Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2005. In der SZ wirft Ian Mc Ewan vom Flugzeug aus einen betrübten Blick auf die Erde. Die NZZ porträtiert den spanischen Schriftsteller Rafael Sanchez Ferlosio, einen erklärten Verächter der schönen Literatur. Spiegel Online lästert über die Unterwerfungsbereitschaft der Feuilleton-Katholiken. Die taz sieht die Zukunft im Religionskonsum. Die FR erzählt, wie Bernard-Henri Levy einen guten amerikanischen Gott traf. Die FAZ ist hetero - na und?

SZ, 22.04.2005

Die Umweltbewussten unter uns begehen heute den "Tag der Erde". Der britische Autor Ian McEwan zum Beispiel. Ein Blick aus dem Flugzeug ließ ihn nicht nur vor der menschlichen Spezies erschauern ("Aus dieser Entfernung wirken wir wie ein verheerender Ausschlag, ein vernichtendes Algengeflecht, wie Schimmel, der sich langsam über eine Frucht ausbreitet"), sondern machte ihm auch klar: "Keine Nation wird ihre Industrie allein einschränken können, während die ihrer Nachbarn so fortfahren wie bisher. Auch hier könnte eine aufgeklärte Globalisierung von Nutzen sein. Und eine ordentliche internationale Gesetzgebung könnte nicht nur unsere Tugenden ausnutzen, sondern auch unsere Schwächen (wie Gier und Eigennutz), um den Hebel umzulegen in Richtung einer saubereren Umwelt; hier ist der gerade eingeführte Emissionshandel ein geschickter erster Schachzug. Können wir verhindern, was auf uns zukommt, oder kommt gar nicht so viel auf uns zu? ... Ist dies der Anfang oder das Ende? Wir müssen reden." Das Original ist bei Open Democracy zu lesen.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash fürchtet, dass Benedikt XVI. seiner Kirche keinen guten Dienst erweisen wird: "Atheisten sollten die Wahl von Benedikt XVI. begrüßen, denn dieser alte, gelehrte, konservative und uncharismatische bayerische Theologe wird sicherlich die Entchristianisierung in Europa vorantreiben, auch wenn er genau das Gegenteil beabsichtigt. Am Ende seines Pontifikats wird Europa vielleicht genauso unchristlich sein, wie es schon einmal vor 15 Jahrhunderten war, als St. Benedikt, einer der Schutzheiligen Europas, den Benediktinerorden gründete. Das christliche Europa beginnt mit Benedikt und endet mit Benedikt - Ruhe in Frieden." Online ist Timothy Garton Ashs Text im englischen Original im Guardian zu lesen.

Taumelnd vor Begeisterung kehrt Alex Rühle aus Weilheilm zurück, wo er die Brüder Micha und Markus Acher getroffen hat, die mit ihrer Band Notwist nicht nur zum latest critical chic hätten werden können, sondern auch steinreich, wenn sie nicht den Millionen-Deal mit Vodafone ausgeschlagen hätten! Stattdessen touren sie jetzt zwischen Zagreb und Istanbul und spielen immer noch mit ihrem Vater bei den New Orleans Dixie Stompers. Kurz: "Markus und Micha Acher sind das personifizierte Gegenprogramm zu all den fettglänzenden Egokugeln, die sich sonst so tummeln im Musikbusiness: Wo andere Frisuren haben, haben sie Haare."

Weitere Artikel: Franziska Augstein rekapituliert noch einmal die interessante Tagung des Einstein-Forums vom Wochenende, auf der Historiker aus aller Welt über Nationalsozialismus und Stalinismus diskutierten. Fritz Göttler beobachtet staunend, wie die Franzosen mit umfangreichen Feierlichkeiten den Filmemacher Rainer Werner Fassbinder ans Herz drücken, der dieser Tage sechzig Jahre alt geworden wäre. Wolfgang Schreiber begrüßt Stephane Lissner als neuen Intendanten der Mailänder Scala.

