Efeu - Die Kulturrundschau

Jeder Satz muss ans Ziel

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05.01.2017. Die NZZ bewundert das göttliche Licht der indischen Pahari-Malerei. Eher reserviert begegnet der Standard im MAK dem Handwerk für die Eliten. Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt Martin Walser von seinen Existenzmomenten. In der taz erklärt der Club der polnischen Versager, warum er Antoni Krauzes Propagandafilm "Smoleńsk" ins deutsche Kino bringt. Die Zeit sehnt sich nach neuen Formen für das Politische in der Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2017 finden Sie hier

Kunst

Krishna entkleidet Radha, Illustration zu einem Lied, Indien, Pahari-Gebiet, Kangra, 1825-1830 © Museum Rietberg Zürich, Geschenk Sammlung HorstKrishna entkleidet Radha, Illustration zu einem Lied, Indien, Pahari-Gebiet, Kangra, 1825-1830 © Museum Rietberg Zürich, Geschenk Sammlung Horst
Eine Ausstellung indischer Pahari-Malerei im Zürcher Museum Rietberg zeigt NZZ-Kritikerin Maria Becker farbenprächtige höfische Malerei vom allerfeinsten: "Es ist nicht bloßes Beiwerk, wenn die Ausstellung die Werkzeuge, Pigmente und Malstoffe in einer Vitrine zeigt. Mit einem Achat wurde die Malerei auf der Rückseite des Papiers poliert, um die Pigmente zu verdichten. Die Maler erzielten so eine erstaunliche Leuchtkraft der Farben und eine emailartige Oberfläche. All dies war ein Prozess der Transformation. Die Farbe stand in der indischen Philosophie für das göttliche Licht, und ihre Herstellung gehörte zum spirituellen Weg des Künstlers. Gemalt wurde mit einem Pinsel aus Eichhörnchenhaar, mit dem der Künstler feinste Details wie Wimpern oder punziertes Gold wiedergeben konnte."

Handwerk. MAK Wien Les Compagnons du Devoir, Fahrrad, 1997. Foto: © MAK/Georg Mayer
Etwas mehr politisches Bewusstsein hätte sich Standard-Kritikerin Almuth Spiegler von der Ausstellung "Handwerk" im Wiener MAK gewünscht. Gerade weil das Handwerk im Westen durch die "Maker"-Szene wieder äußerst aktuell geworden ist: "Der Widerspruch zwischen völlig unterschiedlichen Handwerksrealitäten rund um die Welt wird hier schlicht ignoriert. Man folgt von den ersten Werkzeugen der Menschheit an, prähistorischen, wunderschön symmetrisch gearbeiteten Faustkeilen aus dem Naturhistorischen Museum, dem ästhetischen Pfad, eher dem Prachtboulevard, den die Reformbewegungen um 1900 ursprünglich mit bestem Gewissen einschlugen: als sie nämlich höchste Qualität für alle forderten, indem sie Kunst, Handwerk und Alltag zu einer noch nie gesehenen ästhetischen Perfektion vereinten. Am Ende aber doch nur Kunsthandwerk für die Eliten produzierten. Bis heute funktioniert dieses Programm, wenn auch ästhetisch unendlich differenzierter."

Besprochen werden die Ausstellung "Ramses - Göttlicher Herrscher am Nil" im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe (Welt), eine Ausstellung von "artiger" Kunst im Sinne der Nazis im Museum unter Tage der Universität Bochum (taz), eine Ausstellung des südafrikanischen Künstlers William Kentridge in der Londoner White Chapel Gallery (Standard) und eine Ausstellung zur Kunst der Österreichisch-Ungarischen Monarchie der Jahrhundertwende in der Kunsthalle Budapest (sie bescherte Standard-Kritiker Robert Quitta die Entdeckung "nahezu ausnahmslos eigenständiger und origineller Meister ihres Fachs", von denen er noch nie gehört hatte).
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Literatur

In seinem neuen Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank" hat sich Martin Walser von belletristischen Zwängen so frei gemacht wie nie zuvor, erklärt der Schriftsteller in der Berliner Zeitung gegenüber Martin Oehlen: "Ich habe noch nie so viele Existenzmomente geschrieben wie dadurch, dass ich jetzt die Belletristik-Tour vermieden habe: 'Ich hisste mich noch schnell wie eine Fahne hin zum Königsplatz.' Zuerst dachte ich auch an den Untertitel 'Für Leser, die schon viel gelesen haben!' Das Wort Existenzialismus ist verbraucht - aber noch nie wurde bei mir so viel existiert wie in diesem Buch. Jeder Satz muss ans Ziel." Besprochen wird das Buch in Tagesspiegel, SZ und FAZ.

