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Bis heute gilt Deutschland als gelobtes Land der Musik. Herausragende Komponisten, gefeierte Interpreten und berühmte Orchester üben international eine große Anziehungskraft aus. Auf ihnen ruht zugleich das Selbstverständnis der Deutschen als einer besonders musikalischen Kulturnation. Das Fundament dieser Reputation bildeten seit dem 19. Jahrhundert Musiker und Musikerinnen in ihrer breiten Masse. Sie saßen in Orchestergräben oder spielten in Ensembles zum Tanz auf, gaben mit der Militärkapelle ein Gartenkonzert oder sorgten im Stummfilmkino für die musikalische Untermalung. Martin Rempe…mehr

Produktbeschreibung
Bis heute gilt Deutschland als gelobtes Land der Musik. Herausragende Komponisten, gefeierte Interpreten und berühmte Orchester üben international eine große Anziehungskraft aus. Auf ihnen ruht zugleich das Selbstverständnis der Deutschen als einer besonders musikalischen Kulturnation. Das Fundament dieser Reputation bildeten seit dem 19. Jahrhundert Musiker und Musikerinnen in ihrer breiten Masse. Sie saßen in Orchestergräben oder spielten in Ensembles zum Tanz auf, gaben mit der Militärkapelle ein Gartenkonzert oder sorgten im Stummfilmkino für die musikalische Untermalung. Martin Rempe spürt ihren Lebens- und Arbeitswelten zwischen Kunst, Spiel und Arbeit nach. Mit dem detaillierten Porträt der Berufsgruppe in ihrem Streben nach sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung wird erstmals eine Musikgeschichte >von unten< vorgelegt, die das deutsche Musikleben im 19. und 20. Jahrhundert in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Autorenporträt
PD Dr. Martin Rempe ist Historiker und Privatdozent an der Universität Konstanz. Er forscht, lehrt und schreibt zur deutschen, europäischen und afrikanischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2021

Wie die Kunst zur Arbeit wurde

Zur Vorgeschichte sehr gegenwärtiger Nöte: Martin Rempe legt eine brillant gearbeitete Kulturgeschichte des Musikerberufs vor.

Der deutsche Musikliebhaber, auch in der Gegenwart, verhält sich, wo es um den Zustand von Oper und Konzert geht, noch immer so weltflüchtig wie Hermann Hesses zu alt gewordener Literat, der "aufs neunzehnte Jahrhundert wie auf ein Paradies" zurückblickt. Der Historiker Martin Rempe setzt mit seiner brillanten, oft kurzweilig zu lesenden Studie über "Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960" zum Frontalangriff an auf diese Chimäre eines "Früher war alles besser".

Dem verklärenden Blick, den Thomas Nipperdey in seiner "Deutschen Geschichte" noch 1990 auf das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts warf, begegnet er mit der nüchternen Analyse von Werner Sombart aus dem Jahr 1911. Das Schwergewicht des Musiklebens zur vermeintlich goldenen Zeit von Johannes Brahms und Richard Strauss lag mitnichten in einer dem Markt entzogenen Sphäre von Haus- und Vereinsmusik. Vielmehr war es schon damals völlig durchkommerzialisiert: Komposition, Arrangement, Vertrieb und Reproduktion trugen die Züge einer Industrie. Die Veranstalter, so Sombart, arbeiteten "mit dem ganzen Hochdruck kapitalistischen Profitstrebens", um an musikalischen Leistungen das Maximum herauszubringen.

Seltsamerweise hat sich das antikapitalistische Idyll einer Musik, für welche die Marktbedingungen ohne Belang seien, als unglaublich haltbar erwiesen. Für eine Sozialgeschichte von Musik als Arbeit habe sich die Musikwissenschaft, zentriert auf Werkanalyse, Gattungs- und Ideengeschichte, wenig interessiert, konstatiert Rempe. Diese Sozialgeschichte sei, wenn überhaupt, von Kameralisten und Ökonomen geschrieben worden. Sein eigenes Buch ist nun der große, materialreiche Versuch, auf diesem Feld systematisch und zugleich historisierend zu arbeiten.

Die Leitbegriffe der Untersuchung stehen im Titel: Kunst, Spiel und Arbeit. Mag Kunst wie das Spiel zweckfreier Zeitvertreib sein, so wird ihr ein Ernst zugesprochen, dem man dem Spiel nicht zugesteht. Arbeit ist von beiden geschieden als zielstrebige Anstrengung, die ihren Zweck außerhalb ihrer selbst hat. Rempe beschreibt in seinem Buch den langen Weg der Anerkennung von Musik als Arbeit, deren Wertermittlung dem Markt, aber auch politischer Regulierung unterliegt. Zuallererst mussten Musiker selbst definieren, ob sie Künstler oder Arbeiter sein wollten. Noch für das Kaiserreich schildert Rempe die Debatte, ob Orchestermusiker Gewerbetreibende seien oder nicht. Die Gewerbeordnung hätte sie vor Nacht- und Feiertagsarbeit geschützt, ihnen Ruhezeiten, Rechtsschutz, Sozial- und Krankenversicherung verschafft, sie aber auch mit Maurern und dem Industrieproletariat gleichgesetzt. Die Rechtsfigur des "höheren Interesses der Kunst" gestattete es hingegen Veranstaltern, die Einhaltung von Ruhezeiten und die Sozialversicherungspflicht zu umgehen.

