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"Die Eltern / traten aus dem Rahmen / und sprachen / zu ihrem Kinde: Du bist / jetzt achtzig Jahre alt und / mußt endlich erwachsen werden." Der Gedichtband des 1929 geborenen Günter Kunert ist eine Begegnung mit der eigenen Lebensgeschichte in DDR und BRD. Seine Lyrik beleuchtet die zerrissene Geschichte seines Landes, die Utopien in der Politik und die Lebenslügen. "Einstmals zogen Kolonnen / mit roten Fahnen durch / die Straßen", das sind Bilder, die viele kennen, pathetisch, dekorativ. Doch Kunert benennt die wahre Gestalt der Menschen, die "rollten die Fahnen zusammen und / trollten…mehr

Produktbeschreibung
"Die Eltern / traten aus dem Rahmen / und sprachen / zu ihrem Kinde: Du bist / jetzt achtzig Jahre alt und / mußt endlich erwachsen werden." Der Gedichtband des 1929 geborenen Günter Kunert ist eine Begegnung mit der eigenen Lebensgeschichte in DDR und BRD. Seine Lyrik beleuchtet die zerrissene Geschichte seines Landes, die Utopien in der Politik und die Lebenslügen. "Einstmals zogen Kolonnen / mit roten Fahnen durch / die Straßen", das sind Bilder, die viele kennen, pathetisch, dekorativ. Doch Kunert benennt die wahre Gestalt der Menschen, die "rollten die Fahnen zusammen und / trollten sich." Auf den bissigen, illusionslosen Blick von Günter Kunert kann Deutschland noch lange nicht verzichten.
Autorenporträt
Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren und starb 2019 in Kaisborstel. Seit 1963 erscheinen seine Werke bei Hanser; zuletzt: Nachtvorstellung (Gedichte, 1999), Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast (Aufzeichnungen, 2004), Irrtum ausgeschlossen (Erzählungen, 2006), Auskunft für den Notfall (2008), Als das Leben umsonst war (Gedichte, 2009), Tröstliche Katastrophen (Aufzeichnungen 1999-2011, 2013), Fortgesetztes Vermächtnis (Gedichte, 2014), Erwachsenenspiele (Erinnerungen, 2015), Vertrackte Affären (Geschichten, 2016), Aus meinem Schattenreich (Gedichte, 2018) und Zu Gast im Labyrinth (Gedichte, 2019). Kunert wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2018

Wie ist die Welt so bös' geworden
Blutiges Lächeln: Günter Kunerts Alterswerk "Aus meinem Schattenreich"

Johannes R. Becher hat den jungen Kunert entdeckt, und Bertolt Brecht hat ihn protegiert. Damals, in jenen unvordenklichen Zeiten, als der "Grashüpfer", wie Becher ihn nannte, einundzwanzigjährig seinen ersten Gedichtband veröffentlichte. Dieser "Grashüpfer" aber hatte einen erstaunlich langen Atem. Er entkam der DDR, der "Gummizelle der Utopie", überstand die Existenz zweier deutscher Staaten und kommentiert seitdem, mal grimmig, mal heiter, die aufkommende Apokalypse der Menschheit. Dichter können nicht vergessen, auch Kunert nicht, der nächstes Jahr neunzig wird.

Sein jüngster Gedichtband heißt "Aus meinem Schattenreich" und enthält seinem Titel gemäß einiges aus dem Reich der Toten. Kunert gedenkt ausdrücklich seines Lehrers Bertolt Brecht. Ein titelloses Gedicht spielt auf dessen "Maske des Bösen" an: "Die Maske des Bösen / zeigt freundliche Züge", heißt es da: "wären da nur nicht / in den Mundwinkeln/ diese Blutstropfen / beim Lächeln." Wo Brecht seinem Dämon mit den "geschwollenen Stirnadern" die Anstrengung zuschreibt, "böse zu sein", zeigt Kunert sehr direkt die "Blutstropfen beim Lächeln." Gut sechzig Jahre nach des Meisters Tod korrigiert er die dialektische Empathie mit dem Bösen durch die Faktizität des blutigen Lächelns.

