Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.01.2006. Elet es Irodalom dokumentiert die Spitzelberichte, die Istvan Szabo als Student für die Staatssicherheit schrieb. In Nepszabadsag erklärt Szabo, er sei dankbar und nachträglich stolz auf seine Mitarbeit, weil er damit ein Leben gerettet habe. Der Spectator möchte Hitlers rotes Telefon lieber nicht anfassen. Das DU-Heft ist eine Hommage an Ang Lee und sein Kino. In Prospect fordert William Davies eine Ethik der Unbequemlichkeit. Für Przekroj kann allein Moskau den Iran am Bau einer Atombombe hindern. Im TLS erklärt der kanadische Komponist Stephen Brown, was Mozart und Sid Vicious gemeinsam haben. Die New York Times rechnet mit Bernard-Henri Levys Amerika-Buch ab.

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.01.2006

Elet es Irodalom hat eine lebhafte Debatte über den Umgang mit Informanten der Staatssicherheit angezettelt. Ausgelöst wurde sie durch eine Dokumentation über die IM-Tätigkeit des Filmregisseurs Istvan Szabo in den Jahren 1957-1963. Der damalige Student schrieb 48 Spitzelberichte über 72 Kollegen und Lehrer. Neben allgemeinen Stimmungsbeschreibungen an der Filmhochschule ("... das kann nicht als Widerstand bezeichnet werden, die Studenten sind an der Politik, am Werdegang des sozialistischen Lagers nicht interessiert") werden in den Berichten auch private Angelegenheiten der denunzierten Personen angesprochen ("...das Geld machte ihn unverantwortlich und hochnäsig..."). Einige "Mini-Portraits" von Szabo nahm die Staatssicherheit offenbar zum Anlass, die entsprechenden Personen einer "näheren Betrachtung zu unterziehen".

Der Schriftsteller Rudolf Ungvary fragt sich, warum die Ungarn so uninteressiert sind an ihrer jüngsten Vergangenheit. "Es ist eigenartig, wie ein Teil der Bevölkerung darauf verzichtet, den Mechanismus der Staatssicherheit aufzuklären, obwohl gerade die Staatssicherheit die größte Demütigung für ungarische Staatsbürger bedeutete. Heute fühlen sich die Ungarn persönlich beleidigt, wenn ihr beliebter Fußball-Kommentator als ehemaliger Spitzel entlarvt wird, es stört sie aber nicht, dass kein Wort der Entschuldigung aus dem Munde der Denunzianten zu vernehmen ist. Dabei müsste als Folge der kommunistischen Vergangenheit auch vermittelt werden, wie gemein Spitzelei ist. Innere Emigration hat ohne das Bewusstsein einer moralischen Opposition keinen Wert."

Nepszabadsag (Ungarn), 30.01.2006

Der Filmregisseur Istvan Szabo ("Mephisto") reagierte schon am Freitag mit einem Interview auf das Bekanntwerden seiner Vergangenheit als Informant der Staatssicherheit: "Ich bin dankbar und kann nachträglich stolz auf diese Mitarbeit sein, denn dadurch haben wir einen Kommilitonen vor dem sicheren Todesurteil nach der Revolution 1956 retten können. Ich freue mich auch, meine Geschichte (vielleicht auch in einem Film) endlich erzählen zu können, denn sie wird für viele wie ein Heilmittel wirken und ein genaueres Bild von der Zeit 1957 bis 1960 liefern. Meine eigene Verteidigung interessiert mich nicht."

(Inzwischen hat Szabo in einem Radiointerview seine Begründung allerdings revidiert: Er habe sich selbst und sein Studium retten wolle, als er sich vom Geheimdienst anwerben ließ, nicht einen Freund, wie er zuerst erklärt hatte.)

