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Der Erste Weltkrieg war ein industrialisierter Massenkrieg. Je länger er dauerte, desto mehr veränderte er die Gesellschaften, die ihn führten, und desto rasanter entwertete er das Wissen der Politiker. Wie sollte man ihn beenden? Meisterhaft und mit dem Blick für die globalen Zusammenhänge erzählt Jörn Leonhard, wie die Welt zwischen 1918 und 1923 um eine neue Friedensordnung rang und was diese Zeitenwende für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bedeutete. Dabei werden die hochfliegenden Erwartungen und die teils widersprüchlichen Versprechen ebenso deutlich wie die erdrückenden…mehr

Produktbeschreibung
Der Erste Weltkrieg war ein industrialisierter Massenkrieg. Je länger er dauerte, desto mehr veränderte er die Gesellschaften, die ihn führten, und desto rasanter entwertete er das Wissen der Politiker. Wie sollte man ihn beenden? Meisterhaft und mit dem Blick für die globalen Zusammenhänge erzählt Jörn Leonhard, wie die Welt zwischen 1918 und 1923 um eine neue Friedensordnung rang und was diese Zeitenwende für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bedeutete. Dabei werden die hochfliegenden Erwartungen und die teils widersprüchlichen Versprechen ebenso deutlich wie die erdrückenden Probleme bei der Umsetzung und die Unterschiede zwischen den Annahmen in Paris und den Realitäten vor Ort. Ob im Blick auf untergehende Reiche und neue Staaten, ethnische Minderheiten oder das neue Massenphänomen von Flucht und Vertreibung: Die Art und Weise, wie der Krieg zu Ende ging, schuf Enttäuschungen und Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen sollten und deren Ausläufer bis in unsere Gegenwart reichen.
Autorenporträt
J?rn Leonhard ist Professor f?r Westeurop?ische Geschichte an der Universit?t Freiburg. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: ?Die B?chse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges? (2014).

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2019

WELT OHNE ORDNUNG
Versailles und das Jahr 1919: eine notwendige Erinnerung

Am 24. Juli 2008, einem Donnerstag, kam der Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Demokraten, Barack Obama, nach Berlin. Schlank und locker stand er auf einem Podest zu Füßen der Siegessäule und verkündete mit einer Coolness, die hiesigen Politikern heute noch fremd ist, das Programm zur Weltverbesserung, das er nach seinem Amtsantritt umsetzen würde. Die Netzwerke des Terrors würden zerschlagen, die nuklearen Arsenale der Großmächte abgebaut werden. Afghanistan und der Irak würden sich mit Unterstützung von Nato-Truppen zu Demokratien weiterentwickeln. Die Nationen der Welt würden dem Beispiel Deutschlands folgen und ihre Emissionen von Treibhausgas auf ein tragbares Maß reduzieren. Kooperation und Partnerschaft würden alte Feindschaften ersetzen. Und bei all diesen Aufgaben könne sich Amerika keinen besseren Freund als Europa vorstellen, die Europäische Union.

Inzwischen ist es gut zehn Jahre her, seit die zweihunderttausend Zuhörer im Berliner Tiergarten Obama bejubelten und "Yes, we can!" skandierten. Vor zwei Jahren hat Obama sein Präsidentenamt an Donald Trump übergeben. Von seinen politischen Plänen ist nichts geblieben: In Afghanistan stehen immer noch Nato-Truppen, die Taliban sind auf dem Vormarsch, der Irak hat den Angriff des "Islamischen Staats" abgewehrt, ohne der Demokratie näher zu kommen, die nuklearen Arsenale sind durch die Aufrüstung Chinas und Nordkoreas größer als zuvor, die Treibhausgasemissionen steigen stärker denn je. Unterdessen ist der Arabische Frühling gescheitert und hat Libyen als failed state hinterlassen, in Syrien kämpfen Russland, die Türkei, Saudi-Arabien und Iran um ihre Einflusszone im östlichen Mittelmeer, und aus Afrika und Südamerika drängen ständig neue Flüchtlingswellen in die Länder des Nordens. Vor vierzehn Tagen hat der russische Präsident Putin eine neue Interkontinentalrakete getestet, die mit zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit fliegt. Und Donald Trump hat nach dem knapp vermiedenen Eklat im Zollstreit mit der Europäischen Union einen Handelskrieg mit China begonnen, der die Weltwirtschaft an den Rand einer Rezession bringen dürfte.

An all das musste ich denken, als ich Jörn Leonhards Buch über den "überforderten Frieden" las ("Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923". C. H. Beck, 1531 Seiten, 39,95 Euro).

Damals, im Frühjahr 1919, ging es um die Neuordnung der Kontinente nach dem Ersten Weltkrieg. An erster Stelle stand natürlich Europa, aber durch den Kriegseintritt Japans und Amerikas auf Seiten der Westmächte, durch die Kämpfe in den deutschen Kolonien, die Kontingente britischer und französischer Kolonialtruppen an den europäischen Fronten und die Folgen der russischen Revolution war letztlich die ganze Welt Gegenstand der Verhandlungen. Aus Vietnam war Nguyen Ai Quoc, der sich später Ho Tschi Minh nannte, als Beobachter angereist, aus Arabien nahm Scheich Faisal mit seinem Freund T. E. Lawrence an der Konferenz teil, und in seinem Ashram in Indien verfolgte Mahatma Gandhi aufmerksam deren Fortgang.

