Essay

Ein bisschen weniger Als Ob

Von Max Thomas Mehr
02.09.2016. Vor den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin: Poliker des Mainstreams von Linkspartei bis CDU treiben durch eine Abschiebung von Entscheidungen mittels "partizipativer" Demokratie und durch das ohrenbetäubende Beschweigen gemeinsam zu verantwortender Probleme - die Schulden in Berlin! - der AfD Wähler zu.
Die AfD ist wie ein großes Gefäß, in das alle Wähler hereinzufallen drohen, die sich von den sogenannten etablierten Parteien nicht mehr ernst genommen fühlen. Und zu den etablierten Parteien gehören inzwischen alle anderen. In Berlin kann man das derzeit an jeder Straßenecke beobachten: Berlin bleibt günstig, menschlich, gradlinig, frei, stark, gebührenfrei und natürlich bezahlbar. Berlin geht nur zusammen und Kinder sind die wichtigsten start ups. Vielleicht braucht die Stadt noch ein bisschen mehr speed. Doch im Grunde ist sie so schon cool und stark, wird uns von SPDCDUGRÜNENLINKEN auf ihren Wahlplakaten verkündet.  Wie die 60 Milliarden Euro Schulden, die das Stadtsäckel belasten, abgebaut werden sollen, darüber spricht man lieber nicht. Die Wirklichkeit wird aber auch schon im Alltag anders erlebt.

Ein Beispiel: In der Nachbarschaft wurde vor anderthalb Jahren ein ganzes Haus an Roma und Sinti vermietet, mitten im politisch korrekten, im grün regierten Kreuzberg. Keine Flüchtlinge, EU-Bürger mit vielen Kindern. Der Hausbesitzer verdient sich daran eine goldene Nase, der Sozialstaat zahlt Miete, Unterhalt und Kindergeld und die Anwohner verzweifeln, trauen sich aber nicht - und haben auch keine Chance -, ihre SOS-Interessen durchzusetzen.

SOS steht hier für Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit. Vermehrter Diebstahl, Vandalismus, vermüllte Hauseingänge und nächtliche Ruhestörung gehen auf das Konto der neuen Nachbarn. Wer dagegen laut protestiert, wird des Rassismus bezichtigt. Die Grünen im Bezirk sind vor den Problemen abgetaucht. Stattdessen betreiben sie in einem aufwändigen Verfahren gleich um die Ecke die Bürgerbeteiligung auf die Spitze. Man hat sich eine Veränderung für die bei Touristen beliebte Bergmannstraße ausgedacht und will daraus eine "Begegnungszone" machen. Mehr Platz für Fußgänger und weniger für Autos. Das Problem: Die Anwohner wollen lieber das Durcheinander von Fußgängern, Autos und Fahrradfahrern erhalten, statt eine mit Bollern und Verschwenkungen verkehrsberuhigte Fußgängerzone zu bekommen, in der nur noch ab und zu ein Auto geduldet wird. Man lebt schließlich gern in der Großstadt und zum Großstadt-Feeling gehören eben auch Verkehr und das Gewusel. Eigentlich ist die Interessenlage der Anwohner schon nach einer Versammlung klar. Aber die im Bezirk regierenden Grünen haben wohl längst schon Geld für ihre Begegnungszone aquiriert. Nach der Wahl, soviel ist jetzt schon absehbar, wird die Straße wohl umgebaut. Die Partizipationsdemokratie ist längst zur Farce geworden.

Politik, so lernt man da, kümmert sich gern um Probleme, die keine sind und taucht ab, wenn es darum geht, Haltung zu zeigen, wenn es ungemütlich wird, wie bei den Roma und Sinti. Politiker finden Bürgerbeteiligung gut, solange die Bürger so ticken, wie sie selber. Wenn das nicht so ist, dann müsste eigentlich der Streit zwischen Bürgern und Politiker beginnen, eine Debattenkultur entstehen und Partizipationsdemokratie, in der der Wähler nicht wie einst, als die Parteien noch für einigermaßen klar umrissene Milieus und Interessen standen, nur alle fünf Jahre seine Stimme abgibt. Schon jetzt lässt sich feststellen: Wir erleben einen Übergang von der Parteiendemokratie zur Partizipationsdemokratie. Deren Scheitern scheint mir programmiert. Jedenfalls verändert sich die Politlandschaft auf bisher unbekannte Weise. Wohin aber wird die Reise gehen?