Gestern stellten sich in Nepszabadsag etwa 100 Intellektuelle und Künstler hinter Szabo: "Istvan Szabo macht seit 45 Jahren wunderbare und wichtige Filme für uns und die ganze Welt. Mit unserer Unterschrift möchten wir unsere Verehrung bekunden, die weiterhin bestehen bleibt." Selbst einer der bespitzelten Kollegen, Miklos Jancso (über ihn schrieb Szabo für die Stasi: "er ist unsicher, wie seine Denkweise selbst... jeder hält ihn für verrückt... nichts wird von ihm erwartet, nicht mit ihm gerechnet, die zahlreichen chaotischen Philosophien in seinem Kopf sind aus diesem Grund harmlos...") meint zu Szabos Behauptung, er habe mit der Stasi zusammengearbeitet, um einen Mitstudenten zu schützen: "Wir haben es gewusst, und auch, dass man ihn irgendwie retten musste. Aber dass jemand die Rettung auf diese Weise in Angriff nahm, dass sich Istvan darauf einließ, ist schon großartig. Wie ist er damit die ganze Zeit lang fertig geworden?"
Archiv: Nepszabadsag

Spectator (UK), 28.01.2006

William Cash erzählt, wie er letztens zum Tee bei dem Gentleman-Farmer, Brunnenbauer, Skeletonbob-Fahrer (ein halsbrecherischer Sport, der auch vom St. Moritz Tobogganing Club zelebriert wird) und gelegentlichen Autor Major Ranulf Rayner eingeladen war und ein ungewöhnliches Angebot erhielt: "Gerade als uns eine zweiten Runde Kuchen angeboten wurde, fragte er uns 'Wäre einer von Ihnen vielleicht daran interessiert, Hitlers Telefon zu sehen?' Wir bejahten. Nachdem er eine riesige Panzertür geöffnet hatte, die in ein Gewölbe führte, kam der Major mit einem ziemlich dreckigen und schmierigen roten Telefon zurück, an dem noch das Originalkabel hing. 'Mein Vater wurde zuerst in Eva Brauns Schlafzimmer geführt, wo ihm ihr schwarzes Telefon angeboten wurde. Das wurde als angemessene Beute angesehen. Aber mein Vater sagte in seinem besten Russisch Niet. Er würde das rote neben Hitlers Bett bevorzugen, weil Rot seine Lieblingsfarbe sei. Ich würde sagen, dass das Telefon womöglich das finsterste Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg ist. Ja, ich würde das so klar sagen. Ich habe es nie reinigen lassen.'"
Archiv: Spectator
Stichwörter: Farmer

DU (Schweiz), 01.02.2006

Das neue DU-Heft ist eine Hommage an Ang Lee und sein Kino! Georg Seeßlen untersucht in einem großen Essay die Gemeinsamkeiten in Ang Lees Filmen, die ganz unterschiedlichen Genres abdecken: Comingout-Komödie, Familiendrama, Kriegsfilm, Kostümfilm, Western, Martial-Arts-Film. Es "gibt kein glückliches Ende, wie wir es gewohnt sind - Ang Lees Filme enden vielmehr noch am ehesten mit einem glücklichen Anfang. Vom Verlust der kulturellen und der familiären Wurzeln handeln sie alle, und in seiner Welt gibt es niemanden, der endlich angekommen, der settled wäre (und so viele, die davon träumen!). Aber das Alte und das Neue, das Fremde und das Vertraute, der Sturm und die Ruhe sind in eine neue Balance zu bringen. Das Drama, die vollständige Erfüllung der Geschichte durch das Subjekt, und das Tao, die vollständige Lösung des Subjekts von der Geschichte, bedingen einander. Das ist, für die Kino-Erzählung zumindest, so neu, wie es einst neu war, in einem kubistischen Gemälde mehrere Perspektiven gleichzeitig zu verwenden."

Marli Feldvoß schreibt über Ang Lee als Martial-Arts-Regisseur. (Auch dieser Artikel kann online gelesen werden, er steht unter Seeßlens Text.) Außerdem gibt es ein Interview mit Ang Lee. Weitere Artikel kommen von Jeroen de Kloet, Pia Horlacher, Elisabeth Bronfen und Andreas Ungerböck.

