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Mit der einsetzenden nationalsozialistischen Rassenpolitik fiel den Kirchen eine neue Bedeutung zu: sie verwalteten mit den Kirchenbüchern wesentliche bevölkerungsgeschichtliche Personendaten, die für die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen "Ariern" und "Nichtariern" relevant waren. Staats- und Parteistellen verlangten "Amtshilfe": die Auslieferung dieser Daten. Und die Kirchen kamen dieser Forderung - meist sehr bereitwillig - nach. In vielen Fällen leisteten kirchliche Mitarbeiter (Pfarrer, Kirchenbeamte u.a.) aktive Beiträge zur NS-Sippenforschung. Nicht selten entstanden…mehr

Produktbeschreibung
Mit der einsetzenden nationalsozialistischen Rassenpolitik fiel den Kirchen eine neue Bedeutung zu: sie verwalteten mit den Kirchenbüchern wesentliche bevölkerungsgeschichtliche Personendaten, die für die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen "Ariern" und "Nichtariern" relevant waren. Staats- und Parteistellen verlangten "Amtshilfe": die Auslieferung dieser Daten. Und die Kirchen kamen dieser Forderung - meist sehr bereitwillig - nach. In vielen Fällen leisteten kirchliche Mitarbeiter (Pfarrer, Kirchenbeamte u.a.) aktive Beiträge zur NS-Sippenforschung. Nicht selten entstanden besondere Kirchenbuchstellen, die rassistisch motivierte Forschung betrieben und die Resultate an staatliche Behörden und Parteistellen weiter reichten.In fünf Regionalstudien berichtet dieser Band über unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit von evangelischen Landeskirchen und Dienststellen von NS-Staat und NSDAP auf dem Gebiet der Urkundenausstellung für den "Ariernachweis". Zugleich wird gezeigt, wie mit diesem brisanten Thema in der Nachkriegszeit verfahren wurde.
Autorenporträt
Prof. Dr. Hans Otteist seit 1981 Direktor des Landeskirchlichen Archivs Hannover und lehrt niedersächsische Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2008

Ein Pfarrer als Sippenforscher
Kirchenbücher und die nationalsozialistische Judenverfolgung

Titel und Untertitel des Buches erwecken den Eindruck, dass die Kirchen insgesamt den Nationalsozialisten bei der Judenverfolgung geholfen hätten, wobei letzterer Begriff den heutigen Leser unwillkürlich an den Massenmord denken lässt. Auch die Einleitung von Manfred Gailus, der zuvor den seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Nationalprotestantismus sowie daraus entstandene nationalsozialistische Bastionen in der evangelischen Kirche Berlins erforscht hat, enthält manche pauschale Urteile. Dabei bedarf das Thema des Bandes im engeren Sinne - die Erteilung von Auskünften aus kirchlichen Archiven zu Personen- und Familienstand, welche die seit NS-Gesetzen von 1933 und 1935 geforderten Ariernachweise ermöglichten oder nicht - differenzierender Darstellung, wie sie in den einzelnen Beiträgen erfolgt.

Aber vorweg wäre mitzuteilen, dass die Kirchen für die Zeit vor der Einführung der obligatorischen Zivilehe in Deutschland (1875) zu solchen Auskünften aus ihren Quellen verpflichtet waren; und es wäre darzustellen, dass sie auf den Rassismus, welcher ebenfalls seit dem späten 19. Jahrhundert erstarkt war und dem NS-Postulat der Unterteilung der Bevölkerung in "Deutschblütige" und "Fremdblütige" zugrunde lag, sehr unterschiedlich reagiert haben. Die katholische Kirche hat ihn verworfen und darum auch aus ihren Archiven, so weit wir bis heute wissen, nur solche Auskünfte erteilt, die unvermeidlich waren; und auch die drei respektive vier "intakt" gebliebenen evangelischen Landeskirchen und viele Bekenntnispfarrer haben zurückhaltend reagiert.

