Virtualienmarkt

Lucid White Men

Von Rüdiger Wischenbart
07.08.2003. Bill Gates von Microsoft und Richard Parsons von AOL haben sich geeinigt, Netscape verschwinden zu lassen. Aber niemand interessiert sich mehr für die alten Browser-Kriege. Jetzt geht's um einen üppigeren Kuchen.
Ferien. Die Badehose ist eingepackt, ebenso ein Stapel Bücher. Das Urlaubsziel ist stauvermeidend ausgesucht. Die ersten paar Tage des Abhängens sind auch schon überstanden, wenn der Körper sich plötzlich in all der aufgestauten Müdigkeit und Verspanntheit in den Vordergrund spielt, und in der Nacht die Träume mit all den zuvor überspielten Tagesresten und dem üblichen Stress überschwappen. Allmählich kehrt also Ruhe ein.

An diesem gelösten Punkt, zwischen Badesee, den abendlichen Gesprächen mit Freunden und einem zusehends vegetabilen (das meint: gemüseähnlichen) Zustand der Seele genieße ich es, ehrlich gesagt, wenn sich zwischendrin auch das Arbeitsgedächtnis wieder einmal zuschaltet. Denn oft genug lädt die Entspannung ganz erfrischend den müden Blick auf und lädt ein, neu zu betrachten, was sonst im News- und Informationsüberfluss zu verschwimmen droht.

"Hast Du eigentlich mitgekriegt, dass Netscape eingestellt wird?", hatte mich die Perlentaucher-Redaktion angebohrt, und ich wollte schon abwinken. Natürlich ist es grässlich, wenn sich zwei Konzerne verbünden, um ein Stück Software verschwinden zu lassen, das einst den Aufbruch ins Internet für Jedermann ausgelöst hatte.

"Two Gorillas Make Nice" lautete kess ironisch sogar beim Microsoft-Partnerdienst NBC die entsprechende Schlagzeile Ende Mai, als Microsoft und AOL Time Warner das Ende ihrer Gegnerschaft verkündeten. "Schade drum", mochte man noch sagen, mehr nicht.
Netscape-Eigentümer AOL - um die Story kurz in Erinnerung zu rufen - werde künftig statt Netscape Microsofts Internet Explorer als Standardbrowser verwenden und zudem 750 Millionen Dollar an Schadensabgeltung kassieren. Überdies spendete AOL dann noch, gewissermaßen als Abschlagszahlung, zwei Millionen Dollar an die Open Source Community, die den Netscape Browser unter dem Namen Mozilla zum wichtigsten Konkurrenten von Microsoft entwickelt hat.)

Jetzt, im Urlaub, im Schatten unter der Trauerweide am See, bringt das erfrischte Gedächtnis die Sache mit einer scheinbar zusammenhanglos anderen Geschichte in Verbindung, bei der allerdings ebenfalls der Medienkonzern AOL Time Warner eine Hauptrolle spielt.

Im Sonntagsmagazin der New York Times gab es unlängst ein wunderbar krasses Porträt von Peter Olson, dem Chef von Random House und damit des sowohl weltweit wie auch deutschlandweit größten Buchverlags (ehemals bekannt als Bertelsmann Verlag). Darin präsentierte sich der von sich selbst vergleichsweise stark eingenommene Verleger Olson als Herr der lebenden Toten, indem er in Begleitung der Times-Journalistin Lynn Hirschberg an möglichst vielen Menschen jeweils mit dem Fingerzeig: "I fired him" (oder "her") vorbeiparadierte. (Die Times hat zu dem Olson-Artikel übrigens ein gut besuchtes Forum eingerichtet.)

So etwas kommt natürlich nicht gut, und deshalb fragte sich die ganze Verlagswelt jenseits und diesseits des großen Teichs: "Warum macht er das bloß?"

Die schlüssigste Antwort in all den darauf folgenden Spekulationen war die folgende: Olson rechnete, dass er zum Zeitpunkt des Erscheinens der Geschichte in der Times gerade die gesamte Buchsparte von Time Warner für Bertelsmann gekauft haben und damit als Machiavelli der weltweiten Buchbranche dastehen würde (und ein Prinz, oder auch nur ein Erzieher oder Diener des Prinzen, glaubt heutzutage allemal sagen zu dürfen: "I fired him").

Das Pech für Olson war, dass Bertelsmann Chef Gunter Thielen den Schuldendienst des - so wie fast alle Medienhäuser - in finanzielle Anspannung geratenen Bertelsmann Konzerns für wichtiger erklärt und die Übernahme abgeblasen hatte. (Also war nüscht mit Prinz für Olson).

