Bücherbrief

Flucht nach innen

06.10.2014. Eduardo Halfon erweist sich als der Woody Allen Guatemalas. Nino Harataschwili führt durch hundert Jahre georgischer Geschichte. Scholastique Mukasonga erinnert an den Völkermord in Ruanda. Brendan Simms erzählt Europa als Beziehungsgeschichte zwischen Nachbarn. Ulrich Raulff blickt auf die Intellektuellenszene der siebziger Jahre zurück. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unserer Bücherschau des Tages und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Eduardo Halfon
Der polnische Boxer
Roman in zehn Runden
Carl Hanser Verlag 2014, 224 Seiten, 18,90 Euro



Zehn autobiografische Kurzgeschichten verknüpft der guatemaltekische Schriftsteller Eduardo Halfon durch konkrete wiederkehrende Elemente und assoziative Verbindungen zu einem Roman über seine Heimat, über Serbien und die USA, den Holocaust, Jazz und Mark Twain, Indio-, Zigeuner- und Judentum, über Sex und nicht zuletzt über Literatur. Bestens unterhalten hat sich damit Andreas Breitenstein (NZZ), der im Autor einen neuen Stern am lateinamerikanischen Literaturfirmament erkennt und sich von Halfons schrägem Humor bisweilen an Woody Allen erinnert fühlt. Dass sie beim Lesen nicht immer wissen, ob sie es gerade mit Wahrheit oder Literatur zu tun haben, macht Ralph Hammerthaler (SZ) und Ulrich Seidler (FR) zu schaffen. Hammerthaler erliegt letztlich dem Vergnügen, Seidler dagegen fühlt sich als Leser auf der Metaebene des Romans recht arrogant behandelt.


Lutz Seiler
Kruso
Roman
Suhrkamp Verlag 2014, 484 Seiten, 22,95 Euro



Als vor drei Wochen die Nominierungen für den Deutschen Buchpreis bekannt gegeben wurden, kristallisierte sich "Kruso" schnell als klarer Favorit heraus. Lutz Seilers Roman über eine kleine Enklave auf der Insel Hiddensee, die ihr Heil nicht in der gefährlichen Flucht aus der DDR sucht, sondern in der Flucht nach innen, in die Abschottung und Dichtung, ruft bei den Rezensenten einhellige Begeisterung hervor. Fasziniert verfolgen sie, wie sich der Prosaautor Seiler aus dem Lyriker Seiler herausschält und mit seinem Debütroman "sogleich in die erste Reihe der Schriftsteller hierzulande katapultiert" (Alexander Cammann in der Zeit), in einer Reihe mit Uwe Johnson und Wolfgang Hilbig (Jürgen Verdofsky in der FR). Literatur, die bleiben wird, darin sind sich alle sicher: "Ein grandioses Buch, das weit mehr ist als bloß der Roman dieses Jahres", so Helmut Böttiger im DRadio Kultur.

Scholastique Mukasonga
Die heilige Jungfrau vom Nil
Roman
Verlag Das Wunderhorn 2014, 220 Seiten, 16,99 Euro



Wer Erklärungen sucht, wie es vor zwanzig Jahren zu dem Völkermord in Ruanda kommen konnte, der wird im wiederum zwanzig Jahre zuvor angesiedelten Roman "Die heilige Jungfrau vom Nil" fündig. Darin erzählt Scholastique Mukasonga vom Alltag an einer ruandischen Mädchenschule, an der all die Konflikte schwelen, die sich als explosiv erweisen sollten: zwischen mächtiger Oberschicht und mittellosen Bauern, zwischen traditionellen Familien Ruandas und den Weißen, die die kolonialistische Rasseneinteilung prägten, und eben zwischen Hutu und Tutsi. Auch wenn manche Figuren flach und manche Szenen schulmeisterlich daherkommen, gelingt es der Autorin, mit diesem Roman dem Genozid "ein alltägliches und an Situationen festgemachtes Gesicht zu geben", hält Carla Baum in der taz fest. Auch Angela Schader (NZZ) stolpert mitunter über etwas stumpfe Erzählinstrumente, doch wenn Mukosonga beschreibt, wie zwanglos die Schülerinnen zwischen europäischen Normen und afrikanischer Identität hin und her wechseln, dann ist sie sofort wieder gefesselt.

Nino Haratischwili
Das achte Leben (Für Brilka)
Roman
Frankfurter Verlagsanstalt 2014, 1280 Seiten, 34 Euro



Sechs Generationen und hundert Jahre georgische Geschichte auf fast dreizehnhundert Seiten umfasst Nino Haratischwilis an die eigene Familiengeschichte angelehnter Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" - eine Leistung, die den Rezensenten tiefen Respekt abringt. Doch mehr noch als das schiere Ausmaß des Vorhabens beeindruckt sie die souveräne Dramaturgie und die Fülle an durchaus komplexen Figuren, die die Autorin "wie ein nicht sehr lieber Gott" (so Judith von Sternburg in der FR) erschafft und ihrem Schicksal zuführt. Bei aller wimmelnden Vielfalt der im Buch verhandelten historischen Ereignisse behält die Erzählerin doch stets die Übersicht, wie Christiane Pöhlmann in der taz festhält. Auch Tilman Spreckelsen (FAZ) attestiert dem Roman einen meisterlichen Spannungsaufbau und hebt die frische Sprache des auf Deutsch geschriebenen Romans hervor. Dass die Geschichte nur entlang heftiger Schicksalsschläge erzählt wird, verleiht ihr allerdings "etwas Seifenopernhaftes", meint Marie Schmidt in der Zeit.


Yuri Herrera
Der König, die Sonne, der Tod
Mexikanische Trilogie
S. Fischer Verlag 2014, 352 Seiten, 19,99 Euro



Das Mexiko, das Yuri Herrera in seinen drei schmalen, vom S. Fischer Verlag in einem Band versammelten Romanen in den Blick nimmt, ist das, das wir aus den Nachrichten kennen, das Land der Drogenkartelle, Armut und Gewalt. Doch Herrera gelingt es, die Lebensumstände zugleich einzufangen und zu transzendieren, indem er einen "traumgleichen Schleier" über die Welt legt, wie es Tobias Wenzel im DRadio Kultur formuliert, der die Trilogie "atemberaubend gut geschrieben" und von Susanne Lange ausgezeichnet übersetzt findet. Dem kann sich Eberhard Geisler in der NZZ nur anschließen: der bewusste Einsatz der Mittel, die "gelungene Verschmelzung von Stoff und Machart", machen das Buch für ihn zu einem nachhaltigen Lesegenuss.

Robert Seethaler
Ein ganzes Leben
Roman
Hanser Berlin 2014, 160 Seiten, 17,90 Euro



Ein hartes Leben ist Andreas Eggers beschieden, der als Kind aus Wien zu einem gewalttätigen Onkel in die Alpen ziehen muss, später in den Krieg eingezogen wird und in Gefangenschaft gerät und schließlich seine Frau durch eine Schuttlawine verliert. Mit "Ein ganzes Leben" hat Robert Seethaler keinen verklärenden Heimatroman vorgelegt, so viel ist klar, aber auch keine gebirgsselige Zivilisationskritik, wie die tief beeindruckten Rezensenten feststellen. Stattdessen misst der Autor mit seiner Figur ein ganzes Jahrhundert aus, staunt Hannelore Schlaffer in der NZZ. Dabei wird weder die Vergangenheit idealisiert, noch gibt es einen utopischen Fluchtpunkt, der aus dieser Welt herausführt, konstatiert Christoph Schröder in der taz. Nur Bettina Cosack (FR) vermisst bei aller Begeisterung bisweilen das Komödiantische, den "Mut zum Übermut", aus Seethalers früheren Romanen.