Die Erwartungen der Siegermächte England und Frankreich und ihrer Verbündeten waren, wie Leonhard zeigt, auf Rache an ihren Kriegsgegnern Deutschland und Österreich-Ungarn und Entschädigung für ihre Verluste an Menschen und Gütern gerichtet. Die Hoffnungen der gesamten übrigen Welt aber, einschließlich der kriegsentscheidenden Großmacht Amerika, galten der Umsetzung jener "Vierzehn Punkte", die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 als Vorbedingung für Friedensgespräche verkündet hatte. Zu ihnen gehörten die Freiheit der Meere, das Ende der Geheimdiplomatie, die Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaats und des Osmanischen Reiches, der Abbau von Handelsschranken und allgemeine Abrüstung. Am wichtigsten und folgenreichsten aber war ein Begriff, der in Wilsons Punkteliste nur verklausuliert ("autonome Entwicklung", "Selbständigkeit") auftaucht, von ihm selbst jedoch in zahllosen Reden beschworen wurde: das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Dieses Recht, das heute als Axiom in der Charta der Vereinten Nationen steht, besagt nichts anderes, als dass jede Gemeinschaft, die sich durch Sprache, Herkunft und kulturelle Traditionen von anderen Gemeinschaften unterscheidet, zu politischer Eigenständigkeit ermächtigt ist. In der Welt von 1919, in der ganz Afrika und halb Asien aus Kolonialgebieten unter europäischer oder amerikanischer Herrschaft bestanden, war das ein revolutionärer Gedanke. Wie man sich denken kann, wurde er in Versailles auch nicht annähernd umgesetzt. Aber die Art, wie seine Umsetzung an den politischen Realitäten scheiterte, prägt die Geschichte unseres Planeten bis heute, bis hin zu Obama und Trump, zu Putin und Erdogan.

Zuerst bekamen die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich-Ungarn den Widerspruch zwischen Ideal und Machtinteresse zu spüren. Anders als bis dahin üblich, saßen sie nicht mit am Konferenztisch, sondern wurden nur zur Übergabe der Vertragsbedingungen einbestellt, die sie nach kurzer Frist unter Androhung militärischer Zwangsmittel annehmen mussten. Die junge deutsche Republik verlor Elsass-Lothringen, Nordschleswig und Westpreußen, aber auch das Memelland um Tilsit (1923 an Litauen) und das mehrheitlich deutschsprachige Danzig (das vom Völkerbund verwaltet wurde). Das Rheinland kam bis 1930 unter alliierte, das Saarland bis 1936 unter französische Verwaltung. Die von Polen beanspruchten Teile Ostpreußens blieben nach Volksabstimmungen bei Deutschland, während das südliche oberschlesische Industrierevier trotz deutscher Abstimmungsmehrheit an Polen ging. Österreich musste Südtirol an Italien abtreten, dem es 1915 als Belohnung für seinen Kriegseintritt versprochen worden war, und Ungarn verlor zwei Drittel seines früheren Territoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung an Rumänien, die Tschechoslowakei und das neu entstandene Jugoslawien. Überall in Ost- und Mitteleuropa bildeten sich nationale Minderheiten, die sich auf jenes Selbstbestimmungsrecht berufen konnten, das ihnen in Versailles gerade verweigert worden war.

Als Nächstes kamen die Araber dran. Der Nationalstaat unter Faisals Führung, den England den Herrschern von Mekka für ihren Einsatz im Krieg gegen die Osmanen versprochen hatte, war schon mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hinfällig geworden. In Versailles schrieben Briten und Franzosen ihre Einflusszonen fest, Letztere sicherten sich Syrien und den Libanon, Erstere Jordanien, Palästina und den heutigen Irak. Faisal, der sich vergeblich in Damaskus zu halten versuchte, wurde 1920 als Puppenkönig in dem aus sunnitischen, schiitischen und kurdischen Gebieten zusammengeklebten irakischen Kunststaat eingesetzt, während der Süden der arabischen Halbinsel unter die Herrschaft der wahhabitischen Dynastie von Ibn Saud geriet, dem Gründer von Saudi-Arabien.

Blieben die Kolonien. In Wilsons "Vierzehn Punkten" hieß es ominös, ein "Ausgleich aller kolonialen Ansprüche" müsse erzielt werden, bei dem "die Interessen der betreffenden Bevölkerungen" ebenso ins Gewicht fielen wie die Interessen jener Regierung, "deren Rechtstitel zu entscheiden ist". Die Inder und Afrikaner, die in französischen und britischen Uniformen in Flandern und bei Gallipoli gekämpft hatten, verstanden dass so, dass ihre Länder von ihren Besatzern stufenweise in die Unabhängigkeit entlassen würden. Aber Wilson, ein weißer Suprematist und Verehrer des Ku-Klux-Clans, und die Führer der europäischen Kolonialmächte dachten gar nicht daran, die "betreffenden Bevölkerungen" nach ihrem Willen zu fragen. Die ehemaligen deutschen Kolonien wurden unter britische und französische Verwaltung gestellt, die Kolonialsoldaten entlassen, ansonsten ging alles so weiter wie bisher. Nguyen Ai Quoc alias Onkel Ho zog daraus seine persönliche Konsequenz: Er ging nach Moskau und wurde Kommunist.