Den schönsten Text hat Annie Proulx geschrieben, nach deren Erzählung Ang Lee seinen letzten Film "Brokeback Mountain" drehte: "Als ich den fertigen Film sah, war ich nicht vorbereitet auf seine Emotionalität, die mich traf wie ein Schlag. Die Figuren erstanden noch einmal in meiner Vorstellung, größer und kraftvoller denn je. Genau das also, was Schriftsteller nicht gern zugeben - in unserer Zeit kann ein Film kraftvoller sein als das geschriebene Wort. Ang Lee hätte, auch wenn er in Barrow oder Nowosibirsk geboren wäre, wahrscheinlich den gleichen Film gedreht. Er versteht Gefühle und hat keine Angst, sich auf gefährliches Terrain zu begeben. Ich war ganz durcheinander."
Archiv: DU

Outlook India (Indien), 06.02.2006

Chander Suta Dogra erzählt, wie die Götter im Himalaya dem Ford-Erben Alfred Ford einen Strich durch die Rechnung machen. Ford nämlich möchte im Himalaya ein Skidorf bauen - im ganz großen Stil:. Zukünftiger Austragungsort der olympischen Winterspiele und Arbeitsstätte für mindestens 3000 Menschen aus der Region. Stellt er sich vor. Die Götter aber, vertreten durch ansässige Seher, wollen nicht. Die Einheimischen verlören Wasser- und Weidenutzungsrechte, die Umwelt würde zerstört und überhaupt: "Wie könnte ein ausländischer Investor die heiligen Berge kaufen?"

Weitere Artikel: Aruna Roy stellt ein Buch vor über die sogenannten economic hit men, hochbezahlte Leute, die weltweit Staaten um Trillionen von Dollar beschummeln, die Weltbank erleichtern und alles in die Hände riesiger Konzerne und einiger mächtiger Familien umleiten (Leseprobe). Und wir lesen über die Erwartungen an die am Wochenende eröffnete Weltbuchmesse in Delhi.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Wasser, Delhi

Prospect (UK), 01.02.2006

Zukünftig sollen die Londoner auch in der U-Bahn mit dem Handy telefonieren können, stöhnt William Davies, der in seinem Essay den Versuch unternimmt, der "digitalen Überschwänglichkeit" eine soziale Vision entgegenzusetzen. Warum traurig sein über den Handy-Empfang in der U-Bahn? Weil "technologische Engpässe mitunter zur notwendigen Bedingung sozialer Interaktion oder wertvoller einsamer Momente geworden sind" und weil sie das für die Gemeinschaft lebenswichtige Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit und der Unausweichlichkeit sozialer Beziehungen bewahren." Daher gelte es, solche technologischen Engpässe nicht auszumerzen, sondern zu erhalten. So zum Beispiel die altmodischen Postämter, die nicht "trotz der Unbequemlichkeit von Warteschlangen und Bürokraten von Wert sind, sondern gerade aus ebendiesen Gründen". Um dies angemessen zu würdigen, brauchen wir laut Davies "eine Ethik der Unbequemlichkeit".

Weitere Artikel: Im Aufmacher beschäftigt sich Chakravarthi Ram-Prasad mit dem bedauerlicherweise tiefen Graben, der zwischen westlicher und östlicher Philosophie verläuft, und erörtert ausführlich, wie sich die westliche, die indische und die chinesische Philosophie-Traditionen zueinander verhalten - unter anderem, was das philosophische Selbstverständnis und die Kategorie der Person angeht. Mit unverhohlener Melancholie berichten Alexander Linklater und Robert Drummond über den Fall der 17-jährigen, mit seltener Schönheit gesegneten Nia, die an Schizophrenie erkrankte und durch medikamentöse Behandlung nicht von ihrer Pathologie befreit wurde, sondern nur ihre Schönheit einbüßte. Alastair Crooke erklärt, inwiefern der Aufstieg der palästinensischen Hamas zur wählbaren politischen Partei als gutes Omen für eine Einigung mit Israel zu werten ist. Als alter Fußballfan ist Simon Kuper ein bisschen enttäuscht, dass der langjährige Arsenal-Spieler Patrick Vieira in seiner Autobiografie ("Vieira: My Autobiography") kaum aus dem fußballtechnischen und -taktischen Nähkästchen plaudert. Und schließlich spricht Duncan Fallowell auf charmant-direkte Art mit dem Töpfer und Transvestiten Grayson Perry - über Männlichkeit, sexuelle Praktiken, Schuldgefühle und Englischsein.
Archiv: Prospect