Weitere Artikel: Die FAZ druckt Art Spiegelmans autobiografischen One-Pager-Comic "Warteschleife bei Dr. Godot" ab, in dem der Comicautor seine Beckett-Lektüre während seiner Tumorerkrankung verarbeitet (hier die Originalversion bei der New York Times). Für die FAZ hat Gerrit Reichert das Tagebuch von Friedrich Grade, dem bald hundertjährigen und dem letzten Überlebenden der U96, über die Lothar-Günther Buchheim seinen zum Filmklassiker gereiften Roman "Das Boot" geschrieben hatte, in Augenschein nehmen können: Der überhöhte Heroismus in Roman und Film werde angesichts dieser historischen Quelle (hier hinter einer Bezahlschranke zugänglich) endgültig als Fiktion kenntlich, schreibt Reichert. Vor hundert Jahren ist der Schriftsteller Robert Antelme geboren worden, schreibt Ingeborg Waldinger in der NZZ.

Besprochen werden Harry Rowohlts "Und tschüs" (FR), Alan Pauls' "Geschichte des Geldes" (online nachgereicht von der Zeit), Zelda Fitzgeralds Erzählband "Himbeeren mit Sahne im Ritz" (FAZ), John Fantes "1933 war ein schlimmes Jahr" (SZ) und Jan Kjærstads "Der König von Europa" (FAZ).
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Film



Nachdem die große Berliner Premiere des polnischen Films "Smoleńsk" von Antoni Krauze geplatzt ist (mehr dazu in unseren Presserundschauen), zeigt nun das Kino Babylon den umstrittenen Film, der die Verschwörungstheorie nährt, dass der polnische Präsident Lech Kaczyński bei einem Flugzeugabsturz 2010 Opfer eines gezielten Anschlags geworden sei. Mit persönlichen Überzeugungen habe die Entscheidung für diesen Film allerdings nichts zu tun, versichert Adam Gusowski vom Club der polnischen Versager, der die Vorführung angeregt hat, gegenüber Bert Schulz in der taz: In Polen reife nämlich die Ansicht, dass "in Deutschland die 'polnische Wahrheit' blockiert werde. Diese These wird immer größer, bedeutender, je länger der Film nicht gezeigt wird. ... Wenn wir den Film nicht zeigen, wird seine Wirkung noch größer, die Stimmung noch aufgeheizter. So lassen wir aus diesem Propaganda-Ballon die heiße Luft raus: Wir zeigen den Film so, wie er ist. Er entlarvt sich selbst. Das ist zumindest die Idee." Schade allerdings, dass in der Programmankündigung von dieser kritischen Haltung nicht der Hauch einer Spur zu finden ist.

In Deutschland schießen die Filmfestivals wie Pilze aus dem Boden. Zugleich sinkt aber auch die Zahl jener Filme, die jenseits des Festivalbetriebs überhaupt noch ein Publikum finden, schreibt Urs Spörri auf kino-zeit.de. "Filmfestivals müssen als kommerzielle Auswertungsplattform anerkannt werden!", fordert er daher. "Mit eigenen Auswertungswegen: Nach dem Festival wären die Möglichkeit des day-and-date-release (online zum Ende des Festivals) und gezielte Veranstaltungen an Off-Spielstätten sinnvoller als eine erzwungene Kinoauswertung, die weniger den Filmen selbst als den Verleihern und den Kinos nutzt."

Weiteres: In der NZZ denkt Christina Tilmann über Künstlerbiografien nach, die sich im Kino derzeit ballen, ohne dabei aber viele Ideen vorweisen zu können: "Man fragt sich, was es über unsere Zeit und ihr Kino sagt, wenn ihr zum Thema Kunst im Film vor allem ästhetisch nicht mehr einfällt." Zahlreiche Serien flüchten vor der Gegenwart in die Zukunft oder die Vergangenheit, schreibt Alex Rühle in der SZ: Es finde geradezu "eine kollektive imaginäre Auswanderungswelle" statt, "Hauptsache weg aus der Gegenwart, in eine ferne Zukunft oder irgendwelche Kapitel der (meist amerikanischen) Vergangenheit." Über die Funktion von Musik und Geräusch im Horrorfilm schreibt Raphael Smarzoch in der Jungle World. Für die SZ wirft Philipp Bovermann einen Blick in die Welt der videoessayistischen Filmkritik, deren avanciertesten Akteure wie Tony Zhou und Kevin B. Lee mittlerweile als Filmemacher im Gefolge Harun Farockis begriffen werden können. Hier Lees ziemlich fantastischer Essay "Transformers: The Premake":