Sachbücher

Brendan Simms
Kampf um Vorherrschaft
Eine deutsche Geschichte Europas - 1453 bis heute
Deutsche Verlags-Anstalt 2014, 896 Seiten, 34,99 Euro



Provokant, meint ein faszinierter Gustav Seibt in der SZ, aber faktenreich, neu und pointiert erzählt ist diese Geschichte Europas von 1453 bis heute von Brendan Simms. Zwei Hauptthesen hat der britische Historiker, so Seibt: Außenpolitik war der Motor der neueren Geschichte Europas lautet die erste und im Zentrum aller Kämpfe um die Vorherrschaft in Europa stand - Deutschland, so die zweite These. Man sollte meinen, das wäre in England nicht so gut angekommen, aber weit gefehlt: Norman Stone, Historiker an der Bilkent Universität in Ankara, lobte im New Statesman, dass Simms entgegen angelsächsischer Gepflogenheiten europäische Geschichte als Beziehungsgeschichte zwischen Nachbarn erzähle: Englands zu Frankreich, Frankreichs zu Deutschland, Deutschlands zu Russland und Polen. Unbedingt lesenswert, meint auch der in Oxford lehrende Historiker Noel Malcolm im Telegraph. Denn gerade die Konzentration auf seine zwei Thesen helfe Simms, die ungeheure Fülle seines Stoffes zu bändigen und dem Leser das berauschende Gefühl zu geben, flott voranzukommen. Einen bösen Verriss gab es von dem in Cambridge lehrenden Richard J. Evans, der Simms im Guardian vorwarf, lauter Unsinn zu erzählen (nicht die Deutschen, Frankreich habe bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts als der Riese gegolten, der eingehegt werden müsse). Und überhaupt sei Geschichte kein abstraktes Diplomatenspiel, wie Simms zu glauben scheine. Im Interview mit der Wirtschaftswoche erklärt Simms, warum Deutschland heute dieselben Fehler zu machen droht wie 1453 das Heilige Römische Reich.

Rüdiger Görner
Georg Trakl
Dichter im Jahrzehnt der Extreme
Zsolnay Verlag 2014, 352 Seiten, 24,90 Euro



Zwei Hymnen wurden diesem Buch in unseren Zeitungen gewidmet, eine ohne Reserve, eine mit. Die ohne Reserve ist von Fritz J. Raddatz, dessen Kritik in der Welt mitreißend das Buch, den Dichter und seinen Interpreten feiert. Essayistisch, subjektiv und erzählerisch, so scheint es, nähert sich Görner dem Verehrten. Mehr noch: Auf der Höhe von Lacans Diktum "Lyrik ist Wissen von Unbewusstem" würden Trakls Gedichte brillant analysiert. Nicht Belegtes, etwa Trakls Inzest mit seiner Schwester, wird kenntlich gemacht, Bewiesenes, wie beispielsweise Trakls übermäßiger Kokain-Konsum exzellent enggeführt. Friedmar Apel hat in der FAZ wie gesagt diesen oder jenen Einwand: Das Subjektive überrascht ihn, das Sentenziöse stört ihn manchmal. Aber aufgewogen werde das durch die Perspektivenvielfalt, die Görner eröffnet, sowie - auch hier - die Eindringlichkeit seiner Deutung. In der Presse empfiehlt Wolfgang Straub außerdem Hans Weichselbaums aktualisierte Trakl-Biografie als Ergänzung zu den Gedichtinterpretationen Görners.

Ulrich Raulff
Wiedersehen mit den Siebzigern
Die wilden Jahre des Lesens
Klett-Cotta Verlag 2014, 170 Seiten, 17,95 Euro



Ulrich Raulff ist einer der Mandarine des heutigen Geisteslebens in Deutschland, aber zum Glück auch einer, der zu echter Passion fähig ist. Unvergessen seine aus intensivster Archivarbeit gewonnene Darstellung des George-Einflusses auf die frühe Bundesrepublik, die einen tiefen und verstörenden Einblick in die Restauration deutscher Eliten nach dem Krieg bot ("Kreis ohne Meister"). Sein neuestes Buch ist eine Reminiszenz an die letzte Episode alles umstürzender intellektueller Moden aus dem Zeitalter des gedruckten Buchs: die große Zeit der Foucaults und Derridas. Stephan Speicher bespricht das Buch für die SZ: Er verspricht keine Sozialgeschichte, sondern ein Porträt der Intellektuellenszene jener Zeit, ihres Glanzes, ihrer Protagonisten. Michael Rutschky, der anders als Speicher und Raulff noch aus der 68er-Generation kommt, mokiert sich in der Welt ein bisschen: Etwas behaglich, veteranenhaft scheinen ihm Raulffs Erinnerungen. Aber Raulff ist nicht so harmlos: Im Gespräch mit Arno Widmann in der FR (unser Resümee) erzählt er, dass er sogar lesen konnte, was für ihn nicht zu entziffern war: "Wir lasen die Prawda, wie man zum Beispiel Pilze liest. Man sucht ein Gelände ab und findet darin Pilze." Hier noch ein leider viel zu kurzes Gespräch im SWR.

Sven Beckert
King Cotton
Eine Globalgeschichte des Kapitalismus
C. H. Beck Verlag 2014, 525 Seiten, 29,95 Euro



Tja, der Kapitalismus ist eine unheimliche Sache. Er ist wild und böse und bringt den Fortschritt. Sven Beckert, geboren in Frankfurt und Amerika-Historiker in Harvard (kann es sein, dass Deutschalnd da einen begabten Historiker verloren hat?), hat es gewagt, die ganze Geschichte Kapitalismus anhand eines Stoffs, der Baumwolle, zu erzählen. Detlev Claussen ist in der taz zutiefst beeindruckt: Dass der Autor seinen Text auf solides, in Archiven von Osaka bis Bremen gewonnenes Wissen aufbaut, merkt und schätzt Claussen auf jeder Seite. So gehts von den Anfängen der Menschheit bis in die Gegenwart, schreibt Claussen, der bei Beckert anhand eines bestimmten Produkts erfährt, wie sich der Kapitalismus immer wieder selbst revolutioniert und mit Gewalt und Zwang und alles andere als demokratisch durchgesetzt hat. In der Welt fühlt sich Wolfgang Schneider bei der Beschreibung all der Netzwerke, Makler und Händler an Hauptmanns "Weber" erinnert. Die deutsche Ausgabe des Buch ist übrigens noch vor der amerikanischen erschienen.

Reiner Stach
Kafka
Die frühen Jahre
S. Fischer Verlag 2014, 608 Seiten, 34 Euro



Franz Kafka hat 41 Jahre lang gelebt, aber er hat jetzt eine monumentale Biografie in drei dicken Bänden. Nach den ersten zwei Bänden seiner Kafka-Biografie schließt Reiner Stach sein Werk mit Kafkas Kindheit und Jugend, Studium und ersten Berufsjahren ab. Als letztes kommt also der Band, mit dem alles beginnt. 18 Jahre - also knapp die Hälfte von Kafkas Lebenszeit - hat die Arbeit gedauert, berichtet ein begeisterter Andreas Platthaus in der FAZ. Über die jungen Jahre Kafkas bis 1911 erfährt Platthaus bei Stach ausschließlich Neues, nichts, was in den beiden vorangegangenen Bänden schon verhandelt worden wäre. Besonders imponiert hat ihm, wie der Autor höchste wissenschaftliche Ansprüche wahrt, ohne den Textfluss unnötig zu unterbrechen, und Kulturgeschichte erzählt, ohne Kafka je aus den Augen zu verlieren. Und 18 Jahre Arbeit sind auf keinen Fall zu viel, findet Hellmuth Karasek in der Welt, denn Kafka war ein "Jahrtausend-Autor".


Michael Pollan
Kochen
Eine Naturgeschichte der Transformation
Antje Kunstmann Verlag 2014, 480 Seiten, 29,95 Euro



Vincent Klink, Chef und Chefkoch des Stuttgarter Restaurants Wielandshöhe, bedankt sich als Rezensent in der FAZ bei dem amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Michael Pollan für die "genießerische Grandezza", mit der dieser in "Kochen" in die Grundlagen der höheren Kochkultur einführt: Die einfach-euphorische Sprache des Autors habe es auch nach mehr als vierzig Jahren Küchenalltag geschafft, die Lust aufs Kochen gehörig anzukurbeln, freut sich der Rezensent. Pollan bricht das Geschehen in Topf und Ofen zuweilen bis auf ihre chemischen Grundlagen herunter. Das ist es auch, was Cosima Lutz in der Welt so fasziniert: die Beschreibung der Wandlung von Natur in Kultur, wie sie der Autor allenthalben rund ums Kochen, Schmoren, Braten entdeckt. Hier ein riesiges Gespräch mit Pollan im Smithsonianmag, in dem er erklärt, dass sein Interesse fürs Kochen ursprünglich aus seinem Interesse an Gärten hervorgegangen ist.