Jörn Leonhard, der das Ringen um den Versailler Vertrag, dessen Nebenverträge, deren Ratifizierung und Umsetzung auf gut zwölfhundert Textseiten in allen Einzelheiten schildert, gibt sich Mühe, den Realpolitiker Wilson gegen seine idealpolitischen Verehrer in Schutz zu nehmen: Die "Vierzehn Punkte" seien vor allem als Statement gegen die Gewaltdiplomatie des Deutschen Reiches bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk entstanden, man dürfe ihnen nicht "jenen Grad an Eindeutigkeit" unterstellen, der nach Kriegsende in sie hineingelesen wurde. Aber das bedeutet, mit der Geschichte gegen die Geschichte zu argumentieren. Auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde an einem bestimmten Punkt in der Französischen Revolution verkündet, und dennoch hat sie ihre Gültigkeit behalten. Wilsons Idee der Selbstbestimmung der Völker wirkte über das Trauerspiel von Versailles hinaus fort, weil sie ein elementares Rechtsempfinden auf die Ebene der Staaten und ihrer Beziehungen untereinander übertrug - auch wenn im Konfliktfall immer neu geklärt werden muss, was ein "Volk" ausmacht und wie viele Grade der Selbstregierung möglich sind. Es bedurfte eines weiteren Weltkriegs, um die Kolonialmächte Europas zu der Einsicht zu zwingen, dass auch Kenianer und Inder das Recht auf Selbstbestimmung haben, und weitere vierzig Jahre Kalter Krieg, um dieses Recht auch im sowjetischen Imperium durchzusetzen.

Womit wir wieder bei der Gegenwart wären, bei Trump und Putin und Erdogan und bei dem Gefühl der Leere, das Obamas Präsidentschaft hinterlassen hat. Jede Epoche hat ihren utopischen Augenblick, und seit Europa im Kolonialismus seinen weltanschaulichen Kredit verspielt hat, ist er jedes Mal mit Amerika verbunden. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Wahl Kennedys, und in der Periode nach dem Ende des Kalten Krieges kam dieser Moment mit der "Yes, we can"-Kampagne Obamas, weil sie das Versprechen des Westens - Demokratie, Gleichberechtigung, Wohlstand für alle - noch einmal in einer Formel und einer Person zusammenzog. In Berlin, im Juli 2008, schien der Aufbruch in ein globales Friedenszeitalter zum Greifen nahe. Drei Jahre später war er verpufft. Damals entstand das Foto, das in der kollektiven Erinnerung von Obama bleiben wird. Es zeigt den Präsidenten, wie er im Situation Room des Weißen Hauses mit ernster Miene bei der Tötung Usama bin Ladins zusieht. Diese Exekution ist neben der Healthcare-Reform das greifbarste Ergebnis von Obamas Amtszeit. Der Böse ist tot, die Bösen sind geblieben, und Al Qaida lebt jetzt unter vielen Namen.

Auch Woodrow Wilson hatte seinen Moment der Utopie, als er vor gut hundert Jahren an Bord der "George Washington" unter dem Jubel der Menge in Brest anlegte, und dann bei seinen triumphalen Auftritten in Paris, London und Rom. Als er ein halbes Jahr später nach Amerika zurückkehrte, war er ein gebrochener Mann. Sein Friedenswerk war gescheitert, in den Ländern der Kriegsverlierer tobten Bürgerkriege, Polen und Russland holten zum Schlag gegeneinander aus, und in Kleinasien kämpften Türken und Griechen um die Konkursmasse des Osmanischen Reichs. Schon in Versailles war Wilson schwer erkrankt, im Oktober erlitt er einen Schlaganfall, den Rest seiner Präsidentschaft verbrachte er meist im Rollstuhl oder im Bett. Im November lehnte der Senat mit seiner republikanischen Mehrheit den Versailler Vertrag ab. Der Völkerbund, Wilsons großes Projekt, blieb ein Torso, weil die Vereinigten Staaten ihm nicht beitraten.

Ein Jahr nach dem Ende der Friedenskonferenz konstatiert der Ökonom John Maynard Keynes, der als Mitglied der britischen Delegation in Versailles dabei gewesen und aus Protest gegen die harten Vertragsbedingungen für Deutschland vorzeitig abgereist war, eine akute "Universalismusmüdigkeit" in Europa. Noch niemals im Leben des heutigen Menschen, so Keynes, habe "das Gefühl der Weltzusammengehörigkeit in seiner Seele so trübe gebrannt". Während Telegrafenkabel und Radiowellen die entferntesten Ecken der Erde miteinander verbanden, erlosch in den Industriegesellschaften der Sinn für Globalität. Das nationale Interesse und der Kampf gegen den Bolschewismus traten in den Vordergrund, die Zeit der starken Männer begann: Horthy in Ungarn, Mussolini in Italien, Pilsudski in Polen, Franco in Spanien, Hitler in Deutschland. Die Weimarer Republik, dem schlechten Ruf zum Trotz, der ihr heute anhaftet, hatte unter den jungen Demokratien fast am längsten durchgehalten. Als die Nazis sie 1933 liquidierten, waren die Reparationen, die ihr ökonomisch die Luft abgedrückt hatten, seit einem Jahr gestrichen. Aber die Kredite, mit denen sie ihre Zahlungen an die Alliierten finanziert hatte, wurden erst im wiedervereinigten Deutschland endgültig getilgt. Die letzte Rate in Höhe von 56 Millionen Euro überwies die Bundesrepublik am 3. Oktober 2010. So lang fiel der Schatten von Versailles.