Besprochen werden Park Chan-Wooks Erotikthriller "Die Taschendiebin" (taz, Welt), der Science-Fiction-Film "Passengers" mit Jennifer Lawrence (Welt, mehr im Efeu von gestern), Hugo Géilns französisches Feelgood-Movie "Plötzlich Papa" ("eine geradezu kriminell-tränendrüsige Schnulze", schimpft Daniel Kothenschulte in der FR), Jake Witzenfelds Dokumentarfilm "Oriented" (taz), Juho Kuosmanens "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" (taz), Stefan Sagmeisters und Hillman Curtis' Dokumentarfilm "The Happy Film" (taz, Standard), Veit Harlans am Freitag im Berliner Zeughauskino gezeigtes NS-Melodram "Opfergang" (taz) und Roger Fritz' wiederentdeckter 60s-Film "Mädchen, Mädchen", den das Münchner Werkstattkino heute zeigt (SZ).
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Bühne

Auf der Bühne macht die Kunst in Zeiten von Flüchtlingskrise, Terroranschlägen und Rechtspopulismus keine gute Figur: Entweder wanzt sie sich bis zur Verwechselbarkeit an die Wirklichkeit ran oder sie setzt sich bequem in die Tradition. "Waren wir da nicht längst viel weiter", fragt Christine Lemke-Matwey in der Zeit. "Gab es nicht Zeiten, von Friedrich Schiller bis Bernd Alois Zimmermann, von Samuel Beckett bis Christoph Schlingensief, in denen sich das Politische in der Kunst auch formal ausdrückte? Zimmermanns Vorstellung von einer 'Kugelgestalt der Zeit', Becketts absurdes Theater, sie eröffneten fremde, ganz eigene Welten, stellten Gesetzmäßigkeiten auf, an denen sich die Wirklichkeit brach."

Außerdem: Im Tagesspiegel gratuliert Frederik Hanssen der Operndiva Grace Bumbry zum Achtzigsten.
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Musik

Im Tagesspiegel porträtiert Fabian Wolff das HipHop-Duo Run The Jewels, deren Mischung aus "schmutzigem Südstaatenrap und kantiger Brooklyn-Elektronik" auf ihren neuen Album (hier gratis) das ohnehin schon hervorragende Rapjahr 2016 noch veredle. Für Electronic Beats spricht Nadine Raihani mit dem Ambientkomponisten Deru. Der Dirigent Georges Prêtre ist gestorben, melden mehrere Zeitungen, darunter die NZZ. Besprochen wird das neue Album von Romare (FR).

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Architektur

Die Zeit hat einige ihrer Artikel zum das bevorstehenden Jubiläum der Bauhaus-Gründung online nachgereicht. Tobias Timm annonciert eine große drei-teilige Ausstellung (mehr hier), die den globalen Einfluss des Bauhauses untersuchen will: "Im Oktober reisten sie nach Japan und erforschten die Geschichte des dort 1931 von Renshichirō Kawakita gegründeten Institute of Lifestyle Research. Der japanische Architekt konnte Deutsch lesen und interessierte sich für das Bauhaus. Er lud japanische Bauhaus-Schüler ein, mit ihm an der Schule zu lehren. Sie forschten und arbeiteten an synästhetischen Phänomenen, an Tönen, die Farben evozieren, und Ähnlichem mehr. Es ging diesem japanischen Institut aber nicht nur um das Design, sondern auch um die kollektive Gestaltung des Lebens. Um einen lebensreformerischen Ansatz also, wie er auch im deutschen Bauhaus zu finden war."

Außerdem: Jens Jessen erzählt von seinem Karl-Schneider-Haus, das ihn in beim Renovieren in eine Farborgie aus der Palette "Avantgarde" stürzte: "Zu dieser gehören Lackflächen an Türen, Innenfenstern und Einbauschränken, die im Ton knapp neben der Wandfarbe liegen: ein Türkisblau neben dem Kobaltblau, ein Schlammbraun neben dem Aubergine. Der Effekt, nicht unähnlich einer verminderten Sekunde in der Musik, ist eleganter als befürchtet, jedenfalls nicht so kindergartenfröhlich wie das Rot an den Außenfenstern." Und Nikolaus Bernau stellt drei neue Museen zum Bauhaus in Dessau, Weimar und Berlin vor.
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Stichwörter: Bauhaus