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Lewis Grassic Gibbon, der bürgerlich James Leslie Mitchell hieß (1901-1935), hat sich ganz besonders mit der Hauptfigur Chris so tief in die Herzen seiner Leser eingeschrieben, dass sie »Lied vom Abendrot« bis heute immer wieder zum größten schottischen Roman aller Zeiten wählen. Erzählt wird die Geschichte von Chris Guthrie, die unter ihrem strengen Vater leidet. Sie darf das College besuchen, bis die Mutter stirbt und Chris auf den Hof zurückkehren muss. Nach dem plötzlichen Tod auch des Vaters führt Chris jedoch nicht ihr Studium weiter fort, sondern verschreibt sich ganz dem kleinen…mehr

Produktbeschreibung
Lewis Grassic Gibbon, der bürgerlich James Leslie Mitchell hieß (1901-1935), hat sich ganz besonders mit der Hauptfigur Chris so tief in die Herzen seiner Leser eingeschrieben, dass sie »Lied vom Abendrot« bis heute immer wieder zum größten schottischen Roman aller Zeiten wählen. Erzählt wird die Geschichte von Chris Guthrie, die unter ihrem strengen Vater leidet. Sie darf das College besuchen, bis die Mutter stirbt und Chris auf den Hof zurückkehren muss. Nach dem plötzlichen Tod auch des Vaters führt Chris jedoch nicht ihr Studium weiter fort, sondern verschreibt sich ganz dem kleinen elterlichen Anwesen am Fuße der rauen Mearns. Ihr Leben bleibt geprägt vom Konflikt zwischen der »englischen Chris« der Bildung und der »Kinraddier Chris« mit ihrer Liebe zur regionalen Sprache und Landschaft. Das belastet auch die junge Ehe mit dem Landarbeiter Ewan, bis der Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Leben der ganzen Gemeinschaft unwiderruflich verändert.Was »Lied vom Abendrot« neben dieser mitreißenden Geschichte zu einem Ereignis macht, sind die Sprachkraft und vor allem Sprachmelodie Gibbons. Wie ein nie versiegendes, vom Lauf der Jahreszeiten in Gang gehaltenes Lied bringt der Ton der Erzählung Menschen, Natur und Landschaft zum Klingen. Die Welt - mit ihren alltäglichen Mühen und ihrer Sprödigkeit - besitzt eine Schönheit, die nur Lewis Grassic Gibbon einzufangen in der Lage ist. Und Esther Kinsky, die eine deutsche Sprache gefunden hat, die »Lied vom Abendrot« in seinem vielgestaltigen, tiefen Reichtum und seiner Zuneigung zu den Menschen uns deutschen Lesern zugänglich macht.
Autorenporträt
Lewis Grassic Gibbon (1901-1935) wurde unter seinem bürgerlichen Namen James Leslie Mitchell in der Nähe von Auchterless, Aberdeenshire, in Schottland als Sohn eines Kätners geboren. Schon im Alter von sechzehn Jahren verließ er die höhere Schule und arbeitete als Journalist. Gleichzeitig beteiligte er sich schon damals an der Gründung des Aberdeener Sowjets, der sich in Anlehnung an die Russische Revolution bildete. Nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle ging er zuerst nach Glasgow, trat jedoch kurz darauf in die Armee ein. Als kleiner Verwaltungsangestellter bei den Militärbehörden war er im Nahen Osten, Indien und Ägypten stationiert. In dieser Zeit begann er, Kurzgeschichten, Romane und Bücher über Entdeckungen und Entdecker zu schreiben. Nach der Entlassung aus der Armee 1929 ließ er sich als freiberuflicher Autor in Welwyn Garden City, dem zweiten »Gartenstadtprojekt« Englands, nieder und engagierte sich publizistisch in der politischen Linken. Er veröffentlichte bis zu seinem Tod 1935 zahlreiche Artikel und Bücher. 2016 erschien im Guggolz Verlag »Szenen aus Schottland«, eine Sammlung von Essays und Erzählungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2018

Bevor der Vorhang fällt, ertönt der Dudelsack
Das Lieblingsbuch der Schotten: Lewis Grassic Gibbons großer Roman "Lied vom Abendrot", von Esther Kinsky neu übersetzt

Wer aufbricht ins fiktive Kinraddie im Nordosten Schottlands, sollte wissen, dass hier einst ein Greif lebte. Das Untier, heißt es, fraß (in dieser Reihenfolge!) "Schafe und Männer und Frauen" und war "ein rechtes Grauen". Aber natürlich gab es der Gründungslegende nach einen Helden, "jung und ohne Besitz und arg tapfer und gut bewaffnet", der das Untier nachts im Tobel von Kinraddie tötete. So hebt es also an, das große "Lied vom Abendrot", erster Teil einer Trilogie, "Sunset Song" im schottischen Original, das so leichtfüßig den gängigen Ton alter Epen aufgreift.

