Heute in den Feuilletons

Weg vom Sammeln, hin zum Denken

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2011. Was unterscheidet die Durchhaltekraft eines KT zu Guttenberg noch von der Zähigkeit eines Berlusconi?, fragt die SZ. Die FAZ hörte die Operette "Libyen von morgen". Die Zeit fragt, warum sich die konservativen Politiker Europas zu Viktor Orbans Komplizen machen. Die Welt berichtet von Verwerfungen in der ägyptischen Kulturszene. FR und taz stellen Ali Samadi Ahadis Film "The Green Wave" vor.

TAZ, 24.02.2011

Beate Seel unterhält sich mit dem iranischen Filmemacher Ali Samadi Ahadi über dessen Film "The Green Wave" (mehr hier), der von den Geschehnissen während der Präsidentschaftswahl im Iran 2009 erzählt. "Ein Film dieser Art, in dem Blogger ausführlich zu Wort kommen (und ihre Erlebnisse in Animationsszenen anschaulich werden), wäre im Iran gegenwärtig undenkbar. Er ist deswegen in Deutschland entstanden, wo Ali Samadi Ahadi im Exil lebt und wo es leichter ist, die vielen Stimmen zu sammeln, die im Iran nun wieder in den Untergrund gedrängt werden. Der knapp 80 Minuten lange Film stellt sich die Frage, die alle Beteiligten umtreibt: War die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Islamischen Republik Iran nur eine Fata Morgana?" Hier die Besprechung des Films.

Katajun Amirpur kritisiert die Bild am Sonntag, weil diese zwei Reporter ohne Akkreditierung in den Iran geschickt hatte. Dies habe "die deutsche Iranpolitik über Monate hinweg lahmgelegt" und dem Regime in die Hände gespielt: "Während Demonstranten niedergeschossen und niedergeknüppelt wurden, zwang BamS den deutschen Außenminister, dem iranischen Staatsfernsehen ein Foto vom Shakehands mit Ahmadinedschad zu liefern. Danke, Bild, für dieses Bild!"

Besprochen werden außerdem der Film "Jack in Love" von Philip Seymour Hoffman, die DVD von Spike Lees Film "Buffalo Soldiers 44 - Das Wunder von St. Anna", das neue Album "Good News" von Lena und Patrick Bahners' Buch "Die Panikmacher" (über das sich Daniel Bax hoch erfreut zeigt, mehr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

FR, 24.02.2011

Der Mangel an gefilmtem Material ist für Ali Samadi Ahadis Film "The Green Wave" (mehr hier) über den iranischen Aufstand von 2009 eher eine Stärke als eine Schwäche, findet Daniel Kothenschulte: "'The GreenWave' ist nicht nur das filmische Denkmal einer Befreiungsbewegung, die noch lange nicht zu Ende ist. Es ist auch ein Plädoyer für ein Umdenken im Dokumentarischen: Weg vom Sammeln und Draufhalten, hin zum Denken."

Weitere Artikel: Peter Michalzik macht sich in Times mager nach dem annoncierten Abgang Schauspielchefin Karin Beier Sorgen um die Zukunft der Kölner Bühnen.

Besprochen werden die Uraufführung von Fabio Nieders "Bilderfressern", bei denen es sich um Orchesterminiaturen über den Wiener Maler Vito von Thümmel handelt, in Köln, Videoarbeiten von Keren Cytter im Münchner Kunstverein und Patrick Bahners' Religionsverteidigungsschrift "Die Panikmacher", deren kulturkonservativer Akzent in der FR erwartungsgemäß auf offene Ohren stößt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).
Stichwörter: Beier, Karin, Zukunft