Universalismusmüdigkeit: Das ist vielleicht nicht das allererste Schlagwort, das einem zum Vormarsch der neuen Rechten, zum Brexit und zur Flüchtlingskrise, zu Trump, Orbán und Konsorten einfällt. Aber es beschreibt ziemlich treffend jenes Grundgefühl der Enttäuschung, das die Gegenwart mit der Welt nach Versailles verbindet. Damals hatten die siegreichen Westmächte "die größte moralische Möglichkeit der Geschichte", wie Stefan Zweig rückblickend schrieb: die Chance, die Welt vernünftig zu ordnen. Sie haben sie nicht genutzt. Insofern war nicht der Große Krieg, sondern Versailles die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, der Anfang von allem, was heute noch auf der Agenda der Weltpolitik steht. Das ist kein Grund, das Feld abermals den Populisten und Isolationisten zu überlassen. Stattdessen sollte der Westen endlich anfangen, die Rechte, die er beansprucht, auch allen anderen zuzugestehen.

ANDREAS KILB

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2018

Verspielte Chancen
Versailles und die Welt: Anschaulich und perspektivenreich schildert Jörn Leonhard die
Entstehung der Nachkriegsordnung von 1918 bis 1923. Wie kam es zum „überforderten Frieden“?
INTERVIEW: JENS BISKY
Am 11. November 1918 endeten mit dem Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. Das Ringen um eine neue Friedensordnung begann. Von ihr wurde weltweit viel erwartet, doch die Friedensverträge von Versailles, Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres enttäuschten die meisten. Der Zusammenbruch der großen Imperien, des Zarenreiches, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches, führte zu Staatenbildungskriegen, neuen Grenzen, Gewaltexplosionen und Vertreibungen. In seinem großen, Maßstäbe setzenden Buch „Der überforderte Frieden“ erzählt Jörn Leonhard eine Globalgeschichte dieser Zeitenwende.
SZ: Herr Leonhard, wie erreichte der Waffenstillstand die Front? Kamen Meldegänger und riefen: „Gewehre nieder“?
Jörn Leonhard: Als am 11.11. 1918, am Vormittag vor elf Uhr, die Nachricht eintraf und an manchen Stellen Meldereiter mit Trompeten den Waffenstillstand verkündeten, rieben sich viele Soldaten verwundert die Augen: Das hätten wir vor drei Monaten nicht erwartet. Es gab keinen Präzedenzfall, wie ein solcher Krieg konkret endet. Soldaten an den Funkstationen bekamen die Nachrichten unmittelbar mit und feierten bereits, während andere dem Waffenstillstandsgerücht noch nicht glaubten. Die Deutschen hatten das Feuer eingestellt. Aber würde es dabei bleiben, konnte man diesem Kriegsende trauen? Die Bestimmungen des Waffenstillstands waren geprägt von der Angst, Deutschland könne den Kampf wieder aufnehmen. Das blieb bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 ein Thema.
Das ist die Perspektive der Westfront. Wie sah es andernorts aus?
Das Kriegsende ist ungleichzeitig. In Ostafrika kapitulierten die Deutschen später und mit Paul von Lettow-Vorbeck inszenierte man eine Kapitulation unter weißen Europäern, die zeigen sollte, dass man eine Art „gentleman’s war“ gekämpft habe, was nichts mit der Realität zu tun hatte. Für viele deutsche Soldaten stellte sich angesichts der Revolution vom 9. November die Frage: Was ist das für eine Heimat, in die wir jetzt zurückkommen? Die Soldaten hatten eine Art emotionaler Selbststabilisierung betrieben, die auf der Annahme basierte, dass Familie, Dorf, Arbeitsstätte unverändert geblieben seien. Nun fürchteten sie, dass sich das als Illusion erweisen könnte.
Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen Siegern und Besiegten?
Vielleicht mehr, als man zunächst annehmen möchte. In London und Paris kam es zu euphorischen Momenten, aber in kleineren Städten überwog ungläubige Erleichterung. Dort war der Jubel oft verhalten. In einer Wand des Senatsgebäudes im Pariser Jardin du Luxembourg kann man bis heute die Spuren deutscher Artilleriegeschosse von 1871 und vom Sommer 1918 erkennen. Dass die Deutschen noch in der Endphase des Krieges so weit gekommen waren, hat sich tief in die französische Erinnerung eingegraben. Deshalb trauten viele dem Frieden nicht. Dazu kamen die private Trauer und die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem erreichten Frieden und den Opfern des Krieges. Das geschah auch in Deutschland, eine der Antworten war die Dolchstoßlegende. Aus dem Verhältnis zwischen den Opfern und dem Ergebnis des Krieges entstanden enorme Erwartungen an die neue Friedensarchitektur.
Schaut man heute auf die ersten Friedenmonate, so überwiegt der Eindruck verpasster Chancen. Sie sprechen von einem „Moment der Ermächtigung“. Warum?
Ich glaube, dass diese Ermächtigung früher beginnt, darum erzähle ich aus der Endphase des Krieges heraus. Die Ermächtigung resultiert aus der Kombination von Erschöpfung und konkurrierenden Utopien, Woodrow Wilsons Demokratie und Lenins Weltrevolution. Beide treffen sich im noch vagen Begriff der nationalen Selbstbestimmung, den die Bolschewiki im Kontext der Oktoberrevolution aufgebracht haben. Darauf reagiert US-Präsident Wilson mit seinen 14 Punkten im Januar 1918.
Welche Utopie vertrat Wilson?
