Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2002. Die SZ schildert Amerikas Kampf gegen Fettleibigkeit. Die NZZ hat die letzten syrisch-orthodoxen Christen in Mardin im Südosten der Türkei besucht. Die FR empfiehlt den Hartporzellanbratapfelzubereiterindex als Indiz für das Ausmaß der Krise des deutschen Mittelstands. In der FAZ gibt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf dem Wähler die Schuld an der Krise.

SZ, 27.12.2002

Die Klage der dicken Kinder gegen McDonalds ist erst der Anfang: In Amerika ist der Kampf gegen das Übergewicht eröffnet worden, berichtet Andrian Kreye. "Der Kampf gegen den Tabak wurde in den letzten zehn Jahren auf sämtlichen gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen geführt. Mit Erfolg: Soziologen stufen das Rauchen inzwischen als abweichendes Verhalten ein - Raucher gelten in Amerika mittlerweile als Versager. Beziehungsweise: als volkswirtschaftliche Schädlinge. Auch die Fettleibigkeit wurde jetzt zum negativen Wirtschaftsfaktor erklärt. Das amerikanische Gesundheitsministerium veranschlagte den Schaden auf jährlich 117 Milliarden Dollar." (Jetzt fehlen noch die Trinker. Als korrektes Verhalten bleibt dann nur noch das Schießen.)

Weitere Artikel: Christine Brinck mahnt uns hinsichtlich Pisa und Volksbildung eindringlich zum Vorlesen. Claus Koch widmet seine Noten und Notizen unter anderem dem wachsenden deutschen Anti-Amerikanismus und den Niedergang des Leithundes USA. Elf Redakteure der SZ stellen ihre ganz persönlichen Lieblingsfilme des Jahres vor - auf Deutsch: Magic Moments 2002. Fritz Göttler wagt erstens einen cineastischen Rück- und Vorblick, stellt zweitens Jutta Hoffmann im Star-Album vor und kommentiert drittens den neuesten Diktatorenvergleich - diesmal wurde der Service der Bahn mit der stalinistischen Volksküche in Verbindung gebracht. Christian Kortmann macht sich anhand der neuen Kalender schon mal ein Bild vom kommenden Jahr.

Besprochen werden Gillian Armstrongs Resistance-Melodram "Charlotte Grey" mit Cate Blanchett, Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig", die letzte Produktion des Frankfurter TAT, eine Ausstellung französischer Meisterzeichnungen im Amsterdamer Rijksmuseum, Neil LaButes Beziehungsdrama "The Mercy Seat" in New York, die Uraufführung von "Bachs letzte Oper" von Stanley Walden in Erfurt, und Bücher, darunter Wilhelm Heinses "Tagebuch einer Reise nach Italien" und Frauke Geykens Studie zum Deutschlandbild der Briten im 18. Jahrhundert (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 27.12.2002

Günter Seufert hat Mardin besucht, die Hochburg am "Berg der Gottesknechte" im Südosten der Türkei. "Es sind weniger einzelne Bauwerke wie die Sultan-Isa-Medrese hoch über der Stadt, die Große Moschee, der zentrale Basar oder einzelne der insgesamt acht Kirchen, die Mardin einzigartig machen. Es ist das geschlossene Bild der am Hang des Tur Abdin gelegenen Siedlung, die erstmals im vierten Jahrhundert vom byzantinischen Historiker Ammianus Marcellinus (mehr hier) erwähnt wird, ihre eigentliche städtebauliche Prägung aber vom 12. bis zum 16. Jahrhundert erfuhr." Hier lebten früher viele syrisch-orthodoxe Christen, von denen die meisten jedoch in den letzten zwanzig Jahren ausgewandert sind, um nicht zwischen der kurdischen PKK und staatlichen Antiterroreinheiten zerrieben zu werden. Heute scheint sich die Lage für sie gebessert zu haben.

Besprochen werden "Duell im Dunkel" - eine Ausstellung über Spionage im geteilten Deutschland im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, die Dauerausstellung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen, eine Ausstellung syrischer Kirchenschätze im Ikonenmuseum und im Dommuseum von Frankfurt am Main, eine Ausstellung madrilenischer Kunst der neunziger Jahre in der neuen Ausstellungshalle des Kulturamts der Stadt Madrid, Mozarts "Zauberflöte" in Luzern und Jan Peter Tripps Dichterkalender (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 27.12.2002

Es muss eine üppige Bescherung gegeben haben bei Karin Ceballos Betancur, jedenfalls kann sie das Gerede über die Krise, in der Deutschland steckt, nicht wirklich ernst nehmen. Ihre eigenen weihnachtlichen Wirtschaftsindizes sprechen eine andere Sprache. "Zunächst einmal muss man wissen, dass der Hartporzellanbratapfelzubereiter (mit Teelicht) aus der Tonya-Reihe von Villeroy und Boch, 44 Euro das Stück, bereits Wochen vor Weihnachten ausverkauft und nirgendwo in Frankfurt mehr zu haben war. Verstehen Sie? Nirgends. Wer die Krise des deutschen Mittelstands diskutiert, sollte dabei nie den Hartporzellanbratapfelzubereiterindex aus den Augen verlieren."