NZZ, 24.02.2011

Gerhard Gnauck schildert, mit welch harten Bandagen in der Ukraine um die Geschichte und Erinnerung gekämpft wird. Zu der Stalins Kollektivierungspolitik verursachten Hungersnot fand er einiges bei Wikileaks: "Wenn wir einem 'vertraulichen' Bericht vom 29. Oktober 2008 Glauben schenken, hat der russische Präsident Medwedew mehreren Kollegen in dieser Sache Briefe geschrieben. Darin warnt er sie davor, diese Hungersnot - wie von der Ukraine gewünscht - als 'Genozid' zu verurteilen. An den Präsidenten Aserbeidschans gewandt, fügte Medwedew demnach an, wenn dieser anders verfahre, könne sein Land das von Armenien besetzte Gebiet Nagorni Karabach ein für alle Mal abschreiben. Klare Botschaft aus Moskau: Schulterschluss in der historischen Debatte gegen (etwaige) Unterstützung in einem Gebietsstreit."

Weiteres: Samuel Herzog schildert die immensen Probleme, vor denen Ägypten auch in Sachen Denkmalpflege steht. Marion Löhndorf bilanziert die Filme des diesjährigen Berlinale-Forums. Besprochen werden der Coen-Brüder-Film "True Grit" und Sefi Attas Roman "It's my turn" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 24.02.2011

Michael Borgstede berichtet von Verwerfungen in der ägyptischen Kulturszene, wo jetzt einige Rechnungen beglichen werden. So gibt es Boykott-Aufrufe gegen Künstler wie die Schauspielerin Samah Anwar, die "Kampfflugzeuge und Atomwaffen" gegen die Demonstranten gefordert hatte. "Im ägyptischen Journalismus sind vielleicht bisher die deutlichsten Veränderungen zu beobachten. Beim langjährigen Regierungssprachrohr al-Ahram lagen nur zehn Tage zwischen der Überschrift 'Millionen bitten Mubarak zu bleiben' und dem Aufmacher 'Das Volk verjagt das Regime' am Tage nach dem Rücktritt des Präsidenten."

Im Interview spricht Autor Uwe Timm über seine Novelle "Freitisch": "In guten Novellen wird immer erzählt und gegessen, ich habe ja auch schon einmal eine Novelle geschrieben: 'Die Entdeckung der Currywurst'. In Boccaccios gattungsbildendem "Decamerone" wird ständig gegessen."

Weiteres: Peter Praschl kann immer noch nicht ganz glauben, wie aus Margot Käßmann ein "Popstar der Anständigkeit" wurde. Stefan Keim verzweifelt an der Kölner Kulturpolitik, die jetzt Intendantin Karin Beier so schnell wie möglich loswerden will. Berthold Seewals rühmt Berlins antike Sammlungen.

Besprochen werden Sebastian Groblers Fußballlehrer-Film "Der ganz große Traum", den Matthias Heine zwischen "Das kickende Klassenzimmer" und "Club der toten Kicker" einordnet, Philip Seymour Hoffmans Regiedebüt "Jack in Love" und Barry Koskys Inszenierung von Dvoraks "Rusalka" an der Komischen Oper Berlin.

Zeit, 24.02.2011

Schwere Kritik übt Alice Bota an der EU, die für ihre halbherzige Kritik an Ungarns Mediengesetz wie alle Technokraten bestraft wurde: mit kleinen Korrekturen: "Schöner wurde durch all das nichts, aber hässlicher, weil sich vor allem konservative Politiker in Europa zu Ungarns Komplizen gemacht haben."

Im Interview mit Julia Gerlach spricht Nawal al-Saadawi, Ägyptens große alte Frauenrechtlerin, über die Revolution, über die Würde, die den Ägyptern von den USA und Israel angeblich genommen wird und über den Verfassungsrat: "Wir brauchen jetzt eine politische Kraft von Frauen, und unserer erste Aktion war, dass wir das Militär kritisierten, weil es keine Frau in das Verfassungskomitee berufen haben. Dabei wurden Frauen in der Revolution getötet, und ich selbst wäre fast von einem Pferd überrannt worden."