Wilson ist, anders als lange behauptet, kein naiver Idealist. Er war stark religiös motiviert, stammte aus einer calvinistisch geprägten Familie. Wollte man zuspitzen, könnte man sagen: Er war ein politischer Prediger am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, überzeugt von der besonderen Sendung der amerikanischen Nation. Diesen Gedanken universalisierte er. Daher rührte die Vorstellung, man könne Frieden nur dann schaffen, wenn man die Gesellschaften des Nachkriegs demokratisiert – daher seine Wendung gegen die alten Militärmonarchien in Europa. Das ist gleichsam die Übertragung des amerikanischen Konzepts der Nation auf alle Gesellschaften, die sich als „reif genug“ erwiesen.
„Reif“ meint: Das gilt nur für Europa, nicht für die Kolonien?
Genau. Darüber entsteht ein erster großer Streit zwischen den Verbündeten. Franzosen und Briten argumentieren, dass sie sich Selbstbestimmung für Polen und Tschechen und Südslawen vorstellen können, aber selbstverständlich nicht in Afrika oder Asien.
Obwohl sehr viele Soldaten von dort rekrutiert wurden.
Daraus entsteht die Ambivalenz, denn den afrikanischen und asiatischen Soldaten hatte man in London und Paris viel versprochen, doch nach Kriegsende war von großen Konzessionen an ihre Heimatgesellschaften keine Rede mehr. Es ging dabei zunächst nicht so sehr um formale Unabhängigkeit, sondern um Verbesserungen des Status innerhalb der Kolonialreiche. Wilson dachte nicht daran, all diese Länder zu dekolonialisieren, sondern an einen allmählichen Entwicklungsprozess. Als man die Mandate einführt, eine Art Vormundschaft „fortgeschrittener Nationen“ über andere Völker, gibt es A-, B- und C-Mandate. Das verwies auf ein europäisch geprägtes Zivilisierungsmodell als Basis des Kolonialismus. Dennoch entsteht mit dem Schlüsselbegriff „Selbstbestimmung“ ein Möglichkeitsraum, etwa für diejenigen, die sich fragen: Warum gilt das für Polen, Slowaken, Südslawen, warum gilt es nicht für Araber, Inder, nicht für Chinesen, Koreaner, Westafrikaner. Plötzlich kann man die lokale Situation in den Horizont eines universellen Paradigmas stellen.
Anfang 1919 treffen sich die Siegermächte in Paris und beraten über die neue Friedensordnung. Es fällt ihnen schwer, sich zu einigen. Worüber streiten sie?
Der Konflikt begann bereits im Krieg, wurde aber vom Kampf gegen den gemeinsamen Gegner überdeckt. Mit dem Waffenstillstand treten die Unterschiede hervor. Frankreich will Deutschland schwächen, auch territorial. Die Briten wollen den Konkurrenten von vor 1914 ausschalten und konzentrieren sich auf die Auslieferung der deutschen Schlachtflotte. Die Sieger brauchten Wochen, um ihre Interessengegensätze auch nur im Ansatz auszutarieren. Das führte zu Kompromissen, zu Verrechnungen von Aspekten, die nichts miteinander zu tun haben: Regelungen in Europa, im Mittleren und Nahen Osten mit dem Status von Schantung, des ehemaligen deutschen Schutzgebietes in China …
… das bei Japan bleibt.
Ja, was wiederum dazu führte, dass die Chinesen den Versailler Vertrag nicht unterzeichneten. Bis heute spielt das in China für die Auseinandersetzung mit dem Westen eine große Rolle. Andres gesagt: China erfährt 1919 das Glaubwürdigkeitsproblem der vom Westen versprochenen Friedensordnung.
Jetzt blicken wir wieder aus der West-Perspektive. In Ihrem Buch aber behaupten Sie, das 20. Jahrhundert beginne und ende in Brest-Litowsk, 775 Kilometer östlich von Berlin. Warum dort?
Weil dort der erste Frieden geschlossen wurde, der häufig übersehen wird, aber enorme Bedeutung hat. Und das nicht in dem Sinne, dass die Deutschen dort Russland einen Diktatfrieden aufzwingen und dann deshalb in Paris Ähnliches erleiden müssen. In Brest-Litowsk trafen ab Herbst 1917 unfassbare Gegensätze aufeinander. Da saßen Vertreter der wilhelminisch-kaiserlichen Regierung an einem Tisch mit Vertretern der Bolschewiki, die auch noch einen Bauern mitgebracht hatten. Und beim Diner erzählt ein weibliches Mitglied der russischen Delegation den verdutzten deutschen Diplomaten, dass sie einen Gouverneur des Zaren erschossen hatte. Allen Beteiligten war bewusst, dass sie an der Schwelle zu etwas Neuem stehen.
Wieso?
Die Bolschewiki hatten unmittelbar nach der Oktoberrevolution angekündigt, die Archive zu öffnen, die Ära der Geheimdiplomatie zu beenden, sich für die Selbstbestimmung aller Völker einzusetzen. Obwohl der Vertrag von Brest-Litowsk durch den von Versailles aufgehoben wurde, werden sich viele der Beteiligten auf beiden Seiten wiedertreffen, nämlich 1922 in Rapallo. Trotz aller ideologischen Gegensätze kommen Deutschland und Sowjetrussland nach 1920 als die von Versailles Ausgeschlossenen rasch zusammen – wer diese Volten verstehen will, muss mit Brest-Litowsk beginnen. 1991 dann wurde in der Nähe der Stadt, im Urwald von Belowesch, das Sowjetimperium beerdigt und die GUS begründet. Dieses nicht geplante Zusammentreffen zweier Weltaugenblicke an einem Ort finde ich atemberaubend.
Während im Osten Bürger- und Staatenbildungskriege stattfinden, wird in Paris die Friedensordnung paraphiert. Der Versailler Vertrag fällt durch seinen Umfang auf. Warum ist er so dick, so detailliert?
