Spätaffäre - Archiv

Für Sinn und Verstand

95 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 10

Spätaffäre vom 08.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Kein Bauwerk hat die Entwicklung von Paris so stark vorangetrieben wie der Pont Neuf, erzählt Joan DeJean in Slate: "Zuvor war es ein mühseliges Unterfangen gewesen, vom linken Ufer zum Louvre zu gelangen. Wer es sich nicht leisten konnte, sich auf einem Boot hinbringen zu lassen, musste zwei Brücken überqueren und an beiden Ufern lange Fußmärsche zurücklegen. Erst die neue Brücke erhob die Bezirke am rechten Seine-Ufer zum vollwertigen Bestandteil der Stadt. War dort noch 1600 der Louvre die einzige größere Attraktion gewesen, beherbergte das rechte Ufer am Ende des Jahrhunderts wichtige Wohnhäuser und Bauwerke, von der Place Royale bis zu den Champs-Élysées. Und wann immer sich im siebzehnten Jahrhundert etwas Bedeutendes ereignete, dann passierte es entweder auf dem Pont Neuf oder wurde dort zuerst besprochen."

Für das New York Magazine untersucht Joe Hagan den Fall Lara Logan. Die CBS-Reporterin befindet sich im vorläufigen Ruhestand, seit sie im Oktober 2013 einen gefaketen Bericht über den Anschlag auf die US-Vertretung in Bengasi und die Ermordung des Botschafters Christopher Stevens für die Sendung 60 Minutes nutzte. Hagan erklärt die politischen Implikationen des Skandals: "Logan suchte nach einem neuen Blickwinkel auf den Fall Bengasi, als der ehemalige Waffenschieber Dylan Davies Logan die emotional aufgeladene Geschichte erzählte, wie er dem Anschlag beigewohnt hatte. Die Story passte gut in das Schema, das die politische Rechte seit Monaten versuchte gegen ein für die Gefahr von Al-Qaida blindes Außenministerium in Stellung zu bringen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass der Bericht von Davies fast vollständig erfunden worden war, um sein Buch zu verkaufen. Für eine Sendung wie 60 Minutes konnte so etwas das Ende bedeuten."
Stichwörter: Louvre

Spätaffäre vom 07.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Der Corriere bringt ein Gespräch zwischen Hans Ulrich Obrist und Gerhard Richter. Unter anderem kommen sie auf den RAF-Zyklus Richters zu sprechen. Richter erzählt, dass ein Gefühl der Befremdung am Anfang stand: "Wir kamen aus dem Osten, und wir waren glücklich, in den Westen gelangt zu sein. Wir waren überwältigt von der Freiheit, die es da gab. Und dann kam die sogenannte 68er-Generation und sagte, das ist gar keine Freiheit, das ist Faschismus. Ich kam aus einem quasi faschistischen Staat und war erstaunt über ihre Konsequenz und darüber, wie mächtig ein Glaube werden kann."

Im New Yorker untersucht Lizzie Widdicombe die neuesten Entwicklungen aus den Küchen synthetischer Essensforscher. Soylent heißt tatsächlich das Produkt der Stunde, zusammengerührt von ein paar vom ewigen Aufwärmen der Fertiggerichte und dem Abwasch angenervten Elektroingenieuren und dazu angetan, nicht nur unsere Essgewohnheiten, sondern unsere ganze Lebensweise zu verändern: "Als Ende der Ernährung apostrophiert, beschwört Soylent eine Welt ohne Pizzerias und Taco Bell herauf. Beigefarbenes Pulver anstelle von Bananenbrot. Wir schlürfen Brei anstatt uns in der Eisdiele zu vergnügen." Rob Rhinehart, einer der Macher von Soylent, sieht das ein bisschen anders, nämlich als Trennung von funktionalem und sozialem Essen. "Soylent soll nicht unsere Potluck-Dinners ersetzen, sondern Tiefkühlkost … Die Formel für Soylent besteht aus sämtlichen Hauptnahrungsmittelgruppen - Lipide aus Canolaöl, Kohlehydrate aus Maltodextrin, Protein aus Reis usw., ergänzt durch Fischöl, Vitamine und Mineralien und etwas Sucralose, um den Geschmack der Vitamine zu kaschieren." Vorteil des synthetischen Essens: Man kann tagelang mit Arbeit zubringen ohne lästige Essensunterbrechungen. Nachteil: "Mit einer Pulle Soylent auf dem Schreibtisch, dehnt sich die Zeit schier endlos, gestaltlos und ein bisschen traurig."

