelnden Behörde – um vierzehn sehr lange Sätze in vierzehn Kapiteln, in denen der atemlose Sog der Prosa als Vollzug des unendlichen Gedankenstroms des Helden erst am Kapitelende zu einem erlösenden Schlusspunkt und zur Ruhe findet. Wobei: „Gedanken“ ist eigentlich zu viel gesagt, Nio Schulz denkt zwar unentwegt in dem Sinne, dass jede Menge in ihm vorgeht, aber er ist zugleich so sehr Spielball der Datenströme, Tweets, Postings, Hashtags und @dpa-Tickermeldungen, die vor ihm auf seiner virtuellen Projektionsfläche ablaufen, dass er ausschließlich damit beschäftigt ist, all dem hinterherzustolpern und in Panik zu geraten, wenn einmal eine Sekunde lang nichts passiert.
  Ganz nebenbei lässt Ruge eine Welt entstehen, in der die UNO in Australien Atombomben zündet, um mit dem in die Atmosphäre geschleuderten Staub ihr Klimaprogramm durchzuführen. Der letzte Eisbär ist gerade in einem Zoo gestorben, und die Burger für die verbliebenen Nichtveganer bestehen aus In-vitro-Fleisch, das Schulz aber an In-vitro-Fertilisation erinnert und das er deshalb nicht essen will. Wer mag schon gegrillten Fötus.
  Mit dem fiktiven Enkel aber verhält es sich so: Ein Enkel ist schließlich nicht irgendeine Figur, sondern ein nachfolgendes Familienmitglied, also ein „Follower“, denn das sind ja nicht nur Leute, die bei Twitter einer Person folgen. Es handelt sich also um einen umgekehrten, in die Zukunft verlagerten Familienroman und damit um eine ziemlich raffinierte Fortsetzung von Ruges großem Bestseller „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Da hatte er über vier Generationen hinweg das Panorama einer vom Sozialismus und vom Leben in der DDR geprägten Familie, seiner eigenen, entworfen und sich selbst in der Figur des Alexander Umnitzer, der kurz vor dem Mauerfall in den Westen ging, ein Alter Ego geschaffen. Dieser Alexander lebt nun weiter als fiktiver Autor von „Follower“. Einerseits. Andererseits erfährt der fiktive Enkel im Jahr 2055, dass sein Großvater vor ein paar Tagen gestorben ist. Und er erfährt, dass es sich bei diesem in seinen Augen skurrilen alten Herrn, der einmal mitten im Weihnachtsessen aufgestanden und nach Florida geflogen sein soll, bloß weil jemand bei Tisch telefoniert habe, um einen einst sehr erfolgreichen Autor handelte. Wer hätte das gedacht.
  Mit diesem Kniff, sich selbst aus der Zukunft heraus zu spiegeln und sterben zu lassen, nimmt Ruge alle an seinen großen Erfolg geknüpften Bestsellerautor- und Familienromanerwartungshaltungen elegant auf die Schippe. Der Familienroman ist ja definitionsgemäß ein dokumentierendes, vergangenheitsbezogenes Genre. Ruge macht daraus nun Science-Fiction, womit sich auch die Familie endgültig in eine Erfindung verwandelt. Aber was ist Fiktion, wenn die technisch gestützte Wirklichkeit ungreifbar geworden ist? Unklar, ob die „unfarbenen“ Gardinen im Hotelzimmer echt sind und ob sich dahinter wirkliche Fenster, echte Imitate oder Scheinimitate verbergen. Auch der Himmel über der großen chinesischen Stadt ist vermutlich eine Nachbildung in Universe-Blau, denn sonnige Tage gibt es schon lange nicht mehr wirklich.