Ein Wendepunkt in Berlin war die Diskussion über den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld, der zur großen Niederlage für den damaligen Stadtentwicklungssenator und heutigen Regierenden Bürgermeister Michael Müller wurde. Gegen jede Vernunft und in üblicher sozialdemokratischer Nicht-Kleckern-sondern-Klotzen-Manier sollten am Rand des Feldes eine Landesbibliothek und Großsiedlungen entstehen - natürlich sozial verträglich. Die übliche Quadratur des Kreises also. Zudem wollten die Gerüchte nicht verstummen, dass so mancher ehemalige sozialdemokratische Politiker darauf hoffte, sich an der Entwicklung des Feldes zu Bauland eine goldene Nase zu verdienen. Doch alle Träume platzten - das Volk spielte nicht mit, verbat sich die geplante Bebauung per Volksabstimmung.

Das macht der Berliner Politik bis heute zu schaffen. Denn inzwischen kam die Flüchtlingskrise über die Stadt, der Bedarf an Wohnraum ist kaum zu befriedigen, trotz stetig steigender Baugenehmigungen. Mehr als 50.000 Flüchtlinge allein aus dem letzten Jahr können nicht auf Dauer in Not- und Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Sie am Stadtrand anzusiedeln, wird zu Banlieues führen, in denen dann in zehn, zwanzig Jahren eine nächste Generation von Ausgeschlossenen heranwachsen könnte. Die Art von Partizipation, wie sie sich beim Volksentscheid ausdrückte, führte zwar zu Ergebnissen, doch die sind verheerend. Wie kann sich die derart wachsende Stadt eine solch große Brach- und Wiesenfläche mitten im Zentrum leisten! Die Einzigen, die an dem verknappten Wohnraum verdienen, sind die Spekulanten, die jeden Preis und jede Miete verlangen können, solange es keinen halbwegs sozialverträglichen Wohnungsmarkt mehr jenseits der städtischen Wohnungsbaugesellschaften gibt. Was fehlt: Politiker, die notwendige Entscheidungen auch gegen einen vermeintlichen common sense überzeugend kommunizieren könnten.

Stattdessen sucht man auf Seiten des Senats lieber Kompromisse - und seien sie noch so faul. Das nächste Beispiel für "Partizipation": der Mieten-Volksentscheid. Um die nächste Volks-Abstimmung zu verhindern, einigte sich Bausenator Geisel lieber vorab mit den Initiatoren des Mieten-Volksentscheids auf ein neues Mietengesetz. Es ist schon in Kraft - und gaukelt den Mietern der städtischen Wohnungsbaugesellschaften Partizipationsmöglichkeiten vor. Tatsächlich haben sie aber kaum Mitspracherecht bei der Entwicklung der Gesellschaften, weil die wesentlichen Entscheidungen dort durch politische Rahmenrichtlinien vom Senat vorgegeben werden, denen die Gesellschaften zu 100 Proznt gehören. Das ist ja eigentlich auch richtig so. Weil man aber dem großen Michel vormachen wollte, er könne mehr mitspielen, gab man ihm Mieterbeiräte als neues Spielzeug. Muss ja keiner wissen, das die aufwändig aufgezogene Wahl dieser neuen Mitbestimmer eine Farce ist, weil sie eh nichts zu entscheiden haben. Warum aber sollen überhaupt ohne Not immer mehr politische Entscheidungen aus den dafür vorgesehenen politischen Entscheidungsgremien abgezogen werden, die schließlich demokratisch durch Wahlen legitimiert sind?