Spätaffäre vom 06.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Die Ukrainer hätten ihre Lenin-Denkmäler ruhig stehen lassen können, meint Slavoj Zizek in der London Review of Books und erinnert daran, dass Lenin seinen letzten Kampf gegen Stalin und dessen Projekt einer zentralisierten Sowjetunion führte. 1922 mussten auf Stalins Geheiß die Ukraine, Belarus, Aserbaidschan, Armenien und Georgien "ihren Wunsch" erklären, der Sowjetunion beitreten zu dürfen, 1939 dann die drei baltischen Staaten: "Mit all dem kehrte Stalin zur vorrevolutionären Politik des Zaren zurück: Russlands Kolonisierung Sibiriens im 17. Jahrhundert und des muslimischen Asiens im 19. Jahrhundert wurde nicht länger als imperialistische Expansion verurteilt, sondern begrüßt, weil es diese rückständigen Gesellschaften auf den Pfad der fortschrittlichen Modernisierung brachte. Putins Außenpolitik ist eine klare Fortsetzung der zaristisch-stalinistischen Linie." Und Zizek schließt: "Die Demonstranten vom Maidan waren Helden, doch der wahre Kampf - für eine neue Ukraine - beginnt erst jetzt, und er wird noch härter als der Kampf gegen Putins Intervention. Ein neues und riskanteres Heldentum wird nötig sein. Gezeigt haben es schon jene Russen, die sich der nationalistischen Leidenschaft ihres Landes entgegenstellen und sie als Instrument der Macht entlarven. Es ist an der Zeit für eine Solidarität von unten zwischen Ukrainern und Russen."

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Susanne Röckel sucht im Merkur an der Donau das neue Europa und stößt in Rumänien auf das alte Hafenstädtchen Calafat, wo von der früheren Pracht nicht viel erhalten ist: "Alte Gebäude stehen für die eigene Geschichte, und Geschichte stiftet Identität, so lernt man es in Deutschland. Aber hier, in Calafat, kommt mir das Wort plötzlich unstatthaft, ja verlogen vor, als wäre 'Identität' ein Luxus, den man sich nur leisten kann, wenn man satt und sicher ist. Hier ist die Vergangenheit auf ganz andere Weise vorhanden als bei uns. Es gibt keinen roten Faden, der sie zu einem Zusammenhang macht, zu einer Geschichte, in der man selbst unbestreitbar seinen Platz hat. Man scheint sie misstrauisch, distanziert, fast hilflos zu betrachten. Vielleicht ist auch etwas wie Stolz im Spiel, ein trotziges und gleichgültiges: 'Was hat uns das alles gebracht?' Calafat ist eine Stadt, die kein Ganzes ergibt."

Spätaffäre vom 05.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Auf Slate.fr beschäftigt sich Xavier Landes ausführlich mit den Ergebnissen von Studien der jüngeren Glücksforschung. Seit den70er Jahren versucht diese Disziplin, das sogenannte Easterlin-Paradox zu erklären, das sich kurz gesagt im Bonmot "Geld macht nicht glücklich" zusammenfassen lässt. Abgesehen von Erkenntnissen zu Glücksgefühlen, die durch den Besitz von Statussymbolen ausgelöst werden, fanden sie unter anderem heraus, dass gerade die Bedingungen ihres Erwerbs und der damit verbundene soziale Status unerwünschte Folgen insbesondere für die Gesundheit mit sich führen kann. Ebenfalls interessant: "Die Studien zeigen außerdem: je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto geringer ist das Glücksempfinden. Auch wenn die letzte Beweisführung noch aussteht, muss man auf globaler Ebene eine starke Korrelation zwischen Glück und Gleichheit (der Einkünfte oder des Wohlstands) konstatieren. Es handelt sich dabei um einen der Faktoren, der das erhöhte Glücksempfinden in den skandinavischen Gesellschaften erklärt, allen voran Dänemark."