Besprochen werden der kolumbianische Film "Maria voll der Gnade", Konzerte von David Zinman und Helene Grimaud in München und jede Menge Schiller-Bücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 22.04.2005

Auf der Medien- und Informatikseite berichtet Tilmann P. Gangloff über einen neuen Trend auf der Programmmesse in Cannes: Dokumentarfilme über das Dritte Reich boomen. "Schon jetzt übertrifft 'Der Untergang', der in britischen und amerikanischen Kinos unter dem Titel 'Downfall' läuft und in insgesamt 141 Länder verkauft werden konnte, alle Erwartungen. In Japan wird das Drama mit Bruno Ganz als gebrochenem Adolf Hitler mit fünfzig Kopien in die Kinos kommen. In dieser Größenordnung ist dort noch nie ein deutscher Film gestartet worden. Man weiß zwar um die Verbrechen der Nationalsozialisten. Dennoch scheint man von Hitler fasziniert zu sein wie etwa von Hannibal Lecter, dem Serienmörder im Film 'Das Schweigen der Lämmer'." Sehr gut verkaufen sich auch Heinrich Breloers Dreiteiler "Speer und Er" (in Großbritannien soll er, um das ganze noch etwas "schauerlicher" zu gestalten "Speer & Hitler - The Devil's Architect" heißen), die Dokumentationen von Guido Knopp, Hans-Christoph Blumenbergs Doku-Drama 'Die letzte Schlacht' über die letzten Tage Berlins vor der Eroberung durch die Rote Armee, Dokumentationen über die Hitler-Attentäter und die Familie des Diktators.

Weitere Artikel: S.B. meldet die Ankunft des NW-E507, mit dem Sony Apples iPod Konkurrenz machen will (über den Namen sollten sie vielleicht noch mal nachdenken). Irena Ristic schildert die Bemühungen des Ringier Verlages, mit dem neuen serviceorientierten Boulevardblatt Blic Evropa die serbische Diaspora als neue lukrative Zielgruppe zu gewinnen.

Im Kulturteil porträtiert Markus Jakob den spanischen Schriftsteller Rafael Sanchez Ferlosio, der morgen den Premio Cervantes, den wichtigsten spanischen Literaturpreis erhält, obwohl er doch ein erklärter Verächter der schönen Literatur sei: "Es fehlt nicht an Beispielen dafür, wie das Verstummen eines Autors der Mythenbildung förderlich ist. Ferlosios Figur am nächsten kommt man vielleicht, wenn man an Paul Valery denkt. Ohne den Vergleich zu strapazieren, lassen sich einige Parallelen zu dem französischen Intellektuellen ziehen, der, einmal als Dichter etabliert, die schöne Literatur dem ernsthaften Denken für abträglich hielt, als älterer Herr mit seinen Essays zum Gehirn der Nation wurde und als dessen Hauptwerk die postum publizierten 'Cahiers' gelten dürfen. Was ein Pendant zu Letzteren betrifft, gilt es bei Ferlosio abzuwarten; er selbst beziffert die Menge des nicht publizierten Materials auf das Fünfzigfache seiner Bücher."

Weitere Artikel: Helmut Hoping und Jan-Heiner Tück vom Institut für systematische (katholische) Theologie der Universität Freiburg i. br. zeichnen ein theologisches Profil Benedikt XVI.. Marc Zitzmann weiß, warum die Aufführung von Werner Henzes Oper "Die Bassariden" verschoben werden musste: die Orchestermusiker des Orchestre philharmonique de Radio France streikte. Besprochen wird eine Palladio-Ausstellung im Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza.

Auf der Filmseite schreibt Harry Tomicek zum 100. Geburtstag Jean Vigos. Besprochen werden Stephen Hopkins' Filmbiografie "The Life and Death of Peter Sellers" und ein Dokumentarfilm über Lars Norens Stück "7:3".

TAZ, 22.04.2005

Immer noch sehr religiös, der Kulturteil der taz. Der Medientheoretiker Norbert Bolz glaubt, "dem Religionskonsum auf dem Markt der Spiritualität gehört die Zukunft". Isolde Charim ist fest überzeugt, dass sich Jürgen Habermas und Slavoj Zizek "gerade über diesen Papst" besonders freuen. Tobias Rapp bespricht CDs von Nathan Michel, Coastal Cafe und Like A Tim.

Schließlich Tom.

FR, 22.04.2005

Für ein Jahr hat die amerikanischen Zeitschrift Atlantic Monthly den französischen Philosophen Bernard-Henri Levy auf den Spuren von Alexis de Toqueville durch die USA reisen lassen. Sein Bericht ist jetzt zu lesen, und Sebastian Moll ist bass erstaunt, wie vorurteilslos jemand über die USA schreiben kann: "Bernhard-Henri Levy hütet sich vor Werturteilen und kommt deshalb zu wenn nicht revolutionären Einsichten, dann zumindest überraschenden Blickwinkeln. Anstatt sich etwa über die amerikanische Religiosität zu mokieren, ist er während eines Gottesdienstes im Mittleren Westen beinahe davon gerührt, dass der amerikanische Gott so unmittelbar und so wenig entrückt ist: 'Es ist ein freundlicher, netter Gott, beinahe menschlich, ein guter Amerikaner, der Dich liebt und Dir zuhört.'"