Auch wenn es um den lang anhaltenden Streit um die Historische Mitte in Berlin geht, setzt die Politik jetzt auf "Bürgerbeteiligung". Etliche Bürgerversammlungen wurden abgehalten. Auffällig: am lautstärksten zeigten sich dort etliche Kiezbewohner, die seit 40 oder mehr Jahren rund ums Rathaus und den Alexanderplatz in den Resten der DDR-Moderne zuhause sind. Sollen aber tatsächliche diese paar tausend Kiezbewohner darüber entscheiden, wie die Stadt ihre historische Mitte gestalten möchte? "Gehört" ihnen tatsächlich diese Mitte der gesamten Stadt? Klar hätten auch die Stadtbürger stärker Einfluss nehmen können, die sich stattdessen die Rekonstruktion der alten Straßenzüge wünschen, ähnlich wie es in Dresden rund um die Frauenkirche gelungen ist. Aber welcher Nicht-Politiker hat den langen Atem, sich an bis zu zehn mehrstündigen Sitzungen zur Ermittlung von "Bürgerwünschen" zu beteiligen - und welcher Bürger kann eigentlich die komplexe rechtliche und architektonische Situation in Berlins Mitte beurteilen?

Es entsteht der Eindruck, als würde Bürgerwillen so nur zur nachträglichen Legitimation von Entscheidungen erhoben, die längst woanders gefällt wurden - nur von wem und warum, das wird eben nicht transparent und kommuniziert.  Bunte Kärtchen beschriften, das dürfen die Wähler, aber wissen, warum wann wie was entschieden wird, das dürfen sie nicht. Genau so wächst auf dem Boden einer nur gespielten Partizipation der "Wutbürger". Er hat erfahren: seine Stimme zählt nicht bei den Politikern, die heute Entscheidungen fällen, ohne sie mit Gründen zu kommunizieren - und ihn dann noch mit lächerlichen "Bürgerbefragungen" ohne Konsequenzen ruhig zu stellen versuchen. Kein Wunder, dass dieser "Wutbürger" "denen da oben" schon lange nichts mehr glaubt - am wenigsten, dass sie sich für seine Meinung interessierten.

Er erlebt im politischen Personal kein Gegenüber mit Gesicht und Haltung mehr, an dessen konzeptionellem Gestaltungswillen er sich orientieren kann. Es ist fast schon egal, welches Programm die Partei vertritt, der er nun seine Stimme gibt, da es in seiner Wahrnehmung nur noch zwei Parteien gibt: Die AfD und die Anderen. Dass aus dem Nichts heraus bis zu einem Viertel der Wähler auf diese Weise bei den Rechtspopulisten landen, ist wirklich eine neue Qualität. Sie als "Rechte" zu stigmatisieren und auszugrenzen, ob mit oder ohne Stinkefinger, hilft nicht.

Mit ihren zweieinhalb Themen: Flüchtlings-, und Migrationskrise und der Eurokrise kann die AfD solange reüssieren, wie die anderen Parteien die Folgen dieser Krisen herunterspielen. Als die Grünen in ihren Anfängen in ähnlicher Fundamentalopposition zu den "etablierten" Parteien standen, und mit den Risiken der Atomenergie ihr Thema gefunden hatten, wie jetzt die AfD mit den Flüchtlingen, war es ziemlich egal, welche internen Machtkämpfe sich Trittin, Fischer, Ditfurth und Co. lieferten. Man hätte Besenstiele zu den Wahlen aufstellen können. Sie wären trotzdem gewählt worden.

Es kommt heute also gar nicht darauf an, das Programm der AfD ernst zu nehmen und zu zerpflücken oder auf deren interne Machtkämpfe. Diese Art von Entlarvung läuft ins Leere. Es kommt darauf an, dass die anderen Parteien selbst glaubwürdige Wege aus der Migrations- und Eurokrise finden, mit Gründen für ihre Entscheidungen streiten und Alternativen bieten, die die AfD nicht hat und noch nicht einmal braucht, solange sie ausgegrenzt bleibt. Ein bisschen weniger "Als-Ob-Bürgerbeteiligung" betreiben. Der Michel kann mehr Wahrheit vertragen! - ja, er will mehr Wahrheit statt softer Wahlkampflügen und er will Alternativen, zwischen denen er sich entscheiden kann. Dafür braucht es natürlich auch eine Öffentlichkeit und Medien, die diesen Prozess begleiten und hinterfragen.

Globalisierung und naive Europaseligkeit haben noch ein anderes Problem an die Oberfläche der politischen Agenda gebracht, mit dem "wir" uns schwer tun und das unsere europäischen Nachbarn nur noch nervt und der AfD Stimmen bringt. Um mit der Auseindersetzung über die Holocaust-Vergangenheit klarzukommen, verzichtete die neue bundesdeutsche Gesellschaft auf ein nationales Selbtbewusstsein - und suchte als Kern Erlösung in einem besseren Europa. Im Westen der Republik noch mehr als im Osten. Dort allerdings ist diese Vergangenheit noch gar nicht in ihrem ganzen Ausmaß als Teil der eigenen Geschichte angekommen und akzeptiert worden. Nationale Identität ist nur noch bei Fußballturnieren erlaubt. Nationale Interessen werden hinter europäischen versteckt.

Der übertriebene Willkommensgestus, mit dem "wir" die Flüchtlinge und Migranten im letzten Herbst begrüßt haben, deutet sich heute nach den Silvesterübergriffen in Köln und anderswo und erst recht nach den Anschlägen von Islamisten in diesem Sommer erstmals auch in Deutschland eher in Angst um. Auch dieses "wir" zu bestimmen und zu definieren fällt uns offenbar schwerer als den anderen europäischen Ländern. Verunsichert begegnen "wir" inzwischen den muslimischen Fremden, die im letzten Jahr zu hunderttausenden ins Land gekommen sind, deren Lebenswelten und Religion die Aufklärung allerdings genauso fehlt wie ein Achtundsechzig. Gehören die Zugewanderten jetzt zum "wir", nur weil sie da sind? Welche Identifikation mit unseren Werten ist die Voraussetzung, um zum "wir" zu gehören. Reicht Loyalität aus?

Je weiter die Globalisierung voranschreitet, desto mehr Bedeutung gewinnt die Nation. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch es ist mehr als ein unbewußter Reflex. So langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Auch Europa kann nur funktionieren, wenn es in seinen Staatsvölkern immer wieder demokratisch legitimiert wird. Ohne klare Definition von Nation und Staatsvolk, des "wir" also, können Demokratie in den Ländern und europäische Integration nicht funktionieren - und der Sozialstaat erst recht nicht. Der Habermas'sche Verfassungspatriotismus reicht offenbar für die Bestimmung des "wir" nicht aus. Nationalbewusstsein und nationale Interessen sind die Voraussetzung dafür, dass im Europa der Vater- und meinetwegen auch Mutterländer das richtige Maß zwischen Integration und Eigenständigkeit ausgehandelt wird. Dass Erdogan hierzulande mit seinen halbverlorenen Migranten Politik machen kann und Putin mit den Russlanddeutschen, ist auch das Ergebnis unseres Mangels an Patriotismus und an offen formulierten nationalen Interessen - auch gegenüber solchen Einwanderern, die sich unser Land eher weniger liberal und weltoffen wünschen. Schon gewinnt die AfD gerade in den Hochburgen der Russlanddeutschen überproportional Stimmen. Bei den Erdogan-Anhängern unter den Migranten haben sie auch gute Chancen. Schöne neue Multikulti-Welt.

Am Besten nimmt man der AfD den Wind aus den Segeln, wenn über Patriotismus und darüber, was unsere Nation und unser Staatsvolk ausmacht, über das "wir" also, in allen Parteien offen gestritten wird, und dabei die Gesellschaft insgesamt nicht überfordert, sondern mitgenommen wird. Das kann nur gelingen, wenn die Parteien und ihre politischen Führungen begreifen, dass sie unsere Parteiendemokratie selbst retten müssen. Ihre traditionellen Milieus allein tragen sie nicht mehr. In Berlin wäre es zum Beispiel vermutlich sinnvoll, statt all dieser Partizipationshäppchen, die zu Enttäuschungen und immer neuen "Wutbürgern" führen, lieber den Regierenden Bürgermeister direkt zu wählen. Das wäre echte Partizipation und daraus würden auch die Parteien und ihr Personal gestärkt hervorgehen.

Max Thomas Mehr