Weiteres: Jens Jessen hat in "mühevollster Kleinarbeit" den Roman eines Ministerlebens geschrieben. Hanno Rauterberg durfte in Abu Dhabi die Fortschritte bei Errichtung der klimafreundlichen Stadt Masdar begutachten. Mely Kiyak gratuliert Shermin Langhoff, die für ihr postmigrantisches Theater im Berliner Ballhaus Naunynstraße den europäische Kairos-Kulturpreis erhält. Katja Nicodemus bilanziert die Berlinale, auf der ihr ein sehr gegenwartsbezogenes Kino positiv auffiel. Peter Kümmel trifft den Schauspieler und wahrscheinlich bald Oscar-prämierten Königsdarsteller Colin Firth.

Besprochen werden Mark-Anthony Turnages in London uraufgeführte Oper "Anna Nicole", die Andro-Wekua-Ausstellung in der Wiener Kunsthalle, das Album "Different Gear, Still Speeding" von Liam Gallaghers neuer Band Beady Eye, und Bücher, darunter Dave Eggers Katrina-Geschichte "Zeitoun" und Richard Kämmerlings' kurze Nachwende-Literaturgeschichte "Das kurze Glück der Gegenwart" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Für das Dossier schickt Wolfgang bauer eine Reportage aus Somalia, wo der 39-jährige IT-Berater Mohamed Aden aus Minseota gerade die Geschäfte führt: "Er gründete ein Distriktgericht und ein Stadtgericht, verbot das Lynchen, baute ein Gefängnis, ließ das Tragen von Gewehren in der Öffentlichkeit untersagen. Zahlte hier, drohte dort, beendete den Teufelskreis aus Blutrache, indem er aus der Staatskasse die Angehörigen getöteter Menschen entschädigte."

Aus den Blogs, 24.02.2011

(Via knoerer) Jetzt ist gerade ein ganz großer Moment in der Geschichte des deutschen Feuilletons meint Hans Ulrich Gumbrecht in einem Interview-fleuve mit Florian Fuchs vom Umblätterer. Eines seiner Argumente: "Irgendjemand hat mal geschrieben, dass ich einer der wichtigsten Stichwortgeber in der deutschen Kultur der Gegenwart wäre, das fand ich etwas hyperbolisch, aber toll."

Das Verteidigungsminister, so meldet die Financial Times, schaltet eine Werbekampagne in Springer-Medien. Der Verdacht, dass sich da einer bedankt, liegt nicht ganz fern. Der Spiegelfechter kommentiert: "Wenn Baron zu Guttenberg sich denn schon bei der Bild erkenntlich zeigen will, so kann er dies gerne tun - aber aus seinem Privatvermögen und nicht mit Steuergeldern."

SZ, 24.02.2011

Widerstrebend schildert Gustav Seibt die ganz besonderen Bindungskräfte, die einer Figur wie KT zu Guttenberg das politische Überleben nun offenbar sichern: "Das Stehende der Institution und ihres Ethos verdampft unter der Sonne ständischen Glanzes. Der Beifallumtoste mag kurz wackeln, aber vorerst steht er fest, weil jede und jeder, der ihm den entscheidenden Stoß versetzen würde, der wütenden Menge um ihn zum Opfer fallen müsste. Vielleicht ist diese geschichtliche Anpassungsfähigkeit an Zeitumstände das eigentliche Geheimnis achthundertjähriger Familiengeschichten. Aber was unterscheidet solche Durchhaltekraft eigentlich noch von der Zähigkeit eines Silvio Berlusconi?"

Rudolf Neumaier hat unterdessen den von Guttenbergs Doktorvater Peter Häberle verfassten Ratgeber für Promovenden gelesen.

Der amerikanische Widerstandsexperte Gene Sharp erklärt in einem Gespräch, was es bei der Kunst des Regimesturzes zu beachten gilt. Und dass Eingriffe von außen wenig bringen: "Wenn die Bevölkerung ihre Situation nicht ändern will, es keine unabhängigen Institutionen gibt, die Menschen ängstlich sind oder Gewalt anwenden, dann werden sie nicht gewinnen. Aber nach den Ereignissen in Ägypten kann kein amerikanischer Präsident mehr sagen, dass wir ein anderes Land angreifen müssen, um ihm die Freiheit zu bringen. Die Ägypter haben bewiesen, dass ein Volk das alleine kann."

Weitere Artikel: Wie sehr auch ostentativ "ökologische Stadtentwicklung" wie in der Hamburger HafenCity auf Kompromisse gebaut ist, erläutert Till Briegleb. Stephan Speicher freut sich über die Rückkehr der Sammlung griechischer Kunst ins Berliner Alte Museum. Gemeldet wird, dass die Klage der Kinobetreiber gegen Beteiligung an der Filmförderung abgewiesen wurde.

Besprochen werden die Europa-Premiere von Jan Fabres "Prometheus", zwei Regiedebüts, Sebastian Groblers Debüt "Der ganz große Traum" und Philipp Seymour Hoffmans "Jack in Love" (dazu gibt es auch ein Interview mit dem Regisseur und Hauptdarsteller), und Bücher, darunter eine zweibändige Ausgabe mit Werken des Schweizer Dichters Kuno Raeber (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 24.02.2011

Joseph Croitoru stellt das "bizarrste Staatsprojekt" des nun untergehenden libyschen Regimes vor - die von Gaddafis Sohn geleiteten Aktionen um die "Reform"-Wochenzeitung Qyrna, etwa ein Festival im vergangenen August: "Zur Eröffnung, der Saif al Islam persönlich beiwohnte, wurde - wen wundert es - die Operette 'Libyen von morgen' aufgeführt: Zu Hiphop-Musik mit visionären patriotischen Texten führten libysche Jugendliche Breakdance-Kunststücke vor... Auf ihrer Internetseite, die gestern noch über Demonstrationen von jungen Gaddafi-Anhängern ausgerechnet im ostlibyschen Revolutionsherd Benghasi zu berichten wusste, muten die zahlreichen zum Herunterladen bereitgestellten Zukunftspläne des Potentaten-Sohns wie Gespenster einer untergegangenen Ära an."

Weitere Artikel: In einer Erwiderung auf einen FAZ-Artikel des Vorratsdatenspeicherungs-Befürworter Christoph Möllers erklärt CCC-Sprecher Frank Rieger, dass man Recht und Technik nicht einfach so trennen kann, wie Möllers das will. Vielmehr gehe es in Datenfragen längst um ein "komplexes Wechselspiel von Technik, Politik und Recht, das über reale Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung entscheidet". In der Glosse erlebt Andreas Platthaus den Verteidigungsminister im Bundestag als mitleiderregende Figur: "Da reiht jemand einen Fehler an den anderen und merkt es nie. Und will dann doch 'freudig' Minister bleiben." Heftig kritisiert Andreas Rossmann den Umgang der Stadt Köln mit ihrem Theater und der bald scheidenden Intendantin Karin Beier. Den Weg des US-Buchhändlers Borders in die Insolvenz zeichnet Jordan Mejias nach. Die Kinoseite ist mit unter anderem einem Text von Shirin Neshat und der Besprechung einer neuen Publikation über den Regisseur Ingmar Bergman gewidmet.

Besprochen werden ein Kölner Konzert von Joan As A Police WomanClaus Guths "Parsifal"-Inszenierung in Barcelona, die Gabriel-Metsu-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum, die rekonstruierte Foto-Ausstellung "New Topographics" in der Kölner SK Stiftung Kultur, eine CD-Retrospektive der Berliner Free Music Production und Bücher, darunter Erich Loests Tagebuch "Man ist ja keine Achtzig mehr" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).