Thema Geld beim New York Times Magazine. In einem Gastbeitrag fragt Jesse Eisinger vom Non-Profit-Newsdesk ProPublica, wie es angeht, dass nur ein einziger, dazu nicht mal besonders skrupelloser Top-Banker für seine Rolle bei der Finanzkrise in den Staaten hinter Gittern sitzt. "Es sieht aus, als hätten die Behörden keinen Mumm, doch die Dynamik dahinter ist komplizierter. Das Justizministerium hat eine Reihe Fiaskos im Unternehmenssektor hinter sich, die zu bedeutenden Änderungen in der Strafverfolgung bei der Wirtschaftskriminalität geführt haben. Man setzte schließlich auf Vergleiche statt Gefängnisstrafen. Das zog einen Rückstand an Erfahrung nach sich, die aber nötig ist, um gegen die besten Anwaltskanzleien zu punkten. In der Folge wurden komplexe Finanzfälle immer wieder heruntergespielt. Hinweise, dass Lehman Vorstände mehr über den Liquiditätsmangel ihrer Bank wussten, als sie zugaben, wurden einfach vernachlässigt. Mitte der 90er machte Wirtschaftskriminalität 17,6 Prozent aller bearbeiteten Fälle aus, von 2009 bis 2012 waren es nur 9,4 Prozent ... Die Müßigkeit der Justiz hat zum Teil mit ihren eigenen Zielvorgaben zu tun. Bis in die 80er Jahre verfolgten Staatsanwälte individuelle Wirtschaftsstraftäter. Aber das Ausheben von Mafia-Clans wie den Bonnanos gab vielen das Gefühl, ganze Organisationen ins Visier zu nehmen, sei der effektivere Weg, um der Korruption Herr zu werden ... Die Behörden selbst haben allerdings andere Erklärungen: Die Fälle wären zu komplex, argumentieren sie, und den Jurys kaum auseinanderzusetzen. Außerdem hätten die Verfehlungen der Banker eher mit Leichtsinn zu tun, als mit Kriminalität."

Spätaffäre vom 02.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Über die Zukunft des Journalismus wird ja überall gemutmaßt. Einen ganz neuen Aspekt bringt aber Louise Roug in der Titelgeschichte der Columbia Journalism Review in die Debatte. Wie werden eigentlich die immer einfacher zu handhabenden Kameradrohnen den Journalismus verändern? Es liegt auf der Hand, das sie etwa Papparazzi entschiedene Vorteile bieten. Bisher ist ihr Gebrauch zumindest in den USA allerdings verboten. Roug geht von dem Fall des jungen Journalisten Pedro Rivera aus, der die Szenerie eines Autounfalls per Drohne filmte, und eine Beschwerde der Polizei bekam - obwohl er das Material gar nicht veröffentlicht hatte. Der lokale Fernsehsender, für den Rivera arbeitete, hat ihn daraufhin sogar entlassen. Rivera sieht das gar nicht ein und klagt vor Gericht: "Für Rivera ist das ein Krieg um Kameras. 'Die Polizei möchte so wenig wie möglich bei ihrer Arbeit beobachtet werden.' An öffentlichen Orten zu fotografieren, betrachtet er als ein verbrieftes Recht und argumentiert, dass der Gebrauch von Drohnen als geschützte Freiheit anzusehen ist. 'Diese Drohne ist nichts anderes als eine Kamera', sagt er, 'und wenn Hubschrauber nicht verboten sind, warum sind es dann Drohnen?'"

Ein Phänomen beobachtet Jean-Samuel Kriegk in der huffpo.fr: Immer mehr Comics mit historischen Themen finden sich in den Regalen französischer Buchläden. Bekanntes oder Abgelegenes wird in Form von Reportagen, Zeitzeugenschaften oder rein fiktiv darin höchst unterschiedlich verarbeitet. Kriegk stellt sechs aktuelle Beispiele dafür vor, die nur eines gemeinsam hätten: die Seriosität in Recherche und Wiedergabe der historischen Ereignisse. Über "Napalm Fever" von Allan Barte, in dem der Vietnam-Krieg anhand der Identitätssuche eines Fotografen im Exil erzählt wird, der 1967 vom KGB als Journalist in sein Land eingeschleust wird, schreibt er: "Sämtliche Figuren sind als Katzen dargestellt. Bringt diese Entscheidung sowie der Ton des Werks auch eine gewisse beabsichtigte Leichtigkeit mit, so erspart einem das Buch doch nichts vom Horror des Konflikts."
Stichwörter: Drohnen, 1967, Vietnam, Kgb

Spätaffäre vom 30.04.2014 - Für Sinn und Verstand

In der New York Review of Books liest die Historikerin Anka Muhlstein bewegt Georges Prochniks Buch "The Impossible Exile" über Stefan Zweigs letzten Jahre. Und sie versteht, wie den Autor trotz anhaltenden Erfolgs der Mut verließ, bis er sich 1942 zusammen mit seiner Frau das Leben nahm: "Ein Weg, Stefan Zweig zu verstehen, ist der Gegensatz zu Thomas Mann, der ungefähr zur selben Zeit in die USA kam und dabei kraftvoll erklärte, dass er das bessere Deutschland repräsentiere: 'Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen.' Zweig fehlte es an derlei Selbstvertrauen, er beklagte, dass sich mit der Emigration auch das eigene Gravitationszentrum verlagert.' Der Hauptunterschied zwischen beiden Männern bestand darin, dass Mann zum deutschen Großbürgertum gehörte, seine Wurzeln reichten über Generationen hinweg tief in die Geschichte des Landes, während Zweig, ein Jude, der den Zionismus ablehnte, vor allem eines schätzte: 'Den Wert absoluter Freiheit, unter den Nationen zu wählen, sich selbst überall als Gast zu fühlen'. Prochnik besitzt ein genaues Gespür dafür, wie schmerzlich sich die Selbstwahrnehmung von Menschen im Exil ändert, er zeigt, wie der elegante Wiener Autor - berühmt, frei zu gehen, wohin er möchte, so wenig an jüdische Tradition gebunden, dass seine Mutter ihn fälschlich verdächtigte, konvertiert zu sein - verzweifelt, als er sich selbst zurückversetzt fand in die Rolle des Wandernden Juden."

Für den New Yorker folgt Patrick Radden Keefe dem Haken schlagenden Boss des mexikanischen Sinaloa-Kartells, Joaquín Guzmán Loera, bekannt als El Chapo, bis zu dessen Verhaftung am 22. Februar 2014. Aber was heißt hier 'Verhaftung': "Einige behaupten, Guzmán habe das alles so gewollt. Er ahnte, dass seine Zeit gekommen war und entschied sich für den stillen Ruhestand hinter Gittern. Ein Nebenprodukt der Korruption in Mexiko ist der Zynismus, den jede offizielle, von der Regierung ausgegebene Geschichte sogleich hervorruft. In ihrem Buch 'Narcoland' behauptet die mutige Journalistin Anabel Hernández, Guzmáns Einfluss sei so stark und das politische System Mexikos so verrottet gewesen, dass die ganze Chapo-Geschichte eine einzige Farce sein könnte. Guzmán wurde in Puente Grande inhaftiert, doch in Wirklichkeit war er der Chef dort, seine Flucht eine abgekartete Sache zwischen ihm und Vicente Fox persönlich (Fox hat das heftig bestritten). Guzmán war ein Jahr auf der Flucht, aber jeder wusste, wo er sich aufhielt, und die Behörden logen, als sie behaupteten, sie könnten ihn nicht erwischen. Hernández' Buch verkaufte sich mehr als 100.000 Mal in Mexiko. Mit ihrem Hang zum Konspirativen und ihrem bitter-wissenden Ton traf sie ins Schwarze. Keine Überraschung also, wenn viele meinen, dass auch Guzmáns Ergreifung in Mazatlán nichts als ein theatralischer Akt war, vom Drogenkönig selbst inszeniert."

Spätaffäre vom 29.04.2014 - Für Sinn und Verstand

In der NZZ bespricht heute Felix Philipp Ingold die Vorlesungen Vladimir Nabokovs über russische Literatur. Als Ergänzung empfehlen wir in The New Republic diese Originalvorlesung von Nabokov (auf Englisch) über die schlimmsten Sünden, die man beim Übersetzen russischer Erzählungen begehen kann. Hier der Anfang: "Three grades of evil can be discerned in the queer world of verbal transmigration. The first, and lesser one, comprises obvious errors due to ignorance or misguided knowledge. This is mere human frailty and thus excusable. The next step to Hell is taken by the translator who intentionally skips words or passages that he does not bother to understand or that might seem obscure or obscene to vaguely imagined readers; he accepts the blank look that his dictionary gives him without any qualms; or subjects scholarship to primness: he is as ready to know less than the author as he is to think he knows better. The third, and worst, degree of turpitude is reached when a masterpiece is planished and patted into such a shape, vilely beautified in such a fashion as to conform to the notions and prejudices of a given public. This is a crime, to be punished by the stocks as plagiarists were in the shoebuckle days."




Auf Rue89 stellt Yohav Oremiatzki sechs neue Instrumente vor, darunter das Karlax (Foto), die Baumgitarre und die saitenlose Harfe, aber auch eine App, die Alltagsgeräusche in Musik verwandeln
kann. Während das Karlax aussieht wie eine Mischung aus Klarinette und Laserpistole und den Datenaustausch zwischen verschiedenen elektronischen Geräten erlaubt, hat die saitenlose Harfe ihre traditionelle Form zwar behalten, ist aber eine Art Bewegungsmelder. "Die Harfe ist mit einer 3D-Kamera verbunden. Sie funktioniert wie eine Webcam, aber es wurden Infrarot-Sensoren hinzugefügt, um die Position der Daumen zu orten, wie bei den Spielkonsolen. Das Sichtfeld der Kamera ist eingeschränkt, man hat nur die Töne von zehn Saiten. Fügt man ihr eines Tages jedoch Kameras auf die Gesamtharfe hinzu, ist man in der Lage, den Klang sämtlicher Saiten wiederzugeben."

Spätaffäre vom 28.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Umwerfend Gideon Lewis-Kraus große Wired-Reportage aus der fremden Welt der Start Ups im Silicon Valley. Dafür mietete er sich im Hacker House, einer Schlafstation für aufstrebende Hacker ein. Sie geben ihre Zeit, ihre Jugend, Ihren Verstand - aber wofür genau? "Eines Nachts ging ich mit einer Gruppe von Gründern aus verschiedenen Start Ups einen trinken, dabei waren eine Videochat App, eine Dating App, zwei Ernährungs-Apps, einer, der was mit Drohnen zu tun hat, und eine App, die uns helfen wollte, besser miteinander zu kommunizieren. Um halb elf kam die Kellnerin und fragte, ob wir eine zweite Runde wollen. Ich bestellte noch einen Whisky, aber alle anderen guckten mit verhohlener Angst in ihre Smartphones."

In La Règle du Jeu erklärt Philippe de Lara, inwiefern Putins Regime an das Stalins erinnert und sich Putins gegenwärtige Politik gegenüber der Ukraine durchaus mit der Deutschlandpolitik der UdSSR in der Nachkriegszeit vergleichen lässt. Zwar sei die aktuelle Situation natürlich anders, insofern das wirtschaftlich und demografisch geschwächte Russland keine siegreiche Macht mehr sei und in der Ukraine auf eine echte demokratische Revolution stoße: "Die Deutschlandpolitik der UdSSR nach 1945 legt zwei Lektionen nahe. Die erste ist die permanente Schwankung der Mittel der sowjetischen, später russischen Außenpolitik trotz der Konstanz ihrer Ziele: das Reich zu vergrößern. Sie pendelt immer zwischen Kontrolle und Beeinflussung, brutaler Eroberung und geschickter Hegemonie." Die zweite Lektion sei die entscheidende Rolle der deutsch-russischen Beziehungen. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt sei die wirtschaftliche und militärische Kooperation beider Länder eine "unheilvolle Konstante in der Geschichte des Kontinents … Begreift Deutschland, dass eine russische Intervention in die Ukraine heute das gesamte europäische System bedroht?"

Spätaffäre vom 25.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Im Magazin der New York Times fragt Charles Siebert den Juristen und Präsidenten des "Nonhuman Rights Project" Steven Wise, ob Tiere justiziable Personen sein können, die ihre Eigner verklagen können. Eine spannende Frage, weniger absurd, als sie zunächst erscheint: "Vor zehn Jahren wäre Wise für seine Bemühungen ausgelacht worden. Was die Sache heute realistisch erscheinen lässt, hat zum Teil mit den Fortschritten in der neurologischen und genetischen Forschung zu tun, die zeigt, dass Tiere wie Schimpansen, Orkas und Elefanten über Selbstbewusstheit, Selbstbestimmung und einen Sinn für die Vergangenheit wie für die Zukunft verfügen. Sie haben eigene Sprachen, komplexe soziale Beziehungen und die Fähigkeit, Werkzeug zu benutzen. Sie trauern, fühlen mit und vererben ihr Wissen. Mit anderen Worten, sie haben die gleichen Eigenschaften, die wir für spezifisch menschlich hielten. Wise möchte diese Tatsache nutzen, um seine Klienten zu 'autonomen Lebewesen' zu erklären, die in der Lage sind 'frei zu wählen, sich selbst zu definieren und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne dabei reflexartig oder nach Maßgabe angeborenen Verhaltens zu agieren'. Für Wise sind diese Fähigkeiten die Mindestanforderung für justiziable Personen." Dazu gibt es eine Videodoku, in der Wise den Unterschied zwischen einer Sache und einer Person erläutert.