Auch an anderer Stelle reklamiert Kunert den frühen Lehrmeister als Propheten der Apokalypse. Aus seinem holsteinischen Refugium betrachtet der Dichter die großen Städte als Geisterorte, als Gebilde aus Menschenwahn, in denen bloß noch Schemen unterwegs sind: "Als letzter geht der Wind hindurch, / wie es der Brecht vorausgesagt."

In anderen Gedichten breitet Kunert diverse Details seiner apokalyptischen Sicht aus, etwa das Exempel von der Wasserfolter: "Der Mann hat einen Trichter im Mund, / durch den man Wasser in den Mann füllt." Oder die sturzartige Zunahme der Weltbevölkerung, ja sogar das unaufhaltsam drängende Moment des menschlichen Samens, vor dem selbst der Sinn des Lebens als bloße Fortsetzung der Insemination erscheint.

Kunert nimmt bei alledem eine gewisse Banalisierung des Bösen in Kauf. Ikarus war ihm einst als der Mann erschienen, der Anlauf nahm "für das Unmögliche" - eine politische Symbolgestalt also. Heute besteht ihm die ganze Menschheit aus Ikariden: "Jedermann ein Ikarus / für billiges Geld", nämlich als Massentourist. Aber wollen wir die pathologische Mobilität des modernen Tourismus mit der ikarischen Versuchung gleichsetzen? "Kommst du der Sonne zu nahe, / erwartet dich Hautkrebs / nebst folgender Vergänglichkeit / des Erlebens." Banalisierung ist die Gefahr einer pauschalierenden Kulturkritik. Auch Kunert entgeht ihr nicht. Mag sein, dass es eine Gefahr des Alters ist.

Tatsächlich ist "Aus meinem Schattenreich" ein Werk des Alters; und wo Alter ist, da sind Altersthemen und Altersstil. Auch dem Dichter Kunert kommen die Eltern und die Jahre der Kindheit und Jugend zurück. Er lässt sich von den Eltern ermahnen: "Du bist / jetzt endlich achtzig Jahre alt und / musst endlich erwachsen werden." Der das sagt, weiß, was Erwachsensein sein könnte. Aber welcher Achtzigjährige kennt nicht die Versuchung zur Regression. Kunert erinnert sich an alte Möbel und alte Häuser, an die Luftschutzkellerangst wie an die Kolonnen mit den roten Fahnen. Und alles, was er erinnert, ist wie die sentimentale Toselli-Serenade aus einem Hinterhof-Fenster, nämlich die "letzte Berührung / einer endgültig verklungenen Zeit".

Wo es auf die Stimmungsreste des Alters geht, spielen die Formprobleme der Lyrik keine Rolle mehr. Kunert arbeitet weiter mit den bewährten freien Rhythmen, die einst revolutionär schienen. Jetzt sind sie noch prosanäher als sonst, und die wenigen Male, wo er Reimstrophen einsetzt, zeigt er keinen Ehrgeiz, originell oder gar kühn zu sein. Das Elend der Welt gerät ihm zu einem fünfhebigen Seufzer mit Kreuzreim: "Wie ist die Welt so fremd geworden: / verlorener Planet, durchs All getrieben, / voll leerer Lust und Lust an Massenmorden / von mal zu mal nach Ansicht und Belieben."

So hält Kunert auch sprachlich eine gewisse Distanz zur Welt. Der alte Mann benutzt die Sprache ohne Eros. Er wundert sich eher, dass die Wörter sich an ihn klammern: "Magst du uns nicht mehr / wo doch erst wir dir / Leben gaben?" Der Dichter spielt nicht den unermüdlichen Magier, den Orpheus, dem die Welt und ihre Geschöpfe folgen. Er bedauert, dass er die Welt mit Worten nicht heilen konnte. Er ist ein ehrlicher Mann. Man muss ihn mögen.

HARALD HARTUNG

Günter Kunert: "Aus meinem Schattenreich."

Gedichte.

Hrsg. von Wolfram Benda. Carl Hanser Verlag, München 2018.

119 S., geb., 18,- [Euro].

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