Magazinrundschau

Meine Kassen, meine Lieben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.10.2009. In Sinn und Form erinnert sich Fritz Mierau an seine Reise nach Koktebel. Die London Review of Books liest ein Überlebens-Manual für Kassiererinnen. Im Nouvel Obs fragt Yasmina Reza nach der Legitimation der Polanski-Richter. In der New York Review of Books hat Timothy Garton Ash eine Aufgabe für einen brillanten jungen Historiker. Die Blätter berichten über die Blogosphäre in Afrika. Der New Statesman glaubt nicht, dass de Gaulle Nepal regieren könnte. In Nepszabadsag plädiert Andras Gerö für die Monarchie in Ungarn. In Eurozine bewältigt Arne Ruth die schwedische Vergangenheit im Vergleich zur schweizerischen.

Sinn und Form (Deutschland), 07.10.2009

Der Slawist und Übersetzer Fritz Mierau erzählt, wie er im Sommer 1965 auf die Krim reiste um einen Ort zu suchen, von dem er nicht genau wusste, wo er lag oder wie er aussah. An einer Bucht, unmittelbar am Meer fand er ihn. Hier ein Auszug: "Die russische Geistesgeschichte kennt den Ort als Koktebel und den Mann, der ihn berühmt machte, 'fand', gar 'erfand', als den Dichter und Maler Maximilian Woloschin. (...) Nach Jahren in St.Petersburg, Moskau und Paris hatte er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, am alten Karawanenweg von Asien nach Europa seine eigene Karawanserei bauen lassen und dabei tischlernd selbst mit Hand angelegt: Koktebel erschien ihm als der Ort, der ihm und dem er bestimmt war. Tatsächlich ist Woloschins Leben in Koktebel einem Anschmiegen an das Wirken der Elementarkräfte verglichen worden. Ossip Mandelstam erzählt, wie ihm ein Zimmermann Woloschins Grab zeigte, das hoch in den Bergen des Karadag über dem linken Ufer der Iphigenie-Bucht liegt. Als sie Woloschins sterbliche Überreste an den Ort trugen, den der Dichter im Testament bestimmt hatte, seien alle von der weiten Rundsicht überrascht gewesen, die sich ihnen von da über Meer, Berge und Steppe eröffnete. Allein Maximilian Alexandrowitsch habe den Blick für diesen Ort besessen."

Auszüge lesen darf man außerdem aus einem Text von John Carey über John Donne und aus einem Gespräch, das Ralph Schock mit Christoph Hein führte. Nur im Print: Texte von Hans Magnus Enzensberger, Michail Ryklin, Giwi Margwelaschwili, Emine Sevgi Özdemir u.a.
Archiv: Sinn und Form

London Review of Books (UK), 22.10.2009

Rachel Bowlby liest das Buch "Checkout: A Life on the Tills", in dem Anna Sam darüber schreibt, was es heißt, diejenige zu sein, die an der Kasse des Supermarkts sitzt. Die Autorin berichtet aus langjähriger eigener Erfahrung: "Sam hat acht Jahre lang an der Kasse eines großen Supermarkts in Rennes gearbeitet. Sie schreibt ihr Buch in der Art eines Überlebens-Manuals für den angehenden Kassenarbeiter. Kein Drumrum - kein Plot, keine Liebesgeschichte. (Was sollte man nicht sagen, wenn man beim Einstellungsgespräch gefragt wird, warum man diesen Job machen will? 'Weil meine Mutter schon an der Kasse gearbeitet hat'; 'Weil ich immer davon geträumt habe, in einem Supermarkt zu arbeiten') Nur die kleinen Vorfälle und Frustrationen des Alltags, erzählt in einer Serie von winzigen, thematisch geordneten Kapiteln. Am Anfang erhält man ein paar Tage Anleitung, aber nach einem Monat hat man sich ans Piepen, an die Erschöpfung gewöhnt. Man wird zur Maschine; oder, liebevoller gesagt, 'es ist, als würdest du eins mit der Kasse' - 'Mes caisses, mes amours.'"

Weitere Artikel: Sehr genau nimmt sich David Runciman die Thesen des Buchs "The Spirit Level" von Richard Wilkinson und Kate Pickett vor, das im Kern behauptet, dass Ungleichheit auch in reichen Ländern die Lebensqualität für alle so sehr senkt, dass ihr Gleichheit in ärmeren Ländern oft noch vorzuziehen ist. Mit Interesse hat Jenny Diski ein Buch über die Geschichte des amerikanischen Umgangs mit der Menstruation gelesen ("The Modern Period: Menstruation in 20th-Century America"). David Bromwich rechnet mit einem immerzu kompromissbereiten Barack Obama ab. Nicolas Pelham beschäftigt sich mit der Tunnel-Wirtschaft von Gaza. William Feaver besucht die Frank-Auerbach-Ausstellung "Recent Pictures".

Espresso (Italien), 15.10.2009

Umberto Eco wälzt gelegentlich exotische antiquarische Kataloge. Die "Kuriosen und Bizarren Bücher" der französischen Libraires Associe sind ihm vor kurzem in die Hände gefallen. Die besten Fundstücke will Eco den Lesern der Bustina nicht vorenthalten. "In der Auswahl der Werke, die sicherlich ernst gemeint waren, habe ich ein Traktat über den Klagelaut der Taube gefunden, geschrieben von Kardinal Bellarmino (ja, der von Galileo), eines über die Verortung des irdischen Paradieses von Huet (der es in der Nähe von Basra platzierte, völlig entgegengesetzt zu einer Tradition die es im Fernen Osten vermutete, dafür wird Bushs Invasion des Irak endlich verständlich) und das Werk von Pierre Sindico über die Unbeweglichkeit der Erde (1878). Außerdem habe ich entdeckt, dass Ricciotto Canudo, den ich nur als ernsthaften Filmtheoretiker (und als Erfinder des Begriffs der 'siebten Kunst') kannte, außerdem ein Kriegsheld war und sich mit der Musikalischen Metaphysik der Kultur beschäftigte. Ebenfalls vorhanden ist eine schöne Sektion über die Ursprachen der Geschichte, von der Sprache Adams (druidisch, sagt John Cleland, 1776), das Baskische als Sprache von Cam, sagt Pedro Nada 1885, und nicht zu schweigen von den künstlichen Sprachen wie der Langue Bleue von Bollack, 1900, dem 'Syllabaire' von Jallais aus dem Jahr 1923, mit einer Anleitung zum Bau einer Lesemaschine, sowie dem Codex Napoleonicus in Versform von einem Anonymus im Jahr 1811."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Basra, Eco, Umberto, Irak, Metaphysik