Außerdem im NYT Mag: Gretchen Reynolds erklärt kurz und wissenschaftlich, warum Schokolade gut für uns ist.

An einem sehr speziellen, aber umso eindrücklicheren Beispiel illustriert die Historikerin María Oliveira-Cézar im argentinischen Magazin ADN Cultura den gnadenlosen Zynismus der Geschichte des Holocaust: "Am 26. Januar 1944 sah sich der kurz zuvor durch einen Putsch an die Macht gelangte und dem Faschismus nahestehende General Pedro Pablo Ramírez durch äußere Umstände gezwungen, die bisherige Neutralität Argentiniens aufzugeben. Nur einen Tag nachdem er widerwillig alle diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen hatte, ordnete Adolf Eichmann von Berlin aus telegrafisch die sofortige Verhaftung aller im besetzten Frankreich lebenden argentinischen Juden an, die bis dahin, eben weil sie die argentinische Staatsbürgerschaft besaßen, zumindest von den Deportationen ausgenommen worden waren. Die deutschen Beamten vor Ort deportierten daraufhin, ohne Wissen der argentinischen Botschaft, einen Teil der Verhafteten, während sie den Rest, um sich für alle Fälle weiterhin die guten Beziehungen zu den Argentiniern zu sichern, retteten, indem sie ihn offiziell der Fondation Rothschild übergaben. Der einzige, armselige Trost für die Deportierten besteht darin, dass sie sich nicht einmal im Traum hätten ausmalen können, dass der unmittelbar für ihr Martyrium Verantwortliche später ausgerechnet in ihrem Heimatland Zuflucht finden sollte."

Spätaffäre vom 24.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Völkerrechtlich lässt sich die Annexion der Krim durch Wladimir Putin nicht rechtfertigen, sagt der Rechtsprofessor Yann Kerbrat aus Aix/Marseille in einem ausführlichen Gespräch mit Florent Guénard in La Vie des Idées: "In seiner externen Dimension, das heißt als Recht auf Sezession, ist das Völkerrecht in eingem Zusammenhang mit der Entkolonisierung konstruiert worden. Es wurde keineswegs als ein Recht auf die Destabilisierung von Staaten konzipiert, das jedem Volk oder jeder Minderheit mit einem Willen zur Unabhängigkeit in die Hände spielt. Formuliert duch mehrere aufeinanderfolgende Resolutionen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, ist dieses Recht eindeutig nur für Völker festgelegt worden, 'die unterjocht sind oder unter fremder Herrschaft oder Ausbeutung leiden'. Das heißt für Völker unter kolonialer Herrschaft."

Anlässlich der vergangene Woche eröffneten Retrospektive "A Grin Without a Cat" in der Londoner Whitechapel Gallery widmet Sukhdev Sandhu dem französischen Künstler, Autor und Filmemacher Chris Marker (1921-2012) im Guardian ein ausführliches Porträt: "Seine Faszination für die Fähigkeit neuer Technologien, die Vorstellungen von Identität, sozialen Verbindungen und dem Wesen von Erinnerung zu transformieren, macht ihn zu einem frappierend zeitgemäßen Künstler. Sein Selbstverständnis als 'bricoleur', als Sammler bereits bestehenden Bildmaterials, trifft den Nerv einer Zeit, in der das Aufspüren, Anordnen und Kuratieren von Bildern so wichtig geworden ist wie ihre Erschaffung. Seine Vorliebe, auf altes Material zurückzugreifen und es in neuen Zusammenhängen zu verwenden, entspricht den nie dagewesenen Möglichkeiten unserer Epoche, Dinge nicht nur in riesigen digitalen Archiven zu speichern, sondern sie auch über verschiedene Formate hinweg endlos neu zu kontextualisieren." Hier Markers innovatives Coverdesign für die Reiseführerreihe "Planète travel" (1954-58).