Heute in den Feuilletons

Wir wollen einfach nicht reif werden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2009. Die Welt klärt die Relevanzproblematik bei Wikipedia. Gawker meldet: Die Washington Post schließt ihre Büros in New York, Chicago und Los Angeles. Die FAZ staunt über das konservative französische Kabinett, das wie ein Mann hinter seinem schwulen Kulturminister steht. Außerdem bringt sich Kai Diekmann für den Chefredakteursposten der taz ins Gespräch. Die SZ erkennt auf liberale Tendenzen des EU-Parlaments bezüglich der Bürgerrechte im Internet. Die Berliner Zeitung bemerkt eine kleine Veränderung bei Twitter.

Welt, 25.11.2009

Hendrik Werner interviewt den Berliner Blogger Felix von Leitner zum Streit um die Relevanzkriterien der Wikipedia. Zensurgelüste oder eine Blockwart-Mentalität sieht er nicht walten: "Das ist ein psychologisches Problem. So wie bei Eltern, die als Kinder geschlagen wurden - und mit höherer Wahrscheinlichkeit ihrerseits zu Schlägern werden. Wikipedianer, deren Herzblut-Artikel wegen irgendwelcher Relevanzkriterien zusammengestrichen oder gelöscht wurden, werden von diesem Moment an auch an alle anderen so hohe Anforderungen stellen. Mindestens - und schon um der Gerechtigkeit willen. So hält sich dieser Kreislauf am Leben. Die viel zitierten Relevanzkriterien waren ja ursprünglich genau anders herum gemeint: Wenn etwas diesen Kriterien entspricht, darf es nicht gelöscht werden - eben weil es relevant ist. Heute wendet man das anders herum an: Gelöscht wird, was den Kriterien nicht vollständig genügt."

Im Gespräch mit Manuel Brug seufzt Antonio Pappeno, Chefdirigent von Covent Garden: "Früher waren 50-jährige Dirigenten bereits würdevolle Männer und wir, wir wollen einfach nicht reif werden. Ich komme mir immer noch wie ein 25-Jähriger vor, der nichts weiß. Ich habe nicht das Gefühl, dass da jetzt die Ernte eingefahren wird - im Gegenteil. Es geht immer wieder von vorne los."

Weiteres: Ulrich Wickert erinnert sich an seinen Freund, den Dramatiker Eugene Inonesco, der vor hundert Jahren geboren wurde. Uwe Wittstock erklärt die neue Entscheidung des BGH zu Maxim Billers Roman "Esra". Jürgen Serke besucht das neue Museum für zeitgenössische Kunst in Prag.

Auf den Forumsseiten versucht Wolf Lepenies, Rück- und Fortschritte des afrikanischen Kontinents zusammenzufassen und konstatiert einen generellen kulturellen Minderwertigkeitskomplex.

Besprochen werden eine Schau des Stiftsschatzes in Aschaffenburg, das neue ergreifende Album von Slayer und Stephen Kings neuer Roman "Die Arena.

TAZ, 25.11.2009

Philip Gessler berichtet über eine Konferenz und eine Doppelausstellung in den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen, die daran erinnern, wie tschechische und polnische Intellektuelle von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurden. Organisiert wurde das alles gemeinsam von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Karls-Universität in Prag und der Jagiellonen-Universität in Krakau. Heide Oestreich denkt über eine neue Studie nach, die mal wieder bescheinigt, dass in Deutschland Frauen nur selten in Top-Positionen aufsteigen. Birgit Glombitza sieht genervt der depressiven Helen in Sandra Nettelbecks gleichnamigem Film zu und wünscht sich, sie sähe statt dessen Cassavetes "Frau unter Einfluss".

Schließlich Tom.

