Vorgeblättert

Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. Teil 2

12.04.2004.
... und das Glas heben und in das Buch schauen und in die Nacht hinaus und da ja die Vorhänge noch nicht vorgezogen, irgendjemand könnte mich sehen, im dunkelblauen Samthauskleid auf dem Sofa mit dem großen Weinglas und einem Buch und von der Ferne könnte man ja nicht sehen, dass es ein Krimi ist, da wäre es nur ein Buch und gestern hätte man mich 4 Stunden lang lesen sehen können und die Flasche ohnehin nur langsam austrinken und die schönsten Romanhelden sind doch die von Frauen erfundenen, so wie Lord Peter Wimsey, dieser Joe in dem Buch, welche Feinfühligkeit, welche Vorsicht in der eigenen Wirkung, wie viel Überlegung, was die Frau sich wohl denken könnte, was sie dächte, was er falsch gemacht haben könnte, wie er es richtig machen könnte, wie er es richtig machen hätte können, was für ein Gefühlsbündel, dieser Mann, kein Wunder, dass der Gerhard dann, ein Elefant, und eigentlich doch zu dick, zu unbeweglich, dann doch ein Fässchen, das auf dem Sofa nur sitzen kann, oder liegen und einen herumreißen muss, weil er nicht mehr beweglich genug ist, und kein Gespräch, aber ohnehin nie ein Gespräch, mit einem Wiener, mit einem Mann da, nie ein Gespräch, oder nur Gespräche, die Verbindung irgendwie nicht vorhanden, und ja auch meistens stumm vögeln und was bleibt einem dann anderes übrig, als auch zu schweigen und dieser amerikanische Lyriker glaubt dann, die Wiener Frauen wären alle tragische Schmetterlinge und dabei wird nur einfach nichts geredet, ganz untragisch und eine Tragödie erst danach oder immer schon und dieser Autofahrer hätte auch warten können, jetzt habe ich eine Ausrede über die Straße zu gehen und muss dann wieder zu laufen anfangen und die ganze Mühe von vorne und es sind jetzt 17 Minuten und ich könnte auch umdrehen, ich werde sowieso langsamer und dann sind es fast 40 Minuten, aber so richtig heiß ist mir noch nicht und dann ist das Gesicht noch nicht so super entwässert und ich schaue bei der Claudia total aufgeschwemmt aus und sie fragt wieder, was mit mir los ist und schaut so, als wäre ich auf der schiefen Bahn und nicht mehr vertrauenswürdig, ich glaube, es ist ihr sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie, sie möchte eine richtige Tussenriege und alle sollen so sein, wie die ideale Leserin, 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend, aber dann müsste sie auch etwas zahlen, aber sie findet ja immer genug Mäuschen, die schon vom Mitmachen zufrieden sind, und für das Magazin, da soll keine Redakteurin gescheiter sein als die Leserinnen, und der kleinste gemeinsame Nenner ist da ohnehin nur die Vuitton-Tasche und wie die anderen das machen, das würde ich sehr gerne wissen, zahlt denen auch allen der Papa noch etwas zur Miete, die Fixen werden auch nicht so viel bekommen, aber die Tanja und die Mia sagen ja nichts darüber, wenn wir noch zusammenwohnten, dann wäre das kein Problem, und dann hätte ich mir auch den Gerhard erspart, der hätte nicht passieren können, in der Josefstädter Straße, das hätten die Tanja und die Mia nicht erlaubt, da wollten wir nur schöne Männer in der Dusche sehen und ich hätte da nicht wegziehen sollen, da gäbe es immer irgendjemanden, mit dem ich alles besprechen könnte, und dann wäre ich nicht in diese komischen Geschichten gerutscht und das ist ja dann auch nicht erwachsener, irgendwie, und sie haben mir das ja auch nicht verziehen und das ist das Verdächtige daran, wenn sie wirklich meine Freundinnen wären, dann würden sie meinen Schritt respektieren und dann auch nicht in den Redaktionskonferenzen gegen meine Projekte reden, die Mia wird gegen eine Aufklärungsserie sein, sie wird sagen, dass das altmodisch ist, dabei wäre ein Oswalt Kolle revisited wirklich wichtig, in dem Institut da, von dem Kinsey-Report, da kommt ja auch heraus, dass die Sexualpraktiken auf hearsay beruhen, nach wie vor, niemand kennt sich wirklich aus und ist ohne Vorurteile, ich weiß ja auch nicht so genau, wie ein Penis funktioniert, nur einen Schwanz muss man halt zur Kenntnis nehmen, der ist ja ziemlich sichtbar und die Männer sollen sich um sich selber kümmern, aber so eine Kochbuchgeschichte mit Anleitungen und Fragen, was einem Spaß macht, aber alles ausgesprochen und nicht so drüber geredet und dann die Geschichte, die die Ingrid erzählt hat, von der Tochter ihrer Freundin, die von ihr und ihrem zweiten Mann weg zu ihrem leiblichen Vater gezogen ist und jetzt mit ihm zusammenlebt, ist das eine Möglichkeit, holen die zwei jetzt ihre Beziehung einfach nach und weil sie jetzt erwachsen ist, kommt die Sexualität dazu, ist das wirklich falsch, ich könnte es mir mit dem Papa nicht vorstellen, oder will ich es mir nicht vorstellen oder ich darf es mir halt nicht vorstellen, obwohl, so schwierig kann es nicht sein, es könnte vom Essen ausgehen, die Mama sagt, 'Dein Vater, der kann ja nichts anderes als nur essen.' und dann stelle ich mir den Papa vor, wie er am Tisch sitzt und so mit den Knien hin und her wackelt unter dem Tisch, weil er nervös ist und ein schlechtes Gewissen hat, und er tut mir Leid, aber die 2 haben eine klassische Nichtbeziehung, die haben nie über sich geredet und es ist ein Wunder, dass sie die Scheidung geschafft haben, sie könnten immer noch in der Richard Wagner-Straße in Graz sitzen und sie sagt, 'Dein Vater, der kann ja nichts anderes als nur essen.' und er wackelt nervös mit den Knien und isst und war dieser Satz nur eine Aussage über seine Potenz oder war sie auf das Essen neidig und hat deswegen jede Lust am Essen verloren, das Essen ihr vorgezogen oder am Essen die Potenz ausgelebt, aber eigentlich ist sein Essen der Pakt mit seiner Mutter und da hat die Mama nie dazwischen können, da sagt er heute noch nichts und hält zur Oma, und dann hat er der mehr gehört als irgendjemandem anderen und ich verstehe die Mama ja auch, man möchte, dass sie alles tun für einen, und alles hinter sich lassen, als hätte es nichts je gegeben."

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

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