Neben diesem kulturgeschichtlichen Prozess stehen mehrere strukturgeschichtliche, vor allem jener der organisierten Interessenvertretung. Es dauerte lange, bis die Musiker in Deutschland sich zu einem Berufsstand zusammenfanden. Komponisten arbeiteten gegen die Orchestermusiker, Orchestermusiker gegen Militärmusiker, alle zusammen gegen die Lehrer. Obwohl es den Orchestermusikern schon bei ersten Vereinsgründungen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts darum gegangen war, Kranken-, Renten- und Sterbegeldversicherungen zu organisieren, dauerte es bis 1927, dass Musiker erstmals Zugang zur Arbeitslosenversicherung bekamen; erst 1928 wurden sie als Berechtigte der Unfallversicherung anerkannt.

Frauen gestand man ohnehin nur die Betätigung im Spiel und in der Lehre zu. Ihr Tun wurde bestenfalls als Arbeit, aber nicht als Kunst anerkannt. Rempes schreiberischer Humor, der das gesamte Buch durchzieht, blitzt auf, wenn er über die Gehaltsordnung für Musiker beim Nordischen Rundfunk Hamburg im Jahr 1927 schreibt: "Verheiratete Männer erhielten eine Frauenzulage von 12, Eltern eine Kinderzulage von 20 Reichsmark. Eine Herrenzulage für Frauen gab es, soweit ersichtlich, dagegen nicht." In der Teilhabe von Frauen am musikalischen Berufsleben schneidet Deutschland miserabel ab. Weder die Weimarer Republik noch die Gründung der Bundesrepublik beschleunigten den Emanzipationsprozess wesentlich. Die Amerikanerin Amy Fay erlebte das gelobte "Land der Musik" schon 1869 in dieser Frage als extrem rückschrittlich im Vergleich zu den Vereinigten Staaten.

Nun haben wir es in dem beschriebenen Zeitraum nicht nur mit einer Kapitalisierung von Kunst als Arbeit zu tun. Vielmehr treten Kunst, Spiel und Arbeit miteinander in ein Wechselspiel. Besonders in der Weimarer Republik werden "Ernst, Innerlichkeit und Tiefe der deutschen Musik" zur Argumentationsfigur des orchesterpolitischen Lobbyismus. Die Pflege der deutschen Orchesterlandschaft wurde zur patriotischen Pflicht erklärt, weil man sie - wie 1945 Thomas Mann das deutsche Lied - als einzigartig, unvergleichlich und als Selbstausdruck des deutschen Wesens begriff. Orchesterförderung galt als Prestigeprojekt der Kommunalpolitik. Die Zahl subventionierter Orchester stieg von 1920 bis 1929 von 47 auf 96.

Der Nationalsozialismus steht hinsichtlich der Orchesterförderung in ideologischer wie kulturpolitischer Kontinuität zur Weimarer Republik. Mit der Gründung der Reichsmusikkammer gab es zum ersten Mal eine berufsständische Einigung der Musiker. Die Kammer setzte den reformpolitischen Kurs der Musikergewerkschaften aus der Weimarer Zeit fort, verteilte die Errungenschaften aber nach rassisch begründeten Vorgaben. So war die Kulturpolitik des NS-Staates links und rechts zugleich, eben sozialistisch, aber völkisch. Mit der Definition der "Kulturorchester" und der Festlegung einer Tarifordnung im Jahr 1938 lieferte der NS-Staat das Gerüst einer Orchesterförderung, die bis heute in ihren Grundzügen Bestand hat.

Kapitel über Musiker als soziale Gewinner des Ersten Weltkriegs und über das Musizieren in Konzentrations-, Arbeits- und Kriegsgefangenenlagern während des Zweiten Weltkriegs mögen episodischen Charakter haben, sind aber jeweils hoch interessant. Die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik umfassen dann die Gründung des Deutschen Bühnenvereins und der Deutschen Orchestervereinigung, deren Interessenvertretung eine Verfestigung des Gegensatzes zwischen Festangestellten und sogenannt unständig, also unregelmäßig Beschäftigten bewirkte, der sich in der Corona-Krise besonders schmerzhaft spüren lässt.

Rempe beschreibt in seinem Buch, wie sich in Deutschland der kapitalistische Leistungsgedanke mit dem bildungsbürgerlichen Kunstdiskurs verknüpfte. Im Ergebnis steht die Professionalisierung des Musikerberufs als "ernste Beschäftigung". Es ist das freie Spiel, das auf der Strecke bleibt. Der gesellschaftliche Konsens, der lange galt, lief auf die Gleichung von hoher Kunst und sicherer Arbeit hinaus. Ob dies so bleiben wird? Wie kein zweites liefert dieses Buch die Vorgeschichte zu gegenwärtigen Nöten der Musiker und zeigt bereits die ideologischen Frontlinien künftiger Verteilungskämpfe auf.

JAN BRACHMANN

Martin Rempe:

"Kunst, Spiel, Arbeit".

Musikerleben in Deutschland 1850 bis 1960.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2020.

400 S., Abb., geb., 49,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Früher war keineswegs alles besser, auch im Beruf des Musikerberufs nicht, lernt Rezensent Jan Brachmann in diesem Buch des Historikers Martin Rempe. In dieser, wie der Kritiker findet, so sachlichen wie unterhaltsamen, schlicht "brillanten" Kulturgeschichte liest er unter anderem nach, wie durchkommerzialisiert das Musikleben bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war: Komposition, Arrangement, Vertrieb und Reproduktion glichen einer Industrie, zugleich musste die Musik dafür kämpfen, als Arbeit anerkannt zu werden: So erhielten Musiker beispielsweise erst 1927 Zugang zur Arbeitslosenversicherung, erfährt Brachmann. Mit großem Interesse liest der Rezensent hier auch von den ideologischen und kulturpolitischen Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus hinsichtlich der Orchesterförderung. Und wenn Brachmann bei jenen Kapiteln angekommen ist, die die Festigung des Gegensatzes zwischen Festangestellten und unständigen Musikern beschreiben, attestiert er dem Buch mit Blick auf die Coronakrise auch große Aktualität.

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