Zeit, 25.11.2009

Datenschützer wollen das im Netz weit verbreitete Statistikinstrument Google Analytics (das auch der Perlentaucher verwendet) verbieten, meldet zeit.de.Einer der Gründe: "Der Internetsurfer habe keine Möglichkeit, die Beobachtung durch Google aktiv abzulehnen ('Opt-out'), argumentieren sie. 'Ohne das Opt-out aber', sagt Marit Hansen, stellvertretende Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein, 'geht es gar nicht'." Auch das amerikanische Technikblog TechCrunch hat das Thema schon aufgegriffen.
Stichwörter: Datenschutz, Google

NZZ, 25.11.2009

"Chic und demokratisch" erscheint Marion Löhndorf das von Rick Mather umgebaute Ashmolean Museum in Oxford. Die Autorin Alena Wagnerova berichtet von der Situation der Vietnamesen in Tschechien beziehungsweise ihrer in Tschechien geborenen Kinder, die sie etwas befremdlich mit dem in Tschechien vielleicht geläufigen Begriff "Bananenkinder" tituliert. Das Buch "Weißes Pferd, gelber Drache", angeblich von der 18-jährigen Lan Pham Thi verfasst, vielleicht aber auch von einem tschechischen Autor, scheint einiges aufs Tapet gebracht zu haben.

Besprochen werden eine Ausstellung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum mit den Zeichnungen von Jean-Baptiste Lepere, der mit Napoleon in Ägypten war, Gerhard Pauls zweibändiger Bildatlas des 20. Jahrhunderts, der Sammelband zum Schwarzen Meer "Odessa Transfer" und Quentin Skinners Aufsätze "Vissionen des Politischen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 25.11.2009

Die Berliner Zeitung hat bemerkt, dass sich eine Kleinigkeit bei Twitter verändert hat. "Die Tage von 'What are you doing?' sind gezählt. Wer sich anmeldet, wird nun gefragt 'What's happening?' Aus dem sozialen Netzwerk ist auch offiziell ein Nachrichtennetzwerk geworden." Spiegel Online übernimmt unterdes Agenturmeldungen, nach denen Twitter an die Börse gehen will, trotz rückläufiger Nutzerzahlen, die sich aber wohl aus Handynutzung ergeben. Mehr dazu auch bei TechCrunch.
Stichwörter: Twitter, Soziale Netzwerke

Aus den Blogs, 25.11.2009

Einige Medienblogger setzen sich für das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein. Markus Beckedahl von Netzpolitik und einige andere appellieren an den Verwaltungsrat des ZDF, sich in der Frage des Chefredakteurspostens nicht dem Druck Roland Kochs und der CDU zu beugen: "In Ihrer heutigen Sitzung werden Sie nicht nur über die berufliche Zukunft von Nikolaus Brender entscheiden. Ihr Beschluss wird auch eine der Grundfesten des freien Rundfunks in Deutschland berühren - nämlich das Prinzip der Staatsferne."

Scheiß Internet! Die Washington Post greift zu drastischen Maßnahmen, berichtet Gawker: "At the end of December, the Washington Post will close its bureaus in Los Angeles, Chicago, and New York. This is the biggest write-off of on-the-scene domestic news coverage by any major paper yet."

FR, 25.11.2009

Die weitere Verbreitung von Maxim Billers Roman "Esra" wurde zwar 2007 vom Bundesverfassungsgericht verboten. Einen Schadenersatz für die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte bekommt die Klägerin aber nicht, hat jetzt der BGH entschieden, berichtet Ursula Knapp. In Times mager findet Ina Hartwig das ganz in Ordnung.

Besprochen werden Sandra Nettelbecks Film über die depressive "Helen", die Ausstellung "Zlin - Modellstadt der Moderne" in der Münchner Pinakothek der Moderne, eine CD des Bratschisten David Aaron Carpenter, eine Aufnahme von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" durch Maurizio Pollini, Patrick Schlössers Inszenierung von Beaumarchais' "Der tolle Tag" in Kassel und ein Konzertabend mit der Sopranistin Diana Damrau in Frankfurt.

SZ, 25.11.2009

Oliver Bilger und Johannes Boie sind erfreut über das neue, vom EU-Parlament formulierte Telekommunikationsgesetz, das, wie sie meinen, die Wahrung von Bürgerrechten im Internet festschreibt. Unter anderem ist festgelegt, dass Nutzern nicht einfach so der Zugang zum Netz gesperrt werden kann: "Solche Maßnahmen könnten nur 'unter Wahrung der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Privatsphäre' und als Ergebnis eines 'vorherigen, fairen und unparteiischen Verfahrens' getroffen werden." Selbst der Europa-Abgeordnete der Piratenpartei, Christian Engström äußert sich gegenüber den Autoren des Artikels positiv. (Tina Klopp sah das neue Gesetz kürzlich bei Zeit-online viel kritischer: Immerhin ist eine Sperrung des Internetzugangs grundsätzlich jetzt auch von der EU gebilligt.)

