Mord und Ratschlag

Leben und Sterben in Schanghai

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
25.04.2003. Die Krimikolumne. Heute: Oberinspektor Chen Cao aus Schanghai untersucht den "Tod einer roten Heldin". Als sich herausstellt, dass sie die Geliebte eines Parteibonzen war, wird der Inspektor kaltgestellt. Doch heimlich ermittelt er weiter...
Der Roman ist ein Nachzügler. Er entstand vor etwa 2200 Jahren in Griechenland und galt gegenüber den älteren Gattungen Versepos, Lyrik und Drama die längste Zeit als minderwertig. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte er sich zur verbreiteten Lieblingslektüre. Das liegt am Verhältnis von Kunst und Geschichte. Romanpersonen haben eine reiche Seele und sind fähig, an überzogenen Ansprüchen zu scheitern. Sie reiben sich an einer dichten Gesellschaft und einem starken Staat, der viel kann und viel zu viel weiß. Romane sind modern: Ihre typischen Stoffe und ihr typisches Publikum gehören zur schwierigen, tendenziell demokratischen Massengesellschaft.

Im Kriminalroman spitzt sich das zu. Zum Beispiel, wenn im Mittelpunkt ein anständiger Polizist steht. Der strampelt sich dann ab zwischen dem, was er offiziell soll (für Gerechtigkeit sorgen), dem, was er tatsächlich soll (den Herren dienen), und dem, was er will (ein gutes Leben und Gerechtigkeit).

So geht es auch Oberinspektor Chen Cao, der in Qiu Xiaolongs erstem Roman "Tod einer roten Heldin" eine Spezialabteilung der Schanghaier Polizei leitet. Die junge Frau, die am 11. Mai 1990 nahe der Stadt in einem Kanal gefunden wird, ist Guan Hongying, als "nationale Modellarbeiterin" eine Vorzeigefigur der Partei. Sie hat, sagt der Gerichtsmediziner, freiwillig mit dem Mann geschlafen, der sie wenig später erwürgt hat. Chen merkt schnell, dass Wu Xiaoming, Sohn eines ehemaligen Propagandaministers, in das Verbrechen verwickelt ist. Nun hat der Oberinspektor einen öffentlichkeitswirksamen Mord am Hals, der rasch aufgeklärt werden soll, aber bloß nicht wahrheitsgemäß. Chen könnte den Fall abgeben, doch ihn treibt die Berufsehre an. Als er seinen Verdacht schon fast zu beweisen vermag, wird er, genau deshalb, suspendiert. Vielleicht droht ihm Schlimmeres als Entlassung: Ein Jahr nach dem Tiananmen-Massaker ist es nicht hysterisch, an gefälschte Anklagen, Arbeitslager und Genickschüsse zu denken. Aber Chen tut dasselbe wie ein nur kaltgestellter Krimipolizist im Westen. Er ermittelt heimlich weiter.

Bald weiß er: Guan Hongying wurde umgebracht, weil sie hartnäckig um ein glückliches Privatleben kämpfte. Ihr Verhängnis war die Übergangszeit. Die Diktatur ist schon schwach genug, dass Einzelne auf die Idee kommen, ihre Lust und Liebe gingen den Staat nichts an; die Kader sind noch stark genug, um solche Leute verschwinden zu lassen. Umgekehrt: Die chinesische Sprache kennt kein Wort für "Privatheit"; das Lebensgefühl aber, dass der Staat bestenfalls ein notwendiges, menschlich peripheres Übel bildet, ist in der Welt. Und damit der Krimi.

Qiu Xiaolongs Schanghai ist viel verständlicher, als man erwarten könnte. Dennoch lässt sich der Roman auch als Reportage über ein seltsames Land lesen, in dem ein wilder, kreativer Kapitalismus herrscht und zugleich die kommunistische Partei. Wie sieht dort der Alltag aus - auf Märkten, in Tempeln, Garküchen, Polizeiwachen, Wohnheimen, Schriftstellerhotels, Massagesalons, privaten Restaurants und an öffentlichen Telefonen, deren Betreibern ganz von selbst ein Therapeuten- oder Blockwartswissen zuwächst? Das Buch bevölkern Hausfrauen, Rentner, Verkäuferinnen, Literaturprofessorinnen, Parteibonzen, Künstler, Ingenieure, Bibliothekarinnen und eine aufregende Journalistin, die leider auswandern will. Alte Menschen, die den Maoismus noch ungedämpft erlebt haben, wirken wie ein Geschichtskurs über Kulturrevolution und Landverschickung, über auf Lebenszeit zugewiesene Wohnungen, Berufe und Ehepartner; auch darüber, warum nicht wenige dem nachtrauern. Und mit dem gebildeten Oberinspektor, der Gedichte schreibt und Krimis übersetzt, kommt chinesische Dichtung in den Roman. Wunderbar, wie wahr die teils uralten Verse geblieben sind.

Qiu Xiaolong wurde 1953 in Schanghai geboren und lebt seit 1988 in den USA, seit 1994 als Literaturprofessor. Er bedankt sich ungewöhnlich grundsätzlich bei seiner Lektorin, die ihm geholfen habe, sein englisches Manuskript "Schritt für Schritt in Buchform zu bringen". Über diese Zusammenarbeit mit Laura Hruska hätte man gerne mehr erfahren. War schon Qiu Xiaolongs Original so leicht konsumier- und glatt übersetzbar, wie geschaffen für den kleinen Massenmarkt der unpeinlichen Unterhaltung? Oder hat die Lektorin vielleicht etwas Sperrigeres, Substanzielleres in der Creative-Writing-Maschine weichgespült? Als Liebhaber des rein künstlerisch Kalkulierten möchte man gerne ein bisschen quengeln, findet aber keinen zwingenden Ansatz. Also Geständnis: gute Stunden verbracht, viel gelernt, Empfehlung.


Qiu Xiaolong: "Tod einer roten Heldin". Roman. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003, 461 Seiten, gebunden, 23,50 Euro