Weiteres: Frank Keil hat dem Grab von Einar Schleef (mehr hier) einen Besuch abgestattet, in Sangershausen im Schatten des Kyffhäusergebirges, und sich dort mit den Freunden Schleefs unterhalten. "kcb" zollt in Times mager dem nahen Jahresende Tribut und beschäftigt sich mit Kalendern. Kurz gemeldet wird, dass Alexander Solschenizyn den zweiten Band seiner umstrittenen Geschichte der Juden in Russland fertiggestellt hat, Dieter Forte die Ehrengabe der Heinrich-Heine Gesellschaft erhält und Christo den New Yorker Central Park verhüllen will.

Besprochen werden die argentinische Kinokomödie "Der Sohn der Braut", die Vincenzo-Bellini-Neuinszenierung "I Capuleti e i Montecchi" an der Staatsoper Hannover und Thomas Bernhards erstes Theaterstück "Ein Fest für Boris" am Berliner Ensemble.

TAZ, 27.12.2002

Sabine Leucht schreibt einen Beitrag zur Rechtfertigung des Theaters, in dem sie sich fragt, was die Bühne in Bezug auf Gewalt noch leisten kann. "Wann brach zuletzt in einem Musentempel das therapeutische Gewitter der Katharsis los? Wen hat die 'helle' Gewalt, wie sie in den optimistischen Sechzigerjahren Living Theatre & Co auf die Bühne bringen wollten, überhaupt je geläutert entlassen? Für die inwendige Genesung gibt es längst die Psychocouch, Gewaltkick und Angstlust kommen billiger per Internet und TV ins Haus." Nach wie vor biete das Theater aber die eindringlichste Darstellung von Gewalt, lautet Leuchts Resümee.

Besprochen werden die Elektrosoundplatte "The Homecoming Concert" von Lame Gold und die neuen Alben von TLC und Toni Braxton.

Schließlich TOM.
Stichwörter: Internet, Homecoming

FAZ, 27.12.2002

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat das Deutschland-Special im Economist vom 6. Dezember (mehr hier) aufmerksam gelesen und weiß nun gar nicht, was er eigentlich auf Arnulf Barings Barrikaden soll. SPD, CDU oder FDP - alles eins, alles Schönfärber, alle unfähig zu präziser Krisendiagnose, meint Graf. Und wer ist schuld daran? Die Wähler. "Die Wähler haben im September mit großer Mehrheit Parteien gewählt, die nicht zu sagen wagten, dass die guten Zeiten der Republik längst vorbei sind. Warum schimpfen diese Wähler jetzt über eine schwache Regierung, die sie soeben erst inthronisiert haben? Warum laufen sie nun scharenweise der Union zu, deren Handlungsspielräume nicht viel größer wären? Die Bundesrepublik Deutschland ist das einzige Land der EU, in dem mehr Bürger 'Sicherheit' einen höheren Rang zuerkennen als 'Freiheit'. Solange sich dies nicht ändert, werden die Bürger die Fesseln gar nicht abstreifen wollen, die sie sich durch Sicherheitsstreben und Konsensfixierung selbst angelegt haben."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus stellt das neu konzipierte Preußen-Museum in Wesel vor. Ute Diehl staunt über die euphorische Aufbruchsstimmung der italienischen Kunstszene, die sich unter anderem in der Renaissance der "Transavanguardia" (mehr hier) in Turin zeigt. Joseph Hanimann berichtet über die Gründung des muslimischen Zentralrats in Frankreich. Karol Sauerland hat in dem Heft "Dialog oder mehr?" einige wichtige Artikel zur deutsch-polnischen Geschichtswissenschaft gefunden: Zwar sei die Vertreibung kein Stein des Anstoßes mehr, aber nationale Perspektiven, unterschiedliche methodische Traditionen und vor allem die Ausklammerung des deutsch-polnisch-jüdischen Verhältnisses machten den Dialog der Historiker nach wie vor schwierig.

"Wir vom Bundesarchiv" stellen heute einen Brief von Albert Einstein an Heinrich Brüning von 1931 vor. Stephan Templ berichtet kurz über das Wiener Schoah-Mahnmal. Karin Leydecker schreibt über den umstrittenen Kindergartenbau von Tomi Ungerer in Wolfartsweier bei Karlsruhe vor. Auf der letzten Seite stellt Julius H. Schoeps Theodor Herzls Staatsutopie und Vision eines Judenstaates in seinem Roman "Altneuland" vor. Christoph Albrecht erinnert an den afghanischen Ministerpräsidenten Afisullah Amin, der vor dreiundzwanzig Jahren von den Sowjets ermordet wurde. Und Wolfgang Sander porträtiert die Tänzerin und Choreografin Mercedes Ellington, Enkelin des Duke.

Besprochen werden der argentinische Film "Der Sohn der Braut" von Juan Jose Campanella, Candida Höfers Fotoserie "Hamburg" im Jenisch-Haus, eine Aufführung von Rimskij-Korsakows "Schneeflöckchen" im Bolschoi-Theater, "Moby Dick" als Hörbuch, Antonio Skarmetas Roman "Das Mädchen mit der Posaune" und eine kulturhistorische Studie über das Lachen in China und Japan im 17. Jahrhundert (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).