Gazeta Wyborcza (Polen), 29.01.2006

In der Wochenendausgabe der polnischen Tageszeitung findet sich ein Interview mit dem französischen Historiker Daniel Beauvois, der in seinem Buch die Mythen des polnisch-ukrainisch-russischen Zusammenlebens im früheren Ostpolen (sog. Kresy) in den Jahren 1794-1914 dekonstruiert. So nennt er das Verhältnis zwischen den polnisch-katholischen Adligen und ruthenisch-orthodoxen Bauern schlicht Sklaverei, an die Legende von der religiösen Toleranz im frühneuzeitlichen Polen glaubt er auch nicht. "Ein anderes 'Heiligtum' der polnischen Geschichtsschreibung ist die Adelsdemokratie. In Wirklichkeit nahm der Kleinadel kaum am politischen System teil. Wenn ich so etwas sage, werde ich von Historikerkollegen böse angeschaut. Aber die Entzauberung von Pseudohistorie ist meiner Meinung nach die wichtigste Aufgabe für Osteuropahistoriker. Der Kampf gegen nationale Megalomanien erfordert nüchterne Analyse und Verstand, keine patriotischen Höhenflüge."

Die Analytiker und Politologen Piotr Buras und Tomasz Dabrowski begrüßen den neuen Stil in der deutschen Diplomatie. "Nach den Wahlen vom 18. September weht in der 'Berliner Republik' ein neuer Wind: die Zeit der charismatischen Persönlichkeiten und Ideologien sind vorbei, jetzt herrscht Ernsthaftigkeit und Pragmatismus. Auch in der Außenpolitik wird die Geschichte als Bezugspunkt immer mehr an Bedeutung verlieren, was in Polen eine gewisse Beunruhigung hervorrufen kann."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Das Magazin (Schweiz), 28.01.2006

Im Magazin, das zum Beispiel dem Zürcher Tages-Anzeiger am Wochenende beiliegt, untersucht Karl Wild die ganz besonderen Eingeborenen des weltbekannten Dörfchens Sankt Moritz: "Andere St. Moritzer haben auch ihre Milchkühe. Die manchmal auch Pferde sein können wie bei der Familie Conrad, die einst mit 350 Pferden das Saumtierwesen beherrschte. Heute ist die Martin Conrad AG die Nummer eins im Engadin im Bereich Transporte und Brennstoffe. Und Garagist Christian Mathis verkaufte jahrzehntelang Porsches, Audis und Range Rovers wie Mohrenköpfe. Den Ruf als bester Autoverkäufer der Welt erwarb er sich, als er Fiat-Chef Gianni Agnelli einen Audi quattro andrehte. Heute ruht er sich aus im Tessin."

Andere Texte, wie zum Beispiel das Porträt über den Spitzenkoch Fredy Girardet sind leider nicht online.
Archiv: Das Magazin
Stichwörter: Audi, Tessin, Porsche, Fiat

Times Literary Supplement (UK), 27.01.2006

Emphatisch preist Omer Bartov die Tagebücher "A Writer at War" des russischen Schriftsteller Wassilij Grossman, die der Historien-Autor Anthony Beevor offenbar erst kürzlich gefunden hat. Sie waren die Grundlage, so Bartov, für "Leben und Schicksal", Grossmanns großen Roman über seine Zeit bei der Roten Armee, der mit dem nationalsozialistischen ebenso wie mit dem stalinistischen Terror während des Zweiten Weltkriegs abrechnete. "Was die Tagebücher so wertvoll macht, ist ihre offensichtliche Aufrichtigkeit, Grossmanns kritischer und doch empathischer Blick, und die Art, wie sich seine Bewunderung für den sowjetischen Patriotismus mischt mit dem wachsenden Zorn über die Inkompetenz so vieler Kommandeure und die Bereitschaft des Regimes, das Leben seiner Soldaten zu vergeuden."