Die eben erst für ihren eigenen Roman "Hain" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Esther Kinsky hat es in ein solch kraftvolles, eigenwillig schwingendes und klingendes Deutsch übertragen, dass man es gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Jeder Absatz eine Lust; viele Wörter zum Nachlauschen und Entdecken. Leichter Regen ist "ein dünnes Drieseln"; das Moorland "blach"; die Geschichte eingebettet in die schroffe Gegend am Fuße der Mearns, die der mit nur 34 Jahren gestorbene Autor Lewis Grassic Gibbon (1901 bis 1935) mit Menschen und Schicksalen besiedelt, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. "Szenen aus Schottland", das der Guggolz-Verlag bereits 2016 unter Gibbons Pseudonym James Leslie Mitchell vorlegte, war schon mal - als Reigen informativer Essays und kürzerer Erzählungen, auch schon von Esther Kinsky aus dem Englischen übertragen - ein Vorgeschmack. Jetzt also das Opus magnum.

Die Geschichte entspannt sich von 1911 bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Erzählt wird mit authentischem Charme vom Leben der rauhbauigen Kinraddier, vor allem aber von Chris Guthrie. Mit dieser Frau betritt 1932, als der Roman in London erscheint, eine der eigensinnigsten weiblichen Hauptfiguren die Literaturwelt. Sie widerspricht allen Rollenklischees und scheint herausgemeißelt aus dem vielschichtigen Untergrund dieser Landschaft. Chris wächst auf Blawearie auf, einem der Höfe. Man muss den Berg zu ihr und den Guthries hinauf und wird schnell warm mit diesem Mädchen, das wissbegierig ist und sogar aufs College darf. Ist sie lesemüde, hilft sie der Mutter bei der Wäsche, beim "Kaddern", barfüßig in wassergefüllten Zubern: "Es fühlte sich so angenehm an, wenn das Wasser blau und regenbogenschillernd zwischen den Zehen aufstieg und dichter und dichter wurde." Auf die Wahrnehmung dieses Mädchens, das unter widrigsten Umständen zur selbstbewussten Frau wird, legt Gibbon sein Augenmerk. Und so folgt man gebannt, wie sie sich ihre Sensibilität bewahrt, während ihr zeitgleich der fürs Landleben nötige Panzer wächst.

Der knochenhart arbeitende Vater kommandiert alle herum. Als ihr Bruder Will nach Argentinien auswandert, ist Chris dem Vater allein ausgesetzt, auch dessen Übergriffen, wenn er ihr zuflüstert, sie solle sich zu ihm legen, "wie sie es zu Zeiten des Alten Testaments getan hatten". Eine der bewegendsten Stellen ist die Beschreibung der Beerdigung dieses Vaters und wie Chris am Grabe doch noch die Tränen kommen und sie sich erinnert, wie der Vater, als sie klein war, ihr während des langen Gangs zur Kirche zugelächelt und sie "mein Mäken" genannt hatte, bevor "der Kampf mit der Welt und der Kampf seines eigenen Fleisches allzu bitter wurden und seine Liebe vergifteten". Aus Wut, Not und Trauer erwacht Chris' Stärke.

Gibbon findet dafür Bilder, die fast überbelichtet sind, aber trotzdem alles wie unter einem Schleier halten. Im Rahmen des Möglichen und Unmöglichen richtet Chris sich ein. Die Schule verwirft sie, das Land liebt sie. Obwohl man von ihr erwartet, dass sie den Hof verkauft, widmet sie sich ihm nun ganz und geht in ein neues, selbstbestimmtes Leben; eine kleine Wegstrecke verliebt mit Ehemann, den sie regelmäßig in seine Schranken weist; nach dessen Tod wieder allein.