Das Ziel war ein Frieden, der diesem Krieg mit all seinen Opfern gerecht werden sollte, ein „totaler Frieden“ nach einem totalisierten Krieg. Die Regelungswut des Friedensvertrages spiegelt auch die Macht des Kriegsstaates. Der Erste Weltkrieg war ja nicht nur der Krieg der Artilleriegeschütze, er war auch ein Krieg der Planungsstäbe, der Eisenbahn- und Infrastrukturexperten. Der Mythos der Sachlogik spielte eine große Rolle. Hinzukommen Experten als neue Akteure: Ethnologen, Völkerrechtler, Finanzfachleute.
In Ihrem Buch treten zu den Experten mit Objektivitätsideal die Experten für Erregung: die Journalisten. Welche Rolle spielen sie?
Die Verhandlungen sollten transparent sein, „new diplomacy“. Aber in Paris stellte man rasch fest, dass die „Meute“ der Journalisten andauernd Nachrichten benötigt. Daher kehren nach einigen Wochen wesentliche Elemente der Arkandiplomatie zurück, bis am Schluss die großen drei – Wilson, Lloyd George, Clemenceau – entscheiden und das Plenum vor allem eine Beglaubigungsfunktion erfüllt. Die Rolle der Presse dabei ist ambivalent. Sie wird immer wieder bewusst instrumentalisiert. Die Franzosen lassen Informationen durchsickern, um Wilson unter Druck zu setzen. Gleichzeitig ist alles, was in Paris besprochen wird, eine potenzielle Weltnachricht. Was in Paris geschah, löste in Kairo oder Shanghai unmittelbar Reaktionen aus.
Das hat etwas Paradoxes, die ganze Welt diskutiert die Verhandlungen, während Sieger und Besiegte nicht miteinander reden. War das von Anfang an so geplant?
Dass man nicht gleichberechtigt miteinander verhandelte, war der fundamentale Unterschied zum Wiener Kongress von 1814/15 oder anderen frühneuzeitlichen Friedensverträgen wie 1648. Die Idee einer Vorkonferenz zur Absprache der Sieger untereinander und eines anschließenden Friedenskongresses geriet in den Hintergrund. Angesichts der Interessengegensätze zwischen den Siegern wird aus der Vorkonferenz eine Definitivkonferenz. Das Ergebnis ist ein Versagen von politischer Kommunikation. Weil Sieger und Besiegte nicht miteinander reden, wird das Vakuum mit Gesten, Symbolen, Emotionen gefüllt. So wird die Frage, warum der deutsche Außenminister bei seiner Rede anlässlich der Übergabe des Vertragsentwurfs sitzen bleibt, entscheidend. Französische Zeitungen deuten es als Zeichen, die Deutschen hätten nicht verstanden, dass sie den Krieg verloren haben. Diese Reiz-Reaktions-Mechanismen verstärken das gegenseitige Misstrauen permanent.
Folgt deswegen auf den Moment der Ermächtigung die globale Enttäuschung ab dem Sommer 1919?
Die Ermächtigungsmomente setzen sich zunächst noch fort. Die neuen ostmitteleuropäischen Staaten versuchten seit November 1918, vollendete Tatsachen zu schaffen, neue Grenzen zu ziehen, die sie in Paris ratifizieren lassen wollten. Die Handlungsspielräume in Paris waren das eine, doch was mit militärischer Gewalt vor Ort entschieden wurde, war etwas anderes. Zudem darf man nicht unterschätzen, dass der Ermächtigungsmoment global wirkt, selbst bei denen, die nicht nach Paris kommen. Exil-Koreaner in den USA hatten bereits eine Delegation zusammengestellt, um sich gegen das japanische Kolonialregime zu wehren. Nachdem sie kein Visum erhielten, inszenierten sie einen First Korean National Congress – in Philadelphia, der Stadt von 1776. Und es gibt das große Alternativprojekt zur Pariser Friedenskonferenz, die Konferenz der Kommunistischen Internationale in Moskau. Dennoch haben Sie recht, im Sommer 1919 sehen fast alle ihre großen Erwartungen enttäuscht.
Was folgte daraus?
Es beginnt eine Phase der Revisionsanläufe. Die Unzufriedenheit Frankreichs führt 1923 zur Ruhrbesetzung, bis die Regierung in Paris versteht, dass ihr für einen weiteren Konfrontationskurs die Ressourcen und die internationale Unterstützung fehlen. Die Amerikaner wollen zur Normalität zurückkehren, sich auf sich selbst konzentrieren. Die Briten sind mit ihrem Empire beschäftigt, aber sie erkennen auch früh die Notwendigkeit, die Deutschland auferlegten finanziellen Lasten zu modifizieren.
Der erfolgreichste Revisionist war wohl Mustafa Kemal, der Staatsgründer der Türkei. Warum glückte ihm, woran andere scheiterten?
Vor dem Hintergrund enormer Gewalt kam es 1923 zu einem Kompromiss: Die Alliierten sind bereit, einen souveränen türkischen Staat zu akzeptieren, dafür verzichtet die neue Regierung in Ankara auf die alten Gebiete des Osmanischen Reiches im Nahen Osten, so dass Frankreich und Großbritannien dort freie Hand erhielten. Innenpolitisch gab es in der französischen und der britischen Gesellschaft keine Unterstützung mehr für einen weiteren Krieg. Schon die Interventionen in den russischen Bürgerkrieg verliefen ja im Sande und am Schwarzen Meer revoltierten französische Soldaten, weil sie nach Hause wollten. David Lloyd George, der bereit war, die Griechen im griechisch-türkischen Krieg zu unterstützen, stürzte letztlich über diesen Konflikt.
Zeigt nicht gerade der griechisch-türkische Krieg mit den folgenden Säuberungen, Vertreibungen und Umsiedlungen, wie verhängnisvoll die Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker wirken kann?
