9punkt - Die Debattenrundschau

Um Gottes willen, es wurde geschlampt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2016. In der New York Review of Books kritisiert die syrische Dichterin Rasha Omran die mangelnde Solidarität arabischer Intellektueller.  Nicht nur die Labour Partei, auch die Tories wurden von ihrem extremen Flügel gekapert, beobachtet der Guardian mit Blick auf die "Hard Brexiteers". Zum Thema "Hate Speech" stellt Constanze Kurz in der FAZ fest, dass die großen Internetplattformen schon jetzt von deutschen Behörden durchaus belämmert werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.10.2016 finden Sie hier

Europa

Die Sunday Times hat gestern eine "heimliche" pro Remain-Kolumne  veröffentlicht, die der heutige britische Außenminister Boris Johnson wohl in einem Moment geschrieben hatte, als er noch nicht entschieden hatte, auf welche Seite er sich schlagen soll - Johnson scheint die Sache ziemlich peinlich zu sein, meldet die Times, die man online nicht lesen kann, heute. Das Schlimmste an dieser Kolumne ist aber nicht, dass sie Johnsons Opportunismus zeigt, schreibt Zoe Williams im Guardian, sondern wie schlecht er formuliert - keine seriöse Regierung würde so einen als Minister nehmen. Wichtiger ist Williams aber, dass Theresa Mays Kabinett ausschließlich aus "Hard Brexiteers" besteht: "Nach den Qudaratkilometern von Zeitungsseiten und unendlichen Stunden von Sendezeit, die dem neuen Extremismus in der Labour Partei gewidmet wurden, ist eine dringlichere Angelegenheit mehr oder weniger übersehen worden. Die aktuelle Regierungspartei ist von ihrem extremen Flügel übernommen worden. Wir machen uns Sorgen über ihre giftige Rhetorik und das Chaos,  das sie anrichten, und verschweigen diskret, dass dies daher kommt, dass sie Fanatiker sind."

Dass die Österreicher auch mal schlampen, ist nichts neues. Dass man daraus aber so ein Gewese macht wie bei der Wahl des Bundespräsidenten, ist neu - und völlig unnötig, meint der österreichische Publizist Armin Thurnher im Interview mit der NZZ mit Blick auf die Klage der FPÖ: "Das war ein juristisch schwacher Bluff, doch die Verfassungsrichter glaubten, es könnte der Eindruck entstehen, wir seien kein Rechtsstaat, weil Kuverts vorzeitig geöffnet wurden. Nicht einmal der Anschein einer Fälschung lag vor, kein Verdacht, nichts. Die FPÖ hat zwar behauptet, dass in Altersheimen massiv manipuliert worden sei, es gab aber keine Beweise. Behaupten kann man alles. ... Ich verstehe nicht, warum nicht die ganze österreichische Gesellschaft diese Partei auslacht. Im Gegenteil: Alle schlagen den Kragen hoch und sagen: 'Um Gottes willen, es wurde geschlampt!'"
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Geschichte

Die Kolonialismusausstellung im Deutschen Historischen Museum trifft nicht wirklich auf positiv gestimmte Kritiker. Nun verreißt auch Stephan Speicher in der SZ die Ausstellung, die sich zwar "mit ihrer stark kulturgeschichtlichen Ausrichtung in den aktuellen Forschungsströmen bewegen" wolle. "Sie möchte den Überlegungen der postcolonial studies gerecht werden und also nicht etwa die Sicht des Nordens wiederholen. Im Gegenteil wird dessen kolonialistischer Blick selbst zum Thema gemacht. Aber das führt im DHM dazu, dass es doch eigentlich immer wieder um den Rassismus geht. Das ist ein Thema von höchster Bedeutung, aber eben ein Thema, das vor allem den Norden betrifft." (Das Bild zeigt eine "Colon-Figur", Offizier, Nigeria oder Kamerun, um 1900, Copyright: Deutsches Historisches Museum.)
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Politik

Die syrische Dichterin Rasha Omran, selbst eine Alawitin, spricht sich seit langem offen gegen das Regime von Bashar al-Assad aus und kritisiert arabische Intellektuelle dafür, dass sie in dem Krieg keine Stellung beziehen. Das gilt auch für Ägypten, erklärt die dort im Exil lebende Dichterin in der NYRB im Interview mit Charles Simic. Noch 2012 wurde ein von ihr initiierter Hungerstreik mit viel Sympathie von Ägyptern begleitet: "These were remarkable days of harmony; Egypt was standing with the Syrian people in their tragedy. That all has changed now. There are no longer a lot of Syrians in Egypt. My friends who went on strike have left Egypt for Europe or the US. I alone have stayed. Currently it's not permitted for Syrians in Egypt to organize anything related to Syria. The Egyptian media mostly support the Assad regime under the justification of fighting terrorism. This also has affected how Egyptians perceive what happens in Syria." (Mehr zum Thema von Rasha Omran auf der Seite des Goethe-Instituts)

Heute stimmt der Bundesrat über die Neuregelung der Erbschaftssteuer nach. Katja Kipping von der Linken ist das alles viel zu harmlos, sie fordert in der FR eine Erbschaftssteuer von 90 Prozent auf alle Vermögen über zehn Millionen Euro, nur so könne die wachsende Ungerechtigkeit in Deutschland wieder verringert werden: "Konsequent und gerecht wäre eine Erbschaftssteuer von 90 Prozent auf jeden Euro oberhalb von zehn Millionen Vermögen - unabhängig davon, ob dieses aus Betriebsvermögen oder in Form von Bargeld oder Luxusgütern besteht. Dieser Steuersatz beträfe gerade einmal 0,2 Prozent aller Vermögensübertragungen, die allerdings von ihrem Volumen fast die Hälfte aller Vermögensübertragungen ausmachen. Auch dies zeigt die ungeheure Ungleichheit bei der Verteilung des Vermögens in unserer Gesellschaft an!"
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Ideen

So richtig ist Demokratie nur im Rahmen von Nationalstaaten möglich, meint der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier auf der Gegenwart-Seite der FAZ: "Selbstverständlich ist diese verfassungsrechtlich verbürgte Staatlichkeit verknüpft mit der im Grundgesetz getroffenen 'unionsfreundlichen' Entscheidung für eine offene Staatlichkeit, nach der staatliche Hoheitsrechte auf die Union übertragen werden dürfen. Das darf aber in keinem Fall zur Preisgabe oder zur substanziellen Gefährdung der Eigenstaatlichkeit führen. Es ist das Bundesverfassungsgericht gewesen, das in mehreren Grundsatzentscheidungen der deutschen und europäischen Politik diese Grenzen aufgezeigt hat. "
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Internet

Google Books hat jetzt freie Fahrt, aber hat Google an Google Books überhaupt noch Interesse? Zuverlässig ist der Dienst jedenfalls nicht, schreibt Klaus Graf in seinem Archivalia-Blog, der zeigt, dass bestimmte Snippets aus alten Büchern, die er er einst über Google fand, heute verschwunden sind: "Offenkundig hat Google die Anzahl der zu einer Suchanfrage angezeigten Snippet-Bücher drastisch reduziert! Ich möchte diese Verschlechterung der Recherchequalität durchaus dramatisch nennen. Die verschwundenen Schnipsel gaben höchst wichtige Hinweise für die Forschung, sie ermöglichen es, entlegene Belege aufzufinden."

Überall wird über "Hate Speech" geklagt, und darüber, dass die Internetplattormen nichts dagegen tun. Aber es ist nicht so, dass Google und Facebook von deutschen Behörden nicht schon belämmert werden, schreibt Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne: "Letztes Jahr stellten deutsche Stellen über elftausend Ersuchen allein an Google, die mehr als achtzehntausend verschiedene Accounts betrafen. Dieses Jahr betrafen die Anfragen allein im ersten Halbjahr schon über dreizehntausend Accounts, wie der gerade veröffentlichte Transparenzbericht zeigt."

Gravierende Gedanken über Demokratie-Gefährung durch Internet macht sich ebenfalls in der FAZ die Regensburger Politologin Barbara Zehnpfennig: "Die Tendenz, negative Emotionen massiv zu verstärken, ohne zugleich zur Suche nach konstruktiven Lösungen zu animieren, ist sicher eines der Probleme, die mit der politischen Meinungsbildung via Internet verbunden sind. Doch es ist nicht einmal das gravierendste Problem. Noch gewichtiger scheint zu sein, dass die Verlagerung der politischen Meinungs- und möglicherweise auch Entscheidungsfindung in die Internetkommunikation zur Delegitimierung des demokratischen Systems beitragen könnte." Auf Zeit online sieht der Autor Henning Ahrens das ähnlich und fordert einen "digitalen Verhaltenskodex", den er nicht näher präzisiert.
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