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck porträtiert den Bariton Christian Gerhaher ("ein getriebener Musikdenker, ein Grübler, Zweifler"), der im Gespräch darlegt, wie entscheidend für einen Sänger die Aussprache ist. Stefan Kornelius sinniert im Feuilletonaufmacher über den neuen Markenauftritt von MacDonald's, der nunmehr die Farbe Grün und erdigere Farbtöne bevorzugt. Thomas Steinfeld resümiert einen Essay John Grays aus der London Review of Books über den Umgang der Wirtschaftswissenschaften mit der ihre Wissenschaftlichkeit stets anknabbernden Ungewissheit der Zukunft. Geord Diez empfiehlt dringend eine Retrospektive der Filme Robert Franks in Berlin. Helmut Kirscher kommentiert zustimmend das Urteil des BGH, wonach die in Maxim Billers verbotenem Roman "Esra" geschilderten Personen keine Anrecht auf eine Entschädigung haben - trotz des Verbots des Romans aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen (mehr hier). Julia Amalia Heyer verfolgte eine Debatte über den Begriff der "Nachhaltigkeit" in der Berliner Akademie der Künste. Und Ebehard Falcke durfte eine Reise deutscher Schriftsteller ins Gastland der nächsten Buchmesse Argentinien begleiten.

Besprochen werden Ödön von Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung" in der Regie Karin Henkels am Hamburger Schauspielhaus, die Ausstellung "Istanbul Next Wave - Zeitgenössische Kunst aus Istanbul" in Berlin und einige neue CDs.

FAZ, 25.11.2009

Jürg Altwegg besichtigt von Genf aus das in Liebes- und auch in politischen Dingen doch sehr erstaunliche französische Kabinett, das so deutlich den Stempel von Nicolas Sarkozys Politik der "Öffnung" trägt: "Die feindliche Kultur erschloss sich Sarkozy privat wie politisch. Dank der Heirat mit Carla Bruni stießen linke Intellektuelle und Künstler zum Freundeskreis. Mit der Ernennung Frederic Mitterrands bekam sein raffiniertes Spiel mit den Grenzen und Tabus auch eine sexuelle Dimension. Wie ein Mann - ohne jede Abweichung - steht das Kabinett hinter dem homosexuellen Minister, der sich literarisch über sein Verhältnis zu Strichjungen geäußert hat. In dieser Stunde der Wahrheit wurde der Schulterschluss der Regierung mit der kulturellen Elite total."

Weitere Artikel: In der Glosse geht es um helicopter parents und Kinder, die (die) U-Bahn fahren. Richard Kämmerlings meldet, dass der Bundesgerichtshof zum Urteil gelangt, dass Maxim Biller im Fall "Esra" keinen Schadenersatz zahlen muss. Auf der DVD-Seite werden Alexander Kluges neues Riesenprojekt "Früchte des Vertrauens", John Woos Rückkehr nach China "Red Cliff", eine Box mit Filmen von Harun Farocki und eine Edition von Fabrice du Welz' Dschungelfilm "Vinyan" vorgestellt.

Auf der Medienseite beklagt Bild-Chef und taz-Genosse Kai Diekmann im Interview, dass die taz nicht aus ihrer "Eis-am-Stiel-Phase" herauskommt. Zur heute anstehenden Betriebsversammlung der taz in der heftig umstrittenen Sache "Pimmel über Berlin" bietet er an: "Wenn es zu einer Gewaltorgie kommt und Ines Pohl dies als Chefredakteurin nicht überleben sollte, stehe ich zumindest als Interimslösung jederzeit zur Verfügung."

Besprochen werden ein Rammstein-Konzert in München, eine Zürcher Inszenierung von Giuseppe Verdis früher Oper "Il Corsaro", eine von acht Zigeunerinnen gespielte Version von Lorcas "Bernarda Albas Haus" in Sevilla, die Schrifttypen- und Grafik-Ausstellung "Letterlab" im Grafik-Design-Museum Breda, die jetzt schon immens erfolgreiche zweite Stephenie-Meyer-Verfilmung "New Moon" und Bücher, darunter Georges Didi-Hubermans James-Turrell-Studie "Der Mensch, der in der Farