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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022
Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt.…mehr

Produktbeschreibung
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.

Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wiralle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.
Autorenporträt
Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr erster Roman »Die Glücklichen« fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Vor »Nebenan« erschien »Eine Liebe, in Gedanken« sowie »Die Glücklichen« im Luchterhand Literaturverlag. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022

Grüße vom Rasenmäher
Mit Katzenbildern gegen die Moderne: Kristine Bilkaus Roman „Nebenan“ ist so offensiv
bieder und kitschig, dass es fast schon wieder etwas Radikales hat
VON HUBERT WINKELS
Vor einigen Jahren wurde ein Buch mit dem schönen Titel „Kunst aufräumen“ populär, gefolgt von dem Spiel „Die Kunst, aufzuräumen“. Die Idee hinter der in Szene gesetzten Ordnungsobsession: die Unübersichtlichkeit in der modernen Kunst, die bekanntlich mit der der modernen Welt korrespondiert, zu reduzieren, indem man ihre Elemente nach bestimmten Eigenschaften, zum Beispiel geometrischen Formen oder Farben neu sortiert. Eine lustig-perfide Polemik gegen Komplexität und Ambivalenz oder eine Selbsthilfemaßnahme gegen dauernde Überforderung.
Man kann Kristine Bilkaus ziemlich übersichtlichen neuen Roman „Nebenan“ in diesem Ordnungssinne lesen. Seine Schauplätze sind ein durch den Nord-Ostseekanal zweigeteiltes Dorf und eine nahe Kreisstadt. Zwei Familien bilden die Schwerpunkte. Ein junges Paar mit starkem Kinderwunsch wohnt erst seit Kurzem in einem gemütlichen Häuschen mit Hund und Garten und ist noch nicht so richtig mit dem Dorfleben vertraut. In einer nicht weniger gemütlichen Stadtwohnung hat sich ein älteres Ehepaar behaglich eingerichtet. Die Kinder sind aus dem Haus, Astrid arbeitet noch als Hausärztin, während der ehemalige Geschichtslehrer Andreas einen Gutteil des Tages im Schlafanzug sein Rentnerdasein genießt.
Die zurückhaltende Erzählerin folgt vor allem den Frauen. Julia auf dem Lande versucht, mit allen Mitteln schwanger zu werden, sie träumt den lieben langen Tag von Kindern, schaut Videos von großem Kinderglück an und wundert sich über das lange leer stehende Nachbarhaus, das immer unheimlicher wird. In der nahen Stadt hat sie eine kleine Galerie für ihre Töpferarbeiten, sie modelliert Teller, Töpfe, und als erfolgreichstes Produkt kleine farbige Bausteine, die man zu Häuschen und anderen Niedlichkeiten zusammensetzen kann.
Astrid auf der anderen Seite hadert ebenfalls mit einem leeren Haus in ihrer Nachbarschaft, in dem einst ihre Freundin Marli lebte, die ihr aber eines Tages den Rücken kehrte und verschwand. Deren Sohn hatte kleine Tiere gequält und getötet, auf dem Höhepunkt der Gemeinheit ein Kaninchen am Hals aufgehängt. Marli war darüber aus der Balance geraten. Astrid mitfühlenderweise auch. Und hier zeigt sich denn auch in diesem seine Figuren taktvoll begleitenden Roman ein kleiner Zipfel des Bösen, um nicht zu sagen das Böse in seiner Zipfelhaftigkeit.
Wie Julia in die Stadt, so kommt Astrid gelegentlich ins Dorf, weil dort ihre alte Tante lebt, die sie einst bei sich aufgenommen hatte. Am Ende des Romans schläft Astrid bei einem Besuch in ihrem alten Kinderzimmer in einem wiedergefundenen Hemd ihrer lange schon verstorbenen Mutter und träumt vom Schwimmen. Und Julia, um bei der Aufgeräumtheit, in diesem Fall der symmetrischen Ordnung zu bleiben, findet schließlich unter Wasser zu einer gleitend-treibenden Vereinigung mit ihrem Ehemann und erhascht einen Zipfel des Liebesglücks, das sie für einen Moment von der zehrenden Kindersehnsucht erlöst.
Nicht nur in der formalen Aufgeräumtheit zeigt der Roman „Nebenan“ seinen häuslich bescheidenen Charakter, auch in Ton, Inhalt und Ambiente. Als Julia einmal eine Tagung in einer fernen Stadt besucht, heißt es: „Alles kam ihr obszön vor. Zwischen den unbeschwerten, entspannten Menschen bestand sie nur noch aus einem Gedanken: Sie wollte nichts von all dem. Sie sehnte sich nach einem kleinen Lebensradius, der so wenig Schaden anrichten würde wie möglich.“
Es ist offensichtlich ein biedermeierliches Lebensgefühl, das die Figuren des Romans suchen oder erzeugen wollen, aber eben auch dieser selbst. Neobiedermeier versteht sich, es gibt Umweltzerstörung, Verwahrlosung, In-vitro-Fertilisation, Aufklärungsdrohnen, am Rande auch CNN und BBC und Youtube-Videos. Aber dennoch stellt sich die Frage nach dem Status dieses konservativen, rückwärtssehnenden Romanbegehrens. Wird die Romanwelt auf still emphatische Weise akquirierend in Szene gesetzt oder wird sie demonstriert, vorgeführt, den Fragen vorgeworfen, dem Zweifel?
Es ist ja nicht so, dass Kristine Bilkau in ihren zwei bisherigen Romanen „Die Glücklichen“ von 2015 und „Die Liebe, in Gedanken“ von 2018 einfach nur Glück und Liebe gefeiert hätte, aber sie hat diese Ideale eben auch nicht dekonstruiert, geschweige zertrümmert. Auf ihre sachlich-bedächtige Art hat sie sich eher der klaren Tendenz entzogen. Hier liegt der wiederum moderne Begriff der Ambivalenz nahe. Ist er angemessen, den Charakter des neuen Romans zu erfassen?
Julia ist in der Kreisstadt, in der Nähe ihrer Ladengalerie und beobachtet den Verfall der Innenstadt: „Wir setzen etwas Belebendes gegen den Leerstand, klebte ein Zettel an einem Fenster. In einem dunklen Raum standen drei Staffeleien mit Ölbildern von Blumensträußen und Katzen, dahinter leere Regale und Gerümpel. Geschäfte, die in Galerien für Hobbymalereien umgewandelt worden waren, darin bestand der Versuch der Belebung. Sie fühlte sich sofort hingezogen zu dieser Stadt.“ Nicht nur hier bemüht Kristine Bilkau offensiv kitschige Einstellungen, geradezu in einer Umkehrung aller Modernität. Die Zerstörung des Überkommenen, der lebenswerten Stadt wie der lebenspendenden Umwelt macht den ästhetischen Eskapismus eines Katzengemäldes zu einem fast schon widerständigen Akt. Zugleich verstößt er so grundlegend gegen alle heutigen ästhetischen Standards, dass man kurz erschrickt – ein genuin moderner Kunsteffekt mithin. Aber reicht das, dem Roman insgesamt eine inszenierte Ambivalenz als Motiv oder als Ziel zuzusprechen?
Leider nicht! Tatsächlich ist der Freiheitsgrad, den er lässt, sein ästhetischer Spielraum dafür zu eng. Kristine Bilkau pflegt in ihren Romanen einen nüchtern beschreibenden Ton. Meist dominieren kurze realitätshaltige Sätze, die ihr symbolisch-metaphorisches Potenzial nicht ausschöpfen. Orte, Landschaften, Gegenstände und ihr Gebrauch werden genau gefasst, aber sie werden nicht gedeutet. Weder die Figuren, denen die personale Erzählerin nahe ist, noch diese selbst vertiefen ihre subjektiven Ansichten. Keine Introspektion, kein semantischer Flow, kein Beziehungsüberfluss auf der sprachlichen Ebene. Alles ist an die Beschreibung verwiesen. Deren sogenannte Präzision hätte dann die Feinstruktur der Welt zu tragen. Hier ist Kristine Bilkau gut geübt, und es gelingen ihr schöne Passagen, in denen komplexere Verhältnisse ganz schlicht erscheinen.
Aber dann wieder traut sie ihrem eigenem Vermögen nicht ausreichend und schmuggelt tautologische Beobachtungen der Beobachtungen in den Fluss der Darstellung. Ein Beispiel gleich vom Anfang: „Ein Containerschiff schiebt sich langsam hinter den Baumkronen und dem Dach der Nachbarn vorbei. Anfangs, als sie erst wenige Tage hier wohnte, war es für sie ein unwirklicher Anblick, den Kanal und das Ufer nicht sehen zu können, selbst von hier oben, aus dem Schlafzimmer nicht, aber eine Schiffsbrücke und die geladenen Container. Stapel bunter Kästen, die gemächlich, wie von allein hinter den Dächern und Bäumen entlangglitten. Im Wochenblatt, das sie manchmal überfliegt, hat sie gelesen, die Leute haben hier früher in der Dämmerung weiße Schiffe durch die Wiesen und Moore schweben sehen, lange bevor der Kanal gebaut und eröffnet wurde. Daran muss sie denken, wenn ein Frachter wie von allein durch die Landschaft fährt.“
Ein schöner Einstieg, den man parabelhaft auffassen kann, aber nicht muss. Der angefügte Satz „Daran muss sie denken …“ ist dann nicht nur überflüssig, sondern erzeugt eben jene alles dämpfende Betulichkeit, die die eigentliche Gefährdung des Romans ausmacht. Kristine Bilkau scheint darum zu wissen und eine Geste des „Trotz alledem“ dagegenzusetzen. Denn ganz in der Logik dieser moralisch-ästhetischen Betulichkeit stehen sämtliche Medienbezüge im Roman. Alle Beteiligten kommunizieren mittels Zetteln, Briefen, persönlicher Flugblätter, poetischer Rätsel, und eine zentrale Rolle spielt eine Fehlleistung der Briefpost, die sich unfreiwillig als Landschaftsgestalterin betätigt: „Dieses Meer aus weißen Flecken, es sieht zu eigenartig aus, Taschentücher, es wirkt, als wären Tausende Papiertaschentücher über das Feld geweht. Oder es ist Papier, Altpapier, das jemand hier entsorgt hat. Die Säcke sind gerissen, und der Wind hat alles verteilt. Jetzt erkennt sie es, unzählige Briefe sind es. Sie hebt einige davon auf, liest die Namen und Adressen, alle aus dieser Gegend.“
Auch ein Zigarettendepot in einem alten Nistkasten dient dem Austausch von Botschaften. Oder das Mähen des Rasens des Nachbarn „von der Terrasse zur Gartenpforte, und von dort weiter zur Hecke, direkt zu der Lücke, durch die ihre beiden Gärten miteinander verbunden sind“. Das ist sie, die auch medial naturwüchsig-innige, geradezu archaische Verbindung von allen mit allen; wohlwollend, kümmernd, bergend. Frauen sind im Wesentlichen die Träger dieser im Kern weltrettenden Sozialität. Die Männer, auch die gutherzigen, setzen Drohnen in Marsch (wenn auch zur Umweltaufklärung) oder lassen sich fesseln vom universellen Strom der World News. Die Frauen, die Mütter besonders, organisieren sorgend die kommunikativen Nahverhältnisse. Und sei es mit dem Rasenmäher. Nebenan.
Sie sehnte sich nach einem
kleinen Lebensradius,
der wenig Schaden anrichtet
Frauen sind hier die Träger
einer im Kern
weltrettenden Sozialität
Tom Lamberty leitet den legendären Merve Verlag. Dort veröffentlicht er unbeirrt kulturkritische Texte,
als sei der „lange Sommer der Theorie“, wie der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch die drei Jahrzehnte ab 1960 einmal genannt hat, nie zu Ende gegangen. Seit 2017 hat der Verlag seinen Sitz in Leipzig.

Kristine Bilkau:
Nebenan. Roman.
Luchterhand,
München 2022.
289 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensentin Judith von Sternburg erscheint das von Unheimlichkeiten geprägte Dorf- und Stadtleben in Kristine Bilkaus neuem Roman "Nebenan" realitätsnah. Die Autorin lässt zwei Protagonistinnen, die knapp 60-jährige Ärztin Astrid und die Kunsthistorikerin Julia mit unerfülltem Kinderwunsch abwechselnd von ihrem Leben, ihren Gefühlen und Erlebnissen innerhalb dieses teilweise an Ingrid Nolls Krimis erinnernden Umfelds berichten, erklärt Sternburg. Das gelingt Bilkau ausgezeichnet, meint die Rezensentin, denn obwohl hier nicht viel ausformuliert wird, bleibt der Ton im Buch stets warm und doch lakonisch - und wird durch die beiläufige Erzählart an keiner Stelle überwältigend. Die Platzierung dieses Romans auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises ist damit auch eine schöne Entscheidung für "feinen Realismus", schließt die Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2022

Das Weite suchen

Provinzgeschehen, von Städtern besehen: Kristine Bilkaus Roman "Nebenan" bestätigt den Trend zur Dorfliteratur, die sich durch ein beiläufig-unspektakuläres Erzählen auszeichnet. Hat gerade das auch seinen Reiz?

Der Dorfroman hat seinen Bestand gegenläufig zum Bestand der Dorfbevölkerung solide vermehrt. Es gibt derzeit so viele Dorfromane, dass man schon von einer poetischen Aufforstung ganzer Landstriche sprechen kann. Fast immer begegnen einem darin zu Dörflern gewordene Städter, die in einen Kosmos aus inneren Problemen des Städters und äußeren Problemen des Dorfs hineinführen. Es sind die Themen der Zugezogenen (Sinnsuche, Nachhaltigkeit, Rückzug), die sich den Problemen der Dagebliebenen (Leerstand, Arbeitslosigkeit, Wegzug) aufpfropfen - oder die sich in denen des Dorfs spiegeln. Die Widersprüchlichkeit der städtischen Wünsche bringt die Sache dabei zum Vibrieren. Das Weite suchen und die Enge finden! Sich losreißen und nach Wurzeln graben! Einerseits. Andererseits. Der Dorfroman lebt vom inneren Zwist.

Autoren, die uns zuletzt das Dorf auf diese Weise nahegebracht haben, sind: Angelika Klüssendorf, Juli Zeh, Christoph Peters, Jan Brandt, Kerstin Preiwuß, Lola Randl, Lisa Kreißler, Judith Hermann, Sasa Stanisic, Verena Güntner. Nun hat Kristine Bilkau dem einen Roman hinzugefügt. Sie hat ihn "Nebenan" genannt. So lapidar, wie auch Judith Hermann ihren Roman von 2021 "Daheim" genannt hatte. Juli Zehs Dorfroman aus dem gleichen Jahr hieß "Über Menschen", Jan Brandts Roman über sein ostfriesisches Heimatdorf einfallslos "Ein Haus auf dem Land". Man merkt schon an der Titelwahl, dass man es hier mit den Kapriolen der Phantasie, den Ornamenten der Sprache und überhaupt mit dem ganzen Originalitätszwang des städtischen Beobachters eher sachte angehen lassen möchte.

So ist es auch in "Nebenan" - einem Roman aus dem Schleswig-Holsteinischen, der sich zu seinen existenziellen Sujets wie die reinste Nebensache verhält. Will heißen: Alles bleibt angedeutet, vage, atmosphärisch. Passiert etwas, wird es nicht groß ausgeschmückt. Gerade darin liegt aber der Schlüssel zur Pointe.

Gleich zu Beginn wird die Ärztin Astrid, die in der nah gelegenen Kreisstadt seit Jahrzehnten eine Praxis betreibt, zu einem Einsatz gerufen. Eine tote Frau liegt in der Badewanne. Ihr Mann, der unten fernsah, bemerkt ihr Fehlen erst Stunden später und verständigt die Polizei. Astrid findet Quetschungen an den Handgelenken der Frau. Vielleicht eine Familientragödie, wie es immer so schön in den Nachrichten heißt? Wir erfahren es nicht. Aber die Tote und ihr Mann werden uns noch öfter heimsuchen in diesem Buch. In Gestalt von Drohbriefen, die Astrid seit einiger Zeit erhält. Vom Mann der Toten?

Kristine Bilkau legt viele Fährten in "Nebenan". Man folgt ihnen ein bisschen, verliert die Spur, schaut auf etwas anders, schaut wieder weg auf etwas Neues. Der Text spielt mit dem dramatischen Potential der Dinge, ohne es auszuschöpfen. Gerade dadurch weckt er unser Interesse. Doch kann er es auf Dauer auch wachhalten?