Dass dagegen die meisten evangelischen Landeskirchen Nord- und Mitteldeutschlands mehrheitlich dem Nationalsozialismus verfallen waren und seit 1933 von "Deutschen Christen" geleitet wurden, teils sogar eigene "Arierparagraphen" einführten, ist seit langem bekannt, wird allerdings bei Diskussionen über die Mentalitätsgeschichte Mitteldeutschlands gern verschwiegen. Auch darum ist es sehr zu begrüßen, dass hier aus einigen dieser Kirchen zum ersten mal die Archivpraxis während des "Dritten Reiches" anhand der Quellen dargestellt wird. Gailus selbst tut das für Berlin, Stephan Linck für Schleswig-Holstein, Johann Peter Wurm für Mecklenburg, Hannelore Schneider für Thüringen und Hans Otte für Hannover. Dort ging man einigermaßen pragmatisch vor, doch in den anderen genannten Landeskirchen arbeitete man eng und gern mit den nationalsozialistischen Sippenforschern zusammen. "Die Kirche dient der Sippe", hieß es in einer Werbeschrift der schleswig-holsteinischen Landeskirche (1939); und der die Kirchenbuchstelle Alt-Berlins leitende Pfarrer Karl Themel hatte schon 1933 das Judentum für die Gottlosigkeit verantwortlich gemacht und die evangelischen Gemeinden aufgefordert, "Zellen der Gesundung im kranken Volkskörper" zu werden. In diesem Sinne benutzten er und seine Kollegen die Kirchenbücher, sie halfen aktiv bei der Emargination von Christen jüdischer Herkunft. Auf nationalprotestantische Kontinuitäten verweist Gailus auch in seinem abschließenden Beitrag über den aus einem evangelischen Pfarrhaus der Pfalz stammenden Leiter der NS-Reichsstelle für Sippenforschung, Kurt Mayer, während der Aufsatz von Frau Schneider auch Gegner der völkischen Radikalisierung aufweist, darunter bereits den 1914 verstorbenen und als Mäzen bekannten Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen. 1945 mussten die "Deutschen Christen" in den Kirchenleitungen Bekenntnispfarrern weichen, welche bekanntlich eine neue Verkirchlichung und die radikale Abkehr von früheren Positionen eingeleitet haben. Aber über die Zusammenarbeit mit der NS-Sippenforschung und deren Konsequenzen wurde noch lange geschwiegen.

RUDOLF LILL

Manfred Gailus (Herausgeber): Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im "Dritten Reich". Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 223 S., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2009