In diesem Krieg, symbolisiert im Brand von Smyrna, erkennt man die entfesselte ethnische Gewalt. Das hatte bereits vor 1914 begonnen, in den Balkankriegen, und eskalierte währen des Krieges mit der genozidalen Gewalt gegen die Armenier. So ging der Staatenkrieg von 1914 in neue Gewaltformen von Bürgerkrieg, ethnischer Gewalt und Nationalstaatsbildung über. Für das Gebiet des Osmanischen Reiches greift die Chronologie 1914 – 18 zu kurz, dort haben wir es mit einem Gewaltkontinuum zwischen 1912/13 und dem Vertrag von Lausanne 1923 zu tun. Das brennende Smyrna war auch ein Symbol für die Unglaubwürdigkeit der westlichen Mächte, die sehenden Auges die Griechen in das Abenteuer der Expansion nach Kleinasien geschickt hatten. Als sich das Blatt wendete, ließ man die Griechen allein.
Früh schon wurde den Friedensverträgen vorgeworfen, sie bedeuteten Frieden, um den Frieden zu beenden. Teilen Sie das Urteil? Ist der Versailler Vertrag so schlecht wie sein Ruf?
Nein. Dass es unter dem akuten Problemdruck überhaupt zu einem Frieden kam, ist schon eine Leistung. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Inhalt der Verträge einschließlich der Begründung der neuen Institution des Völkerbundes und der Wahrnehmung 1919. In Deutschland hat man den Vertrag auf den Zusammenhang von Schuld und Schulden reduziert. Im Zentrum standen der moralische Vorwurf, den Krieg verursacht zu haben, daran anknüpfend die Strafverfolgung Wilhelms II. und das Reparationsproblem. Doch übersah man, dass der Versailler Vertrag den deutschen Nationalstaat von 1871 nicht zerstörte. Die größten territorialen Einbußen erlitt nach dem Krieg Großbritannien mit der Unabhängigkeit Irlands. Auch die deutsche Wirtschaftspotenz wurde im Kern nicht zerstört. Alte politische Konkurrenten in Ost- und Ostmitteleuropa wie das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie existierten nicht mehr.
Hat das damals jemand so gesehen?
Der Schuld-Schulden-Komplex verdeckte das, aber viele Diplomaten in Paris wussten um die Schwächen des Vertrages. Sie wollten ihn als Ausgangspunkt sehen und aus dem Völkerbund ein Instrument machen, um die Friedensordnung sukzessive auszubauen. Sie dachten an die Zukunft des Kolonialismus, den Schutz von Minderheitenrechten, an die inneren Bedingungen von Frieden, wozu auch soziale Gerechtigkeit gehörte. Das war alles nicht perfekt, aber es waren wichtige Impulse.
Also führt kein direkter Weg vom „Versailler Friedensdiktat“ zum Zweiten Weltkrieg?
Die Vorstellung, die Friedensordnung sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, mag ich deshalb nicht, weil sie davon entlastet, sich mit anderen wichtigen Faktoren zu beschäftigen, etwa mit der Frage, was die Politiker aus den Möglichkeiten gemacht haben. Die Außenminister Gustav Stresemann und Aristide Briand bewiesen ja wenige Jahre nach der Konfrontation, wie schnell und wie weit eine deutsch-französische Aussöhnung gehen konnte. Wer die Schuld an der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg allein auf die angeblich schlechte Weimarer Verfassung und den Versailler Vertrag schiebt, muss sich nicht mit der politischen Kultur der Zeit beschäftigen, mit der Militarisierung weiter Teile der Gesellschaft, mit dem Parteiensystem, mit der persönlichen Verantwortung etwa von Hindenburg.
Ihr letzter Satz lautet: „Wie es vielleicht gewesen ist: So müsste man beginnen.“ Was meint das?
Der Satz unterstreicht die Relativität der eigenen Perspektive, die immer aus der eigenen Gegenwart kommt – und sich generationell verändert. Ich habe dieses Buch auch geschrieben, um zu verstehen, wo die Wurzeln der aktuellen Multipolarität liegen, der Unübersichtlichkeit der Welt. Dafür ist 1918 – 23 ein echtes Scharnier. Vor allem wollte ich die Offenheit des historischen Moments verteidigen: dass man die Möglichkeit der vielen Entwicklungen ernst nehmen muss, die vergangenen Zukünfte. Wer allein von 1933 und 1939 her zurück auf 1918/19 sieht, verengt diese Offenheit zur Zwischenkriegszeit, verstellt den Blick auf die vielen nicht eingetretenen Wirklichkeiten. Sie gehören aber zum Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen.
Das zwanzigste
Jahrhundert beginnt
und endet
in Brest-Litowsk
„Was in Paris geschah,
löste in Kairo oder
Shanghai unmittelbar
Reaktionen aus.“
„Ich habe dieses Buch auch
geschrieben, um zu verstehen,
wo die Wurzeln der aktuellen
Multipolarität liegen.“
Jörn Leonhard lehrt Geschichte an der Universität Freiburg. Sein Buch über den Ersten Weltkrieg – „Die Büchse der Pandora“ – erschien 2014 und liegt inzwischen in
fünfter Auflage vor.
Foto: Regina Schmeken
Eine Karikatur gegen den Versailler Vertrag, Simplicissimus, 1919: Die Sieger, Wilson, Clemenceau (an der Guillotine) und Lloyd George, lassen Deutschland keine Wahl: „Auch Sie haben noch ein Selbstbestimmungsrecht: Wünschen Sie, daß Ihnen die Taschen vor oder nach dem Tod ausgeleert werden.“
Foto: SZ-Photo/Scherl
Jörn Leonhard:
Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 – 1923. Verlag C.H. Beck, München 2018. 1531 Seiten, 39,95 Euro.
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"Sein Buch über Versailles und die Folgen ist das ganz große Geschichtswerk, das beim Verständnis der Gegenwart hilft (...) Gedanklich schwankt man ständig zwischen den Jahren 1918 bis 1923, die Leonhard behandelt, und der Zeit heute. Weil das so spannend und lehrreich ist: Leonhard lesen."
SPIEGEL, Dirk Kurbjuweit