Was haben Mozart und Sid Vicious gemeinsam, fragt der kanadische Komponist Stephen Brown. Seine Antwort: "Primitivismus. Rock'n'Roll begann als primitivistische Bewegung und erneuerte sich selbst immer wieder mit Mini-Primitivismen, von denen Punk nur ein Beispiel ist. Mozart als Primitivisten anzusehen, fällt vielleicht ein bisschen schwerer, schließlich wird sein Stil eher mit dem Zivilisierten und Rationalen identifiziert, Dinge, die wir eher mit dem Gegenteil des Primitiven assoziieren. Und doch verdankte die klassische Bewegung in der Musik - wie der Neoklassizismus in der Kunst - alles dem Verlangen danach, neu zu beginnen, alles Falsche und Unwesentliche abzustreifen. Ecrasez l'infame."

Tim Gardam annonciert den siebten Teil von Graham Stewarts offizieller Verlagsschrift "The History of the Times". Jeremy Treglown erinnert an Anthony Powells Zeit als Literaturkritiker bei der Times.

New Republic (USA), 06.02.2006

"Arrivederci Moma", ruft Jed Perl. Er vermisst bei dem kürzlich umgebauten Museumsriesen eine "ernsthafte künstlerische Mission" und beklagt die Kommerzialisierung sowie die "uninspirierten bis peinlichen" Ausstellungen. "Für das Moma hat mit seinem 75. Geburtstag die schlimme Phase begonnen, in der der visionäre Eifer und die megalomanische Energie der Gründergeneration verschwunden ist. Die institutionelle Autorität, die Alfred H. Barr Jr., Gründungsdirektor und Spiritus rector des Museums bis in die Sechziger, fast im Alleingang schuf, hat zwangsläufig ihre dramatische Aura verloren und ist fad geworden: im besten Fall bietet sie eine Form von institutionalisiertem Prestige, das gute Arbeit ermöglicht, im schlimmsten Fall ist sie ein institutioneller Panzer, hinter dem jeder machen kann, was er will."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Jed Perl, Moma

Nouvel Observateur (Frankreich), 26.01.2006

Unter der Überschrift "Die unvollendete Wiedervereinigung" beklagt Christa Wolf in einem Interview anlässlich des Erscheinens ihres Buchs "Ein Tag im Jahr" in Frankreich die anhaltende Dominanz Westdeutschlands gegenüber der ehemaligen DDR. "In diesen 15 Jahren waren nahezu alle ehemaligen Bürger der DDR gezwungen, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Es gibt keinen Platz mehr für Nostalgie oder Beschönigungen." Niemand wünsche sich die DDR wirklich zurück. "Dennoch zeigen Statistiken noch immer Differenzen im Denken und Handeln zwischen Ost- und Westdeutschen: in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern für die Frauen, die Unterordnung von Einzelinteressen unter das allgemeine Wohl, die Verstaatlichung großer Unternehmen, die Vollbeschäftigung, oder dass Solidarität mehr zählt als die ungezügelte Freiheit des Marktes. Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, sie zeigt, dass der 'Osten' auf bestimmten Gebieten (noch) andere Werte bewahrt als jene, die im 'Westen' vorherrschen. In der neuen Generation werden diese Unterschiede mehr und mehr verschwinden."

Al Ahram Weekly (Ägypten), 26.01.2006

Zu welch erstaunlichen Effekten es kommen kann, wenn Puppen und Menschen gemeinsam auf der Bühne agieren, hat Nehad Selaiha während einer Aufführung des Theater-Regisseurs Ahmed Halawa im Al-Tali'a theatre in Kairo erfahren: Man fühlt sich wie ein Kind in einer Märchenwelt, "aber dieser Zauber dauert nicht lang; es folgt eine Art existentieller Furcht, da man, angeregt durch das Bühnengeschehen, über die Bedeutung des Menschseins nachdenkt und ob man nicht in Wirklichkeit auch so etwas ist wie ein Puppe."

Hala Halim war während der Buchmesse auf Podiumsveranstaltungen zum Thema Globalisierung. Hier mussten sich die Diskussionsteilnehmer vom Publikum öfter Elitismus vorwerfen lassen: "Ein junger Mann sagte, 'Sie sprechen über die Globalisierung der Regierenden, aber es gibt auch eine Globalisierung der Regierten. Das zeigten die Menschen, die auf der ganzen Welt gegen den Krieg im Irak protestierten, vielleicht ohne auch nur zu wissen, wo der Irak überhaupt liegt.'"