2016 wurde das Buch in einer BBC-Umfrage zum "Lieblingsbuch der Schotten" gekürt. Der Gibbon-Kenner Ian Galbraith reiht es - die schottische Gegenwartsautorin Ali Smith zitierend - neben Größen wie D. H. Lawrence und William Faulkner ein und schwärmt zu Recht von der "traumähnlichen Sinnlichkeit der szenischen Beschreibung", die vermutlich viel eigenem Erleben abgerungen sei. Gibbon wuchs selbst in dieser Landschaft auf, im Howe zwischen Bergen und Nordsee südlich von Aberdeen. Mit sechzehn ging er weg, um als Journalist zu arbeiten, doch die Dialekte, die "Doric Scots", blieben im Ohr.

Um das Umgangssprachliche ins Deutsche zu bringen, hat sich Esther Kinsky unter anderem beim Plattdeutschen bedient, was einen erstaunlich textmotorisierenden schneidenden Effekt hat. Die Nacht "glust", der Besitz wird "verdröppelt", in grauer Vorzeit der Adel "abgemurkst"; Mädchen sind "Deern", dürre Mädchen "ein magerer Hippen von einer Deern", und manchmal "schlieggert" (schleicht) wer. Und wenn der Großkonflikt zwischen Schotten und Engländern schwelt, heißt es knackig, aber durchaus pejorativ, dass "die Englischen furchtbar gniedsch waren und nicht richtig reden konnten". Auch Gibbon schichtet und spielt - wie Kinsky - im Original mit Ausdrücken, um den Eindruck einer "landschaftlichen Sprache" zu erwecken, schafft also, so Galbraith, ein eigenes Idiom. Genügend verspielt, aber nicht exotisch, berührt es beim Lesen Herz wie Sprachlustzentrum.

Neben Chris' bewegender Geschichte erfasst "Lied vom Abendrot" den dramatischen Wandel durch Klima, Technik, Krieg. Obwohl hier alles zwischen Ernte, Buttern, Garbenbinden seinen ritualisierten Lauf nimmt, ergreift dieser Wandel bald alle. Und so liest man hier keineswegs nur eine statisch-folkloristische Bauernschmonzette (ein Dudelsack tritt erst auf der letzten Seite auf), sondern packend beschrieben vom Überlebensszenario einer kleinen Bauerngemeinschaft, in der sich die Welt spiegelt. Die Höfe werden verkauft und zerschlagen, "Wärme der Arbeit" und Gemeinschaftsgeist haben gegenüber anrückendem Kapitalismus ausgedient. Dass Gibbons Trilogie schon mal in anderer Übersetzung, von Hans Petersen, in der DDR der achtziger Jahre erfolgreich war, wundert da kaum und erklärt sich auch durch Gibbons publizistisches Engagement in der politischen Linken.

Umgangssprachlicher, lebendiger, fließender übersetzt, wirkt die Geschichte nun jedoch wie frisch serviert. Anspielungsreich und selbstironisch webt Gibbon die Tradition mit ein, mit Seitenhieben etwa gegen kitschige englische Romane, von denen er sich abhebt. Er erzählt mit wendiger Stimme und waschechten Ausdrücken von Gewinnern wie Verlierern, als würde man neben ihrem Pflug mitwandern. Vor allem aber erzählt er quasi ebenerdig aus dieser wunderbaren schottischen Landschaft heraus von menschlichen Beziehungen. Die innere Landkarte im Zwiegespräch mit der äußeren ist sein eigentliches Thema und der geheime Grund, warum man dran bleibt.

ANJA HIRSCH

Lewis Grassic Gibbon: "Lied vom Abendrot".

Aus dem schottischen Englisch von Esther Kinsky. Mit Nachworten von Esther Kinsky und Iain Galbraith. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 397 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2018

Zwei Seelen im Krieg
Esther Kinsky übersetzt den schottischen Klassiker „Lied vom Abendrot“
Auch in Schottland ist es heiß. Sogar der Wind bringt nur noch mehr Trockenheit in die versteppende Landschaft: „Hier oben strahlten die Hügel vor Schönheit und Hitze, doch die Heuwiese war nichts als knisternde Dürre, und im Kartoffelfeld hinter Scheunen und Ställen hingen die Strünke schon gilblich und rostigbraun, als hätten sie die Lohe.“
Das spielt in einem Sommer vor mehr als hundert Jahren, die junge Chris Guthrie liegt in den Bergen in der Heide und träumt. Eigentlich kann sie sich das nicht erlauben. Sie ist keine Landadelige, sondern die Tochter eines so eigensinnigen wie brutalen Kleinbauern. John Guthrie hat sein Land nur gepachtet. Aber Chris spürt zwei Arten romantischer Lust: an der Erde, auf der sie liegt, und an den Wörtern. Sie geht nämlich gern zur Schule. Und so teilt sie sich auf: für „die Schule und das Lernen“ gibt es die „englische Chris“ und für das „Leben und Essen und Schlafen“ die schottische.
„Lied vom Abendrot“ ist der bekannteste Roman von James Leslie Mitchell, einem Kärrnersohn, der 1935 im Alter von knapp 34 Jahren an einer Sepsis starb. Als Schriftsteller trug er den schottischen Namen seiner Mutter und nannte sich Lewis Grassic Gibbon. „Sunset Song“, so der Originaltitel, ist der erste Teil der Trilogie „A Scots Quair“ und gilt in Schottland als moderner Klassiker. Der Roman wurde mehrmals verfilmt, zuletzt 2015 von Terence Davies. 2016 kürten ihn Leser in einer Umfrage der BBC zum noch heute beliebtesten schottischen Buch.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Das Gefühl der schottischen und englischen Seele, die in einer Brust wohnen, plagt nach wie vor viele Schotten. Gerade nach dem Brexit sehnen sie sich wieder nach Unabhängigkeit. Auch in der Biografie des Autors Mitchell oder Gibbon ist der Zwiespalt zu erkennen. Mit sechzehn Jahren wurde er in Aberdeen zum Journalisten ausgebildet und beteiligte sich am dortigen Sowjet, einem aus Solidarität mit der Russischen Revolution gegründeten Arbeiterrat. Nach dem Ersten Weltkrieg leistete er dann aber doch noch seinen Dienst in der Royal Army ab, als Verwaltungsangestellter unter anderem in Ägypten und in Iran. 1928 konnte er die ungeliebte Army wieder verlassen, zog in die damalige Zukunftsstadt Welwyn Garden City und arbeitete nur noch unter dem Namen Lewis Grassic Gibbon. Dort, wenige Kilometer nördlich von London, entstand „Sunset Song“.
Die Handlung dieses Romans läuft direkt auf den Ersten Weltkrieg zu, der die Schotten spaltet. In Gibbons fiktivem Dorf Kinraddie gibt es zwei sozialistische Bauern und selbst die sind sich nicht einig. Chae Strachan, ein Großmaul und Gesellschaftskritiker, zieht schließlich für England in den Krieg. Dagegen bleibt der lange Rob, ein schweigsamer Pazifist, in seiner Mühle, auch wenn man ihn einen Feigling nennt.
Die Hauptfigur Chris Guthrie kann als junges Mädchen ihr Studium nicht abschließen und geht eine Ehe ein, die sie von Beginn an als Gefängnis empfindet. Bis zum Hochzeitstag liebt sie ihren Ewan Townsdale, aber dann bekommt sie durch ihren Mann zu spüren, was der Krieg bewirkt. Aus einem Menschen, der empfindsam und jähzornig war wie Chris selbst, wird im Kriegsdienst ein selbstmitleidig-sarkastischer Alkoholiker, der sich um seinen kleinen Sohn so wenig kümmert, wie um seine Frau. Irgendwann verschwindet er und Strachan erzählt, als er auf Fronturlaub heimkehrt, Ewan sei desertiert, weil er zu seiner Familie wollte. Dabei sei er geschnappt und erschossen worden.
Grassic Gibbon stellt sowohl seine Figuren als auch seine Leser immer wieder vor widersprüchliche moralische Entscheidungen, die heute gelegentlich etwas altmodisch wirken, aber nach wie vor packend. Die literarische Attraktion des Buches besteht aber vor allem in seinem Umgang mit dem schottischen Dialekt in der Sprache.
Im Original 1932 erschienen, ist dieser Roman kein politisches Manifest und auch nicht nur zeitgeschichtliches Zeugnis, sondern ein wehmütiger Abgesang auf das ländliche Schottland vor dem Ersten Weltkrieg. Personifiziert wird es im Roman durch Chris’ Vater, der mühevoll und eigensinnig vor sich hin wirtschaftet. Die Sehnsucht nach der archaischen Gesellschaft, die der Autor als junger Mann selbst noch erlebt hat, bestimmt den ungewöhnlichen, rustikal-elegischen Ton des Buchs.
Esther Kinsky hat den Sog seiner Sprache hervorragend ins Deutsche gebracht. Man versteht aber auch, warum „Sunset Song“ lange als unübersetzbar galt. Das ergibt gerade auch der Vergleich mit der ersten deutschen Übersetzung von Hans Petersen, die unter dem Titel „Der lange Weg durchs Ginstermoor“ in der DDR immerhin drei Auflagen erreichte.
Die Grundsprache des Originals ist Englisch, aber das „Doric“, der Dialekt der Landschaft an der Ostküste Schottlands, aus der Grassic Gibbon stammte, und in der der Roman spielt, bestimmt den Rhythmus. Viele Ausdrücke sind aus dem Dialekt in die Hochsprache überführt. Grassic Gibbon selbst erklärt sein Verfahren mit einem Vergleich: „Wenn die große niederländische Sprache keine Literatursprache mehr wäre und ein Niederländer auf Deutsch eine Geschichte schriebe, die unter Drenther Bauern spielt, würde man ihm zugestehen, dass er sich eine gewisse Freiheit und Eigenwilligkeit im Gebrauch des Deutschen erlaubt. Er würde auf den Seiten seines Buches vielleicht ein paar unübersetzbare Wörter und Ausdrücke einführen – unübersetzbar insofern, als sie nur im regionalen Kontext und in ihrem Umfeld zu verstehen sind, – und ebenso würde er vielleicht einen Weg finden, sein Deutsch dem Rhythmus und der Melodie der gesprochenen Sprache seiner Bauern anzupassen.“
Die Übersetzung eines solchen Buches kann nicht unproblematisch sein. Hans Petersen ist in seiner Übersetzung von 1970 den Schwierigkeiten im Wesentlichen ausgewichen. Sie wirkt schnell und gut verständlich, aber eher unpoetisch. Die schottischen Passagen hat Petersen in ein umgangssprachliches Deutsch übertragen.
Die Schriftstellerin Esther Kinsky, die seit Jahrzehnten als Übersetzerin arbeitet, macht aus Grassic Gibbons schottischen Stolpersteinen bewusst ein raues Deutsch, wie sie in einer Vorbemerkung erklärt. Sie macht es sich nicht einfach mit ihrem Konzept. Auch weil sie sich nicht für ein einzelnes deutsches Äquivalent für das schottische Englisch entscheidet. Sie vergleicht den Dialekt selbst mit einer Art Platt. Aber in der Praxis ergeben sich daraus seltsame Kreuzungen. Nachvollziehbar wirkt zwar, dass ein Ire, der in Kinraddie lebt, plötzlich einen bayerischen Satz sagen darf: „Jo mei, das bist jo du, olter G’sell“. Aber dass das bayerische „fei“ dann auch den Schotten zur Verfügung stehen soll, wirkt so seltsam, wie dass in Schottland plötzlich die Maßeinheit
„Deka“ auftaucht. Das bringt einen Hauch von K.u.k-Ambiente in die Szenerie und wirkt entsprechend verwirrend.
Es nimmt allerdings für Kinsky ein, dass sie den großen rhythmischen Reiz der Sprache beibehält. Erst ihre Übertragung macht überhaupt verständlich, warum „Sunset Song“ als Klassiker der europäischen Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gilt.
HANS-PETER KUNISCH
Durch ihren Mann bekommt
Chris zu spüren, was der Krieg
mit den Menschen macht
Der Dialekt der Ostküste
Schottlands gibt den
Rhythmus der Erzählung vor
Lewis Grassic Gibbon:
Lied vom Abendrot.
Aus dem schottischen
Englisch von Esther Kinsky.
Mit einem Nachwort von Iain Galbraith. Guggolz Verlag. Berlin 2018.
397 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Hans-Peter Kunisch versteht, warum Lewis Grassic Gibbons "Lied vom Abendrot" in Schottland als moderner Klassiker gilt: Die Geschichte um die Bauerntochter Chris Guthrie, die sich selbst in eine englische und eine schottische Chris gespalten sieht und ihre Umwelt im Ersten Weltkrieg als ebenso geteilt erfährt, spiegelt in seinen Augen die widersprüchlichen Gefühle der heutigen Schotten gegenüber England wider. Darüber hinaus glänzt der Roman laut Kunisch aber vor allem mit seiner poetischen Sprache und einer authentischen Mischung aus Schottisch und Englisch. Seiner Meinung nach hat Übersetzerin Esther Kinsky mit den Einflüssen aus verschiedenen Dialekten, die sie in ihr Hochdeutsch mischt, um den Ton des Originals einzufangen, teilweise "seltsame Kreuzungen" geschaffen, dafür gefällt dem Rezensenten aber umso besser, dass sie die rhythmische Sprache beibehalten hat.

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