"Wo immer man es aufschlägt, lässt sich etwas lernen."
Historische Zeitschrift, Marcus M. Payk

"Das eindringliche Plädoyer für die Offenheit von Geschichte gerade im multipolaren Zusammenhang wendet sich streng gegen jede monokausale, national verengte Geschichtsklitterung im Nachhinein und damit unausgesprochen gegen eine politische Instrumentalisierung von Geschichte überhaupt. Das ist die Essenz dieses Spitzenwerks deutscher Globalgeschichtsschreibung."
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Himmelreich

"Niemand erzählt und analysiert (...) detaillierter und klüger als Jörn Leonhard (...) Ein Meilenstein für Checker und Mehr-checken-Woller."
Sächsische Zeitung, Oliver Reinhard

"Leonhard schreibt einen klaren, gut lesbaren Stil, verzichtet auf alle Effekthascherei, überzeugt durch seinen multiperspektivischen Ansatz und differenzierte Analyse. Der Blick auf unsere Welt und ihre Geschichte im 20. Jahrhundert ist nach der Lektüre ein anderer."
Buchbesprechungstage des Börsenvereins, Wolfgang Niess

"Es gibt Standardwerke, um die man gut herumkommt. Um dieses nicht."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Andreas Kilb

"In dieses Zeitreise-Buch kann man sich versenken (...) Ein Standartwerk."
Die Literarische WELT, Marc Reichwein

"Anschaulich und perspektivenreich (...) In seinem großen, Maßstäbe setzenden Buch 'Der überforderte Frieden' erzählt Jörn Leonhard eine Globalgeschichte dieser Zeitenwende."
Süddeutsche Zeitung, Jens Bisky

"Wer Leonhards monumentales Buch liest, sieht schärfer, in welcher Welt wir zu leben haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stephan Speicher
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