Weiteres: Reinhardt Wustlich möchte angesichts von Rem Koolhaas' Konzerthaus für Porto einen Kometeneinschlag nicht gänzlich ausschließen. In Times mager begutachtet Elke Buhr die Leistung der Protagonisten von Visa-TV. Hans-Jürgen Linke schreibt zum Tode des dänischen Jazz-Bassisten Niels-Henning Örsted-Pedersen.

Spiegel Online, 22.04.2005

Bereits gestern rieb sich Mariam Lau, Leiterin der Meinungsredaktion der Welt, in einem Gastkommentar bei Spiegel Online, verwundert die Augen über all die "Feuilleton-Katholiken", die mit "fast wohliger Unterwerfungsbereitschaft" dem neuen Papst entgegenjubeln: "Begeistert wird Ratzingers Schelte der 'Diktatur des Relativismus' gerade von denjenigen applaudiert, die vom Pluralismus der Meinungen leben. Was soll an der Auffassung, die Scheidung sei einer zerrütteten Beziehung vorzuziehen, moralisch relativ, also irgendwie beliebig sein? Den einen ist das ungeborene Leben, auch das im Reagenzglas heilig, den anderen die Freiheit der persönlichen Entscheidung - warum ist das eine absolut moralisch, das andere relativ?"

FAZ, 22.04.2005

Leicht zwiespältig fiel Edo Reents' Reaktion auf das Konzert von Rufus Wainwright in Ludwigshafen aus: "Jedenfalls war sein zweistündiges Konzert von solcher Qualität, dass man hinterher geneigt war, das bisher Vertraute nicht mehr als Selbstverständlichkeit aufzufassen und, hätte es einen Anlass dazu gegeben, trotzig zu sagen: 'Ich bin hetero - na und?'"

Weitere Artikel: Auch die FAZ druckt einen Abschnitt aus dem Bericht von Ian McEwan über seine Teilnahme an der Cape Farewall Expedition 2005, mit der Künstler in die Arktis verschickt wurden (englische Version hier). Christian Geyer ärgert sich über die "Wurschtigkeit im Amt", die Ludger Volmer bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss bewiesen habe: "Man kann sich nach der Dauersendung jedenfalls sehr viel besser als zuvor vorstellen, wie im Auswärtigen Amt sehenden Auges, aber gehaltenen Blickes (die optische Definition von Schlendrian) die Schleusen für Schleuser geöffnet blieben." Andreas Rosenfelder war bei einem Vortrag Roman Herzogs zur Frage "Was hält große Reiche zusammen?" Dirk Schümer beschreibt die Diadochenkämpfe am Hof Berlusconis, "nachdem die Regionalwahlen erwiesen, dass die Furcht vor einer unfähigen, bürokratisierten, zerstrittenen Linken tatsächlich geringer geworden ist als der Überdruss angesichts eines uncharmant verlebten Populisten". Jordan Mejias beschreibt drei Reaktionen aus Amerika auf die Wahl des neuen Papstes.

Auf der letzten Seite porträtiert Eleonore Büning den neuen Intendanten der Mailänder Scala, Stephane Lissner. Hannes Hintermeier bewundert die "erinnerungstechnische Nachrüstung" in Form von "Vatikanbrot" und "Benedikt-Torte", die man in Marktl am Inn vollbracht hat. Michael Gassmann berichtet von einer Tagung, die die juristische Aufmersamkeit für Raubgräber schärfen sollte.

Die Gegenwartseite dokumentiert einen Beitrag, in dem Joseph Ratzinger 1977 die Theologie des Petrusamtes entwarf.

Besprochen werden die Aufführung des Politologendramas "Mythos, Propaganda und Katastrophe in Nazi-Deutschland und dem heutigen Amerika" von Stephen Sewell in Düsseldorf, eine Ausstellung flämischer Barockmalerei in der neuen Staatsgalerie in Neuburg an der Donau, Joshua Marstons Debütfilm "Maria voll der Gnaden", ein "Don Giovanni" in Bonn und Bücher, darunter Wolfgang Schivelbuschs "Entfernte Verwandte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).