Korrekte Auskunft
Wie Kirchenbücher für den Ariernachweis missbraucht wurden
Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 gestand die Evangelische Kirche ein, sie habe nicht genug gegen die Verfolgung der Juden getan. Ausgeblendet hat sie dabei, dass sie selbst aktiv an deren Ausgrenzung beteiligt war. Das zumindest legt ein vom Berliner Kirchenhistoriker Manfred Gailus herausgegebener Band zur Kirchlichen Amtshilfe bei der Ausstellung von Ariernachweisen nahe.
Für den Wahn einer rassereinen Volksgemeinschaft benötigten Millionen Deutsche einen Nachweis über ihre „arische” Abstammung. Möglich war dies nur über Auszüge aus den Kirchenbüchern. Für das „böse Spiel von völkischer Inklusion und Exklusion” (Gailus) hatten die Kirchen als Eigentümer dieser Quellen den entscheidenden Schlüssel in der Hand. Anhand von Fallbeispielen zu ausgewählten Landeskirchen machen die Autoren deutlich, wie dieser „Kampf um das Kirchenbuch” konkret aussah. Das ernüchternde Fazit: In nur wenigen Fällen haben Pfarrer die Herausgabe brisanter Informationen verweigert. Selbst die Gemeinden der Bekennenden Kirche, die grundsätzlich den Arierparagraphen ablehnte, haben einem protestantischen „Beamtenethos” folgend, korrekte Angaben gemacht. Erst durch diese Kenntlichmachung war es den Nazis schließlich möglich, über die etwa 500 000 „Glaubensjuden” hinaus Arier von Nichtariern zu scheiden. Zu ihnen zählten Christen jüdischer Herkunft ebenso wie „Mischlinge”. Zu Recht spricht der Herausgeber von einer „Christenverfolgung innerhalb der Kirche”.
Über das zum Teil willfährige Entgegenkommen bei der Ausstellung von Ariernachweisen hinaus gab es eigene kirchliche Sippenforschung in beträchtlichem Ausmaß. Johann Peter Wurm zeigt am Beispiel der „Mecklenburgischen Sippenkanzlei” eindrücklich, wohin die obsessive Sippenforschung eines deutsch-völkischen Pfarrers führen konnte. Auf Initiative des Pastors Edmund Albrecht wurde in Schwerin eine zentrale Sammelstelle für alle Kirchenbücher der Region eingerichtet.
Ähnliche Fälle auf Gemeindeebene lassen sich auch andernorts finden. Besondere Aufmerksamkeit widmet Gailus dem Berliner Sozialpfarrer Karl Themel. Dieser richtete eine „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin” ein. Ziel war es, über die „rassische” Zusammensetzung der Bevölkerung in der Reichshauptstadt Bescheid zu wissen, wozu eine regelrechte „Verkartung” aller Berliner Kirchenbücher seit 1775 durchgeführt werden sollte. In seinem Eifer wusste sich Themel mit dem Chef der Reichsstelle für Sippenforschung (RfS), Kurt Mayer, einig.
Überzeugend werden von Gailus die engen Verflechtungen zwischen völkisch-nationalen Pfarrern und Mayers Ministerium offengelegt. Die biografische Skizze zu „Sippen-Mayer”, wie der Genealoge von SS-Kollegen genannt wurde, zeigt zudem das Entwicklungspotential eines aus einer pietistischen Pfarrerfamilie stammenden Historikers zu einem der gefürchtetsten NS-Rassenpolitiker. Die Beiträge handeln aber auch vom Ausbleiben der innerkichlichen Beschäftigung mit dem unbequemen Thema nach 1945. So konnte der Pfarrer Themel bis 1970 unbehelligt für das kirchliche Archivwesen wirken.
Der kleine Sammelband versteht sich weniger als Überblick einer zu dieser Problematik erst seit etwa 15 Jahren intensiv betriebenen Forschung. Man kann die spannend zu lesenden Beiträge eher als Anregung für weitere, von den Autoren als dringend notwendig erachtete Studien verstehen. Hierin liegt zugleich der einzige Schwachpunkt des Buches: Es bietet nur eine kleine Auswahl, namhafte evangelische Landeskirchen wie die Württembergische fehlen. Und völlig ausgeklammert wurde die Katholische Kirche. Eine den „Deutschen Christen” vergleichbare protestantisch-völkische Bewegung kannte sie zwar nicht. Bei der Ausstellung von Ariernachweisen dürfte sie indes kaum nachsichtiger gewesen sein. CARSTEN DIPPEL
MANFRED GAILUS (Hrsg.): Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich”. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 223 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Erst seit 15 Jahren wird intensiv über die Rolle der Kirche bei der Ausstellung von Ariernachweisen im Nationalsozialismus geforscht, berichtet Rezensent Carsten Dippel. Und deswegen könne der vom Berliner Kirchenhistoriker Manfred Gailus herausgegebene Sammelband zu diesem Thema noch keinen Überblick leisten, sondern nur Anregungen für weitere Forschungen geben. Die entscheidende Quelle für die von den Bürgern geforderten Abstammungsnachweise waren die im Eigentum der Landeskirchen befindlichen Kirchenbücher. Die "spannend zu lesenden" Fallstudien zeigen, so Dippel, dass abgesehen von wenigen Fällen der Informationsverweigerung in der Regel die hier ausschließlich untersuchten evangelischen Kirchen Amtshilfe geleistet haben, was etwa die Verfolgung von Christen jüdischer Herkunft zur Folge hatte. Das Verhaltensspektrum reiche dabei von der Herausgabe "korrekter Angaben" trotz Ablehnung des Arierparagrafen (etwa bei der Bekennenden Kirche) über "willfähriges Entgegenkommen" bis hin zu Fällen von Eigeniniative einzelner Pfarrer bei der Zusammenarbeit mit der verantwortlichen "Reichsstelle für Sippenforschung". Dippel zeigt sich sehr angetan von diesem Forschungsband und vermutet schon mal vorab, dass sich die hier nicht untersuchte katholische Kirche ähnlich verhalten haben dürfte.

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