  Die Menschen, die unter diesem Kunsthimmel ihren Geschäften nachgehen, haben aufgehört „Subjekte“ zu sein, Subjekte in dem Sinn, dass klar wäre, was zu ihnen gehört und was nicht, und dass es irgendwo eine erkennbare Grenze gibt zwischen innen und außen. Sie tragen ziemlich viele Implantate, „Scheintitten“, Silikon-Bizepse (weil das gesünder ist als Muskeltraining), falsche Hinterteile und virtuelle Ganzkörpertattoos, aber auch ins Gehirn implantierte Chips, die die Hormonausschüttung steuern oder für eine angenehme Morgenstimmung sorgen. Der permanente Zufluss von Daten und Bildern versetzt sie sowieso in eine Welt, in der schwer zu bestimmen ist, was real, was Bild und was Abbild ist. Was ist der Wirklichkeitsstatus von fotoidentischen Gasmasken? Wie natürlich ist das natürliche Ephedrin in einem Decaff-Soja-Macchiato? Und wie real ist das 3-D-Foto der noch namenlosen Tochter, das ein Schulfreund direkt von der Webcam im Uterus der ukrainischen Leihmutter schickt?
  Es ist klar, dass in dieser Welt Identitäten zum Problem geworden sind, auch wenn die Datenbrille unentwegt die „identity“ „checkt“. Die eigene Leiblichkeit und die Körper der anderen bleiben Störfaktoren, die nicht ganz auszuschalten sind. Das beginnt mit der unkontrollierten Morgenerektion, wenn sich unter der Dusche „das Wesen“ erhebt, und setzt sich im eigentlich geschlechtergetrennten Aufzug fort, wenn plötzlich und völlig irregulär eine leibhaftige Frau zusteigt. Denn eine Frau auch nur anzuschauen könnte zu schwerwiegenden Verwicklungen führen, zu Anklagen wegen sexueller Übergriffigkeit.
  All das, was wir aus unserer Gegenwart kennen, steigert Ruge ins Groteske – und es ist wohl gar nicht so unwahrscheinlich, dass es genau so kommen wird. Alles „pisi“, nur die Gedanken bleiben manchmal noch unkorrekt, so etwa, wenn Nio Schulz bei seiner bulgarischen Chefin statt negativ immer „negertief“ versteht. Was „Neger“ einmal bedeutet hat, weiß er aber nicht, er weiß nur, dass es sich um ein schlimmes Unwort handelt, sodass „negertief“ noch viel negativer als negativ ist.
  Der Erzähler folgt Nio Schulz und seinen Gedanken in unmittelbarem Präsens. Der ganze Roman umfasst nicht mehr als ein paar Stunden eines Vormittags. Doch bei dem Meeting mit den Chinesen, das um zehn Uhr beginnen soll, kommt Nio Schulz nicht an. Lost in reality. Aber weil man in dieser kontrollierten und „pisi“-geregelten Welt nicht verloren gehen kann, beginnen sofort die Ermittlungen der „European Security and Anti-Terror Facilities“, die in Aktenform dokumentiert sind. Das sind die einzigen Seiten, die mit ihren Statistiken ein wenig ermüden. Als diplomierter Mathematiker hat der Erzähler Eugen Ruge aber auch daran seine Freude.
  Als Einschub gibt es zudem eine aberwitzige „Genesis“ in Kurzfassung, eine quer im Romangeschehen steckende Erzählung, die vom Urknall (wenn es ihn denn gegeben hätte) über Jahrmilliarden bis zur Zeugung des Nio Schulz führt. Mit dieser Hochgeschwindigkeits-Familiengeschichte knüpft Ruge noch einmal anders an „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ an. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Wesen zu einer bestimmten Zeit gezeugt wird, ist, wenn man die Sache nicht von ihrem Ende her, sondern von allem Anfang an betrachtet, im Grunde gleich null. Trotzdem entsteht so etwas wie ein Individuum, eine Figur, von der sich erzählen lässt, auch wenn sie am 1. 9. 2016 gerade erst geboren wird. Dieses Rätsel wird auch im Jahr 2055 ungelöst sein. Eugen Ruge hat daraus einen grotesken, sehr komischen und äußerst unterhaltsamen Roman über unsere absurde Gegenwart gemacht.
Eugen Ruge: Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die Zeugungswahrscheinlichkeit
ist auch für Nio Schulz
eigentlich gegen null
Eugen Ruge gelingt eine raffinierte Fortsetzung seines Bestellers „In Zeiten des abnehmenden Lichts“.
Foto: Regina Schmeken
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Ein großartiger und in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Roman ... Nach «Follower» darf Eugen Ruge als einer der scharfsichtigsten Analytiker der Gegenwart gelten. taz