9punkt - Die Debattenrundschau

Eine große Insel der Glückseligkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2014. Tagesspiegel und taz sind sich uneins: ist Deutschland ein standhaftes gallisches Dorf im rechtspopulistischen Europa oder die Ursache des kontinentalen Rechtsrucks? Der BND will sich nicht von der Geheimdienstkonkurrenz abhängen lassen und investiert 300 Millionen in die Live-Überwachung sozialer Netzwerke, berichtet die SZ. Die FAZ geißelt die stümperhafte Desinformation durch ARD-Geschichtsdokus, Jeff Jarvis jene durch das Google-Urteil des EuGH.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2014 finden Sie hier

Überwachung

Der BND möchte sich nicht länger von NSA und GCHQ übertrumpfen lassen. Er hat jetzt ein Projekt namens "Echtzeitanalyse von Streaming-Daten" zur Live-Überwachung sozialer Netzwerke auf den Weg gebracht, für das bis 2020 300 Millionen Euro bereitgestellt werden sollen, berichten John Goetz, Hans Leyendecker und Frederik Obermaier in der SZ. Diese Initiative sei wichtig, um im Wettlauf mit anderen Geheimdiensten nicht ins Hintertreffen zu geraten: "Der deutsche Auslandsgeheimdienst verwies im Gespräch mit Parlamentariern darauf, dass befreundete Nachrichtendienste aus dem Ausland methodisch viel weiter seien als der BND, insbesondere der amerikanische Dienst NSA und der britische Geheimdienst GCHQ. Wenn nicht bald strategisch digital aufgerüstet werde, drohe der BND noch hinter den italienischen und den spanischen Geheimdienst zurückzufallen."

In Netzpolitik freut sich Markus Beckedahl, dass jetzt endlich mal jemand sein Blog liest und fragt: "Wie kommt eigentlich das Timing zustande, dass es jetzt zum ersten Jahrestag der Snowden-Enthüllungen diese Wunschliste gibt? Ist das reine Dreistigkeit von Seiten des Bundesnachrichtendienstes inklusive dem Wissen, dass die Bundesregierung da schon dahinter stehen wird? Oder wurde das gezielt lanciert um die Debatte auf den Bundesnachrichtendienst zu lenken, oder wahlweise um mit neuen Ideen davon abzulenken, was dieser heute schon in Sachen anlassloser Echtzeitüberwachung macht?"
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Europa

"Es muss der kleinste gemeinsame Nenner definiert werden, eine Formel, die dem Umstand Rechnung trägt, dass es kein europäisches Volk, keine europäische Sprache, kein europäisches Narrativ, keine europäische Öffentlichkeit und keine europäische Identität gibt", beschreibt Henryk Broder in der Welt die seines Erachtens wichtigste Herausforderung für den Erfolg der europäischen Idee. Im Feuilleton eilt ihm der tschechische Philosoph Tomas Halík zu Hilfe und schlägt das Christentum als gemeinsamen Nenner vor: "Das Christentum ist nicht darauf angewiesen, eine Flagge zu sein, die über Europa weht. Aber Europa und die Welt sind auf Menschen angewiesen, die dem Wort 'Liebe' jene tiefe Bedeutung wiedergeben, die es einmal in der radikalen Botschaft des Evangeliums hatte."

Im Tagesspiegel singt die Schriftstellerin Pascale Hugues ein Loblied auf Deutschland, das sich bei der Europawahl dem Trend zum Rechtsruck verweigerte: "Mitten in den nationalistischen Entgleisungen und den Wutausbrüchen aus Frankreich, Großbritannien, Holland und Österreich ist Deutschland eine große Insel der Glückseligkeit. Eine Ausnahme. Eines der wenigen europäischen Länder, wo der Rechtsextremismus Pipifax ist, wo er nicht im nationalen Parlament vertreten ist und keine Massen an Wähler mobilisiert."

Ganz anders beurteilt Ulrike Herrmann die Situation in der taz: für sie ist der Triumph des nationalistischen Front national bei der Europawahl die logische Konsequenz aus der deutschen Wirtschaftspolitik: "Die Deutschen führen einen Handelskrieg, indem sie ihre Löhne nach unten drücken. Gegen diesen deutschen Nationalismus haben sich Sarkozy und Hollande vergeblich gestemmt. Nun versuchen es viele Franzosen mit Marine Le Pen."

Weitere Artikel: Christian Thomas fasst in der FR das Interview mit Jürgen Habermas zur Europawahl in der gestrigen FAZ zusammen. Olivier Guez beschreibt in der FAZ den Werdegang von Brigitte Bardot als sinnbildlich für die Entwicklung Frankreichs, resultierend im Erfolg des Front national.
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Internet

(Via Hemartin). Bei Google haben inzwischen 12.000 Personen Anträge auf Vergessen gestellt. Entsetzt äußert sich Jeff Jarvis in der Huffpo: "Dies ist ein höchst besorgniserregendes Ereignis für die freie Meinungsäußerung, das Web und Europa. Der Gerichtshof hat das Recht auf freie Meinungsäußerung von Google, aber auch von dritten Websites und von Einzelpersonen mit Füßen getreten. Der Gerichtshof will Wissen kontrollieren, indem er löscht, was bereits bekannt ist. Dies ist ein Verhalten, das offene und moderne Gesellschaften beleidigt und Tyranneien auszeichnet. Man hätte gehofft, dass europäische Gerichte die Tragweite einer solchen Entscheidung ermessen."

In der FAZ, die das EuGH-Urteil gegen Google so bejubelt hat, bekommt Roland Lindner langsam Muffensausen, was die Folgen des Urteils angeht: "Der Online-Zensur könnten Tür und Tor geöffnet werden." Ein Leserkommentar von Michael Toennies zu seinem Artikel klärt ihn auf: "Das Ziel sind Sie, Herr Lindner, ... Das Ziel ist, den Artikel der Zeitung zu löschen, Ihre Arbeit zu vergessen. Und das wird am Ende der Geschichte auch so passieren, wenn dieses Urteil nicht im Kern angepasst wird."
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Geschichte

"Die Infantilisierung des Zuschauers kennt keine Grenzen", klagt Jörg Baberowski auf faz.net nach der Ausstrahlung des ARD-Films "Stalin in Farbe": "Fast alles, was über Ereignisse und Personen in dieser Dokumentation gesagt wird, ist falsch... Aber wer interessiert sich noch für Fakten, wenn es doch nur darum geht, den Zuschauer mit bunten Bildern zu unterhalten! Nun könnte man einwenden, solche Informationen seien Nebensache, weil sie zur Erklärung nichts beitragen. Mag sein. Aber dieser lieblos zusammengeschnittene Film erklärt nichts, er erhellt nichts. Er ist stümperhafte Desinformation."
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Religion

Für die FR besucht Arno Widmann den koreanischen Religionswissenschaftler Hee Sung Keel, der bei Hans Küng in Tübingen studiert hat, um mit ihm über Buddha und die Welt zu sprechen: "Es hat einen eigentümlichen Reiz, hier unweit von Seoul jemanden mit jenem Begriffsbesteck hantieren zu sehen, das einem so exklusiv christlich, so ganz und gar europäisch vorkommt. Hee Sung Keel und sein weltumspannendes Interesse für Religion mag uns als ein Beleg für die These erscheinen, dass heute jedem von uns alle Überzeugungen zugänglich sind, dass jeder von uns aus all dem seine eigene Sicht zusammenzimmert. Aber wir sollten nicht vergessen: Syrisch-christliche Texte wurden unter anderem neben buddhistischen, konfuzianischen und taoistischen Schriften in den Höhlen in der Nähe der chinesischen Stadt Dun Huang gefunden. Sie stammen aus den Jahren 400 bis 1100 unserer Zeitrechnung. Die Welt wurde nicht erst in den letzten paar Jahrzehnten globalisiert."
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