Das Pech für AOL Time Warner war hingegen, dass die bereits in greifbare Nähe gerückten rund 300 Millionen Dollar für die Buchsparte nicht als Eingang am Konto verbucht werden können.

Bedenkenswert für uns, liebe Leserinnen und Leser von Büchern, die mit einem Bücherstapel in die Ferien fahren, ist, dass eines der größten Buchprogramme der Welt wie Sauerbier feilgeboten wird und, "wg. Schuldendienst", tatsächlich keinen Abnehmer findet.

Bedenkenswert Numero Zwo ist, dass das alles bei der Sache Netscape nicht einmal im Kleingedruckten Erwähnung fand.

Wieso das denn, werden Sie nun sagen - vielleicht mangels entspannter Seele und See und staufreiem Urlaub und so.

AOL Time Warner, der Welt größter Medienkonzern, und Microsoft, der Welt größte Softwarefirma, haben ihr jeweiliges Terrain abgesteckt und darüber die Friedenspfeife geraucht. Sie versprachen, gemeinsam "the adoption of digital media for the Internet" bei gleichzeitiger Wahrung des Urheberrechts "beschleunigen" zu wollen.

Wer, wenn schon nicht den Vertrag zwischen Microsoft und Time Warner, so wenigstens die öffentlichen Aussagen ihrer beiden Galionsfiguren Bill Gates und Richard Parsons genau liest, begreift nämlich relativ rasch, dass es bei dem Arrangement unter (bisherigen) Feinden gar nicht so sehr um die Web Browser-Kriege der Vergangenheit geht, sondern um die Aufteilung eines viel üppigeren Kuchens der Zukunft. Dieser besteht, Schicht um Schicht, jeweils aus Kuchenmasse und Creme (oder Inhalt und dessen Übermittlung), oder etwas technischer gesprochen aus Content plus Vertrieb plus Content Management plus Rechte Management.

Im Originalton von AOL Time Warner Chairman Richard Parsons wird der allumfassende Ansatz unmissverständlich: "Our agreement to work together on digital media initiatives marks an important step forward in better serving consumers and protecting the interests of all content businesses (?) We look forward to others in the media and entertainment industries joining together with us to help to advance the digital distribution of content to consumers while maintaining copyright protection."

Technisch gesprochen heißt dies, es ging gar nicht um den Internet Browser ("Netscape" oder "Internet Explorer") der Vergangenheit, sondern um Microsofts bereits heute in jedes Windows Paket eingebauten Media Player als Plattform für jene nahe Zukunft, in der Sie, Du und ich zu Hause, eventuell sogar im Büro, und natürlich auch im Urlaub, legal oder ganz egal, unsere Unterhaltung, ob Musik, Filme, Porno oder Nachbars Reisediashow, aus einer Art Internet saugen werden.

Fest steht: Wir werden. Der gedankliche Sprung vom Browser zum Media Player entspricht jenem von der technischen Pionierleistung des Vorkriegs-Volkswagen zum VW Käfer der Wirtschaftswunderjahre, der Millionen von Nachkriegsdeutschen erstmals in die Ferien an die Adria und ans Mittelmeer trug und erst die allsommerlichen Urlaubskarawanen quer durch Europa ermöglichte. Es geht folglich um eine Reise von wirklich großem Zukunftspotenzial.

Für AOL Time Warner als weltweit größten Verlag und Internet Provider - der also über Inhalte und über Endkunden verfügt - ist es ein durchaus sinnvoller Gedanke, sich mit Microsoft als dem weltweit größten Kontrolleur der Endkundensoftware (und in Folge möglicherweise auch der Serversoftware) zu verständigen, damit uns in den nächsten (oder, realistischerweise, den überübernächsten) Ferien all die schönen Angebote bis unter die Trauerweide am See oder sonst wo verfolgen.

Was aber hat dieses - zugegeben wenig beschauliche - Szenario mit Random House Bertelsmann und Buch-Machiavelli Peter Olson zu tun? Dass in all diesen Szenarien nirgendwo er oder Bücher vorkommen.

Während ich am Weg zum See meinen Bücherstapel sortiere - und zuerst ein dickes Buch auswähle, das in der Regel irgendwann vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten erschienen ist -, fällt mir auf, dass Bücher insgesamt aus dem Begriff "Content" zusehends rausrutschen. Nicht absichtlich. Eher nebenher.

Das ist nicht gut.