In "Nebenan" erzählt Bilkau abwechselnd aus dem Leben der einheimischen Astrid und der zugezogenen Julia, die eine kleine Töpferei betreibt. Die eine ist dreifache Mutter kurz vor der Rente, die andere mitten in der Kinderwunschbehandlung. Beide Frauen sind verheiratet. Astrid mit dem pensionierten Lehrer Andreas: "Sie hat keine Ahnung, wie viele Stunden er mit BBC, CNN und den Bundestagsdebatten auf Phoenix verbringt. An manchen Tagen vier bis fünf, nein wahrscheinlich sogar das Pensum eines ganzen Arbeitstages." Julia ist verheiratet mit dem Umweltschützer Chris: "Wenn es okay ist, würde ich kurz ins Institut fahren, von da kann ich die Drohne holen und hier Aufnahmen machen, bevor sich das Wetter vielleicht wieder verschlechtert."

Wir erfahren noch einiges über das Innenleben von Julia, die sich mit dem Glück, ihren Lebensmenschen längst gefunden zu haben, nicht abfinden kann und deshalb wie besessen Onlineforen zum Thema künstliche Befruchtung besucht. Gut ist Bilkau in ihren niederkartätschenden Beschreibungen. Etwa, wenn sie die Autoabstinenzler Julia und Chris eines Tages einen Wagen mieten lässt, um in die Kinderwunschklinik zu fahren: "Es ist ihr unangenehm, vor sich selbst, aber es gefällt ihr, mit Chris in diesem großen, nagelneuen Wagen über die Autobahn zu fahren. Wie ein Paar, das den Besitz eines Kombis, die jährliche Flugreise auf eine sonnige Insel und den Kurzurlaub nach London, Stockholm oder Barcelona mit Billigflieger für sich als Normalität beansprucht." Natürlich ist das "ein Paar, das auf der Rückbank Kinder sitzen hat, zwei, im Altersabstand von zwei Jahren".

Und wir erfahren einiges über Astrid, die das leer stehende Nachbarhaus beobachtet, das ihrer einstigen Freundin Marli gehört. Die hatte nicht mehr mit Astrid befreundet sein wollen, nachdem herausgekommen war, dass ihr Sohn einen Igel angezündet und einen Hasen aufgehängt hatte. Jetzt ist Marli zurück. Die Kontaktaufnahme läuft über einen Brutkasten hinter dem Schuppen, in dem die Zigaretten liegen. Damals wie heute.

Kristine Bilkau erzählt in jedem Ding, das sie andeutet, noch zahllose andere Geschichten mit. Nicht nur die von der Frau mit den Quetschmalen oder vom sadistischen Nachbarssohn. Es gibt noch ein zweites Geisterhaus. Die Nachbarn von Julia und Chris scheinen von einem Tag auf den anderen verschollen zu sein. Eine Kinderzeichnung unter einem Kühlschrankmagneten und ein bisschen dreckiges Geschirr haben sie zurückgelassen. In den Nachrichten ist von einer Frau die Rede, die sich mit ihren Kindern in die Wälder zurückgezogen habe, um einem Sorgerechtsstreit aus dem Weg zu gehen. Handelt es sich um dieselben Leute?

Als schließlich noch Astrids alte Tante Elsa von einem Toten phantasiert, der im Garten verscharrt sein soll, wird dieses idyllische Fleckchen endgültig zu einem Hort des Unheimlichen. Und den präsentiert Kristine Bilkau in seiner Janusköpfigkeit gut.

Dennoch geht von diesem Buch, das den Horror nur ganz leicht ins Bild tupft und es im Grunde auch immer gar nicht gewesen sein will, auch eine gediegene Langeweile aus. Vielleicht soll das so sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Folgenlosigkeit der vielen Indizien, die im Roman herumliegen, am Ende unbefriedigend ist: Die Dinge können eine tiefere Bedeutung haben oder eben nicht. Alles kann entsetzlich abgründig sein oder sich in Wohlgefallen auflösen. Ein Dorfroman halt, wie er nur von Autoren aus der Stadt geschrieben werden kann. KATHARINA TEUTSCH

Kristine Bilkau: "Nebenan". Roman.

Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 288 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Was für ein feines Buch! Es entspinnt sich um ein verlassenes Haus in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal und entfaltet einen so einnehmenden Sog, dass es man es vermisst, sobald man es aus der Hand legt.« Daniel Schreiber