Weitere Artikel: Rania Khallaf berichtet über - teils heftig geführte - Diskussionsveranstaltungen zu Übersetzungen arabischer Literatur ins Deutsche während der Cairo International Book Fair. Einen Blick auf Kairos Clubszene wirft Serene Assir in einem Artikel. Obgleich Clubs wie das "Latex" oder das "Hard Rock" sehr wohl auch die üblichen westlichen Genres bedienten, schreibt sie, sei der Abräumer auf dem Tanzflur doch immer noch die eigene, die arabische Musik. Und ein Artikel informiert uns, was das zweite Festival des europäischen und des "unabhängigen" ägyptischen Films in Kairo zu bieten hat.
Archiv: Al Ahram Weekly

Przekroj (Polen), 26.01.2006

"Der Iran wird eine Atombombe bauen, und wenn der Westen oder Israel versuchen, das zu verhindern, kommt es zu einem Krieg, den die Welt noch nicht gesehen hat", warnen Wawrzyniec Smoczynski und Marek Rybarczyk in der polnischen Wochenzeitung Przekroj. Die Autoren glauben nicht an den Erfolg der europäischen Diplomatie oder an UN-Sanktionen - wahrscheinlicher scheint ihnen eine amerikanische militärische Intervention - um Israel zuvor zu kommen. Aber "jede offene militärische Aktion wird blutige Reaktionen hervorrufen. Die USA unterschätzen die Stärke des Iran. Eine Eskalation des Konflikts ist dann unvermeidlich." Der Schlüssel zur Lösung des Konflikts liege in Moskau: Würde Russland die Aufkündigung der nuklearen Zusammenarbeit androhen, könnte Teheran an den Verhandlungstisch zurückkehren. "Die Welt wird dann ein weiteres, ungebetenes Mitglied im 'Klub der Atommächte' akzeptieren müssen, auch wenn der reale Einsatz seiner Atomwaffen wenig wahrscheinlich ist."

Außerdem wird die außergewöhnliche Karriere des polnischen Außenministers und gebürtigen Franzosen Stefan Meller beschrieben - ehemaliger Botschafter in Moskau und Paris, in einem "früheren Leben" Mitglied der KP, Buchhalter einer Kosmetikfirma, Dichter, Dozent und schließlich Diplomat.
Archiv: Przekroj

Espresso (Italien), 02.02.2006

Silvio Berlusconi wankt. Der Espresso attackiert ihn. "Psycho Sivlio" prangt auf dem Cover, in der Titelgeschichte erklärt Marco Damilano Berlusconis Rundumschläge der vergangenen Woche als letztes Aufbäumen eines waidwunden Machtmenschen. "Er hat allen und jedem den Krieg erklärt. Den streikenden Arbeitern bei Alitalia ("Es könnte zu Tragödien kommen, wenn man das Militär zur Räumung einsetzt") und den Statistikern ("Die Spitzen von Istat sind von der Linken ernannt worden"). Den verbündeten Christdemokraten und, etwas indirekter, dem Präsidenten Carlo Azeglio Ciampi." Im Interview tritt der Philosoph Umberto Galimberti nach und attestiert dem Ministerpräsidenten, sich für einen "Übermenschen" zu halten.
Archiv: Espresso

New Yorker (USA), 06.02.2006

In einem interessanten Bericht untersucht Malcolm Gladwell die Probleme des so genannten "Profiling" in der Polizeiarbeit. Gladwell wählt als Ausgangspunkt die Entscheidung, das Halten einiger Hunderassen, etwa von Pit Bulls, wegen ihrer Aggressivität zu verbieten, obwohl keineswegs jedes einzelne Tier gefährlich sein oder werden muss. Die Grundlage dieser Entscheidung sei eine "Generalisierung", die eine "oft unvermeidliche und gelegentlich erwünschte Dimension unsere lebensbestimmenden Entscheidungen" darstelle. "Der Prozess, sich vom Besonderen zum Allgemeinen zu bewegen, ist notwendig und gefährlich zugleich. Hinter jeder Generalisierung steckt die Wahl, welche Faktoren berücksichtigt werden und welche nicht, und diese Auswahl kann sich als verblüffend kompliziert erweisen." Was der Autor im Verlauf des Textes unter anderem anhand eines herrlich bizarren polizeilichen Beobachtungsprotokolls belegen kann.

Weitere Artikel: Alex Ross berichtet über die Entdeckung eines verschollenen Beethoven-Mansukripts im vergangenen Sommer bei Philadelphia. Zev Borow glossiert mit der fiktiven Abschrift eines Telefonats die Absicht des Weißen Hauses, die Handygespräche von "sehr bösen Menschen" aufzuzeichnen. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Deposition" von Tobias Wolff.

Rezensiert werden David Leavitts Biografie über Alan Turing und die Erfindung des Computers, "The Man Who Knew Too Much", und der neue Roman "The Good Life" (mehr) von Jay McInerney. Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem Bernard-Henri Levys Buch über das zeitgenössische Amerika, "American Vertigo". Und Anthony Lane sah im Kino das Regiedebüt von Tommy Lee Jones "The Three Burials of Melquiades Estrada" ("Wenn er kein Fan von Sam Peckinpah ist, esse ich seinen Hut") und Lars von Triers Film "Manderlay", eine Fortsetzung von "Dogville" ("Ich bin glücklich, dass es ihn (von Trier) gibt, um unsere Sünden anzuprangern, noch glücklicher bin ich aber, dass er der einzige dieser Art ist.")

Nur in der Printausgabe: Berichte über Berater für junge Mütter in Louisiana, den Papst, den Krieg und die Frage der Vergebung, einen Amerikaner, der im englischen Manchester vermutlich Fußball spielt, sowie Lyrik von Julia Hartwig und Dorothea Tanning.
Archiv: New Yorker

Merkur (Deutschland), 01.02.2006

Karlheinz Bohrer untersucht, wie Heinrich Heine die Stadt Paris zum Sehnsuchtsort deutscher Dichter machte: "Heine machte Paris für alle nach ihm von der Stadt Inspirierten zum Projekt dadurch, indem er in seinen Berichten für die Augsburger Zeitung einen einzigen Gedanken hervorhob: dass die Große Revolution nicht zu Ende ist. Die emotionelle ästhetische Fliehkraft dabei war, dass diese Revolution als ein Ereignis, als ein Schicksalstag der Geschichte, als melancholisches Gestern und als emphatisches Morgen verstanden wurde."

Weiteres: In seiner Philosophiekolumne definiert Christoph Türcke Software als "konfigurierte elektrische Energie" und überlegt, ob dies nicht auch "die einzig illusionslose, präzise, wissenschaftlich haltbare Umschreibung dessen" ist, "was man früher Geist nannte". Christoph von Marschall fragt, wie viel Grau Europäer und Amerikaner an sich selbst und aneinander ertragen. Walter Klier preist die Bücher des Reporters Wolfgang Büscher, darunter "Berlin-Moskau" und Deutschland, eine Reise" als Beispiel für ein Schreiben nach den Ideologien: "Wir, Büscher und ich und alle nach etwa 1950 Geborenen sind die, die eigentlich als erste versuchen können, die Trümmer zusammen zu klauben und uns einen Reim darauf zu machen."

Jeremy Adler erinnert daran, dass die naturwissenschaftliche Bildung einmal die Grundlage moderner Literatur war. Peter Horst Neumann erkennt in Friedrich Rückerts Neigung "zu schönem Gleichklang, wortspielerischen Wiederholgungen und delikaten Redundanzen" die klingende Oberfläche seiner "melancholischen Grunddisposition". Volker Gerhardt fürchtet "Wahrheitverlust durch  Wahrheitstheorien".

Schließlich sind die acht besten Einsendungen des Essaywettbewerbs zu lesen, bei dem es unter anderem um den Einfluss der Bildzeitung und den EU-Beitritt der Türkei ging.
Archiv: Merkur

New York Times (USA), 30.01.2006

"Eine Art Buch" des französischen Vorzeigeintellektuellen Bernard-Henri Levy annonciert uns Garrison Keillor (Leseprobe "American Vertigo"). Wutschäumend, muss man sagen. Denn was Levy, ursprünglich im Auftrag von Atlantic Monthly, da auf gut 300 Seiten "zusammengestoppelt" hat, untertitelt als "Unterwegs in Amerika auf den Spuren Tocquevilles", bietet für den Rezensenten gerade genug Originalität, um noch die allerdümmsten unter Europäern kursierenden Klischees über die Staaten zu bestätigen. Für einen Amerikaner aber scheint der Wiederkennungswert der journalistischen Miniaturen derart gering, dass Keillor vermutet, es handelt sich hier gar nicht um die USA und seine Menschen: "Kann sein, dies ist ein Buch über Franzosen."

Außerdem in der Review: Zwei neu erschienene Aufsatzsammlungen zur Folter, die Lance Morrow ein bisschen zu tendenziös findet: "Die Position der Rechten hat nur Schein-Befürworter. Insgesamt tendieren die Beiträge beider Bücher zur Frömmelei: Folter = böse, ich = gut." Das uns wärmstens empfohlene Romandebüt der gebürtigen Moskowiterin Olga Grushin, in dem ein russischer Künstler seine Ideale an das System verrät und damit im Tauwetter von Glasnost baden geht. Und Biografien: Über Ronald Reagan (Leseprobe "Triumph der Vorstellungskraft"), über den elisabethanischen Dichter und Dramatiker Christopher Marlowe sowie über den 1989 verstorbenen Independent-Regisseur John Cassavetes (Filmografie lesen).

Das Magazin hat die Grippe im Gepäck. Furchterregend, was Jamie Shreeve da untersucht. Sein Artikel führt uns in die Hochsicherheitslabore der Epidemiologen und lässt uns zweierlei hoffen: Erstens, dass Wissenschaftler bald in der Lage sein werden, die Zusammenhänge von Pandemien besser zu verstehen, um Seuchen wie die Vogelgrippe im Zaum zu halten. Und zweitens, dass diese Leute auf der guten Seite sind, ein ruhiges Händchen haben und sich, wie der Autor das tut, immer wieder fragen, "ob, was wir lernen können, auch das Risiko rechtfertigt, das diese Experimente bergen", wenn sie mit Killern wie dem Grippevirus von 1918 hantieren. Sicher nämlich ist nur soviel: "Die nächste Pandemie kommt bestimmt - wenn nicht durch den H5N1-Virus, dann womöglich von einem anderen, noch nicht bekannten."

Daniel Bergner fragt, ob es amerikanische Christen, die in Kenia versuchen, Angehörige vom Stamm der Samburu zu missionieren, nicht vielleicht zu gut meinen. "Vorgesehen sind Gottesdienste unter Akazien ... und Bibelkurse als eine Form des Geschichtenerzählens, das der mündlichen Tradition der Samburu entspricht." Einen Begriff von Sünde und von der Abgetrenntheit von Gott wollen die Missionare den Samburu vermitteln. Die aber haben ihren eigenen Gott, Ngai, dem sie der Überlieferung nach einst durch eine lederne Leiter verbunden waren. "Ein zorniger Samburu zerschnitt diese Leiter, und seitdem ist der Stamm getrennt von seinem Gott."

Weitere Artikel: Alex Witchel besucht den Broadway-Kostümdesigner und vierfachen Tony Awards Gewinner William Ivey Long, der selbst seit dreißig Jahren immer das gleiche anhat: "Marineblauen Blazer, weißes Hemd, gestreifte Krawatte, Khakis, schwarze Schnürschuh." Eine Uniform. Aus gutem Gund: "Wenn ich etwas trüge, worüber die Leuten reden könnten, das würde bloß ablenken. Mein Blick gilt den Leuten." In einem Interview schließlich gibt der Schwarm aller Schwiegermütter, James Blunt, wertvolle Tipps für Musikmuffel: "Wenn dich mein Album langweilt, kannst du prima Frisbee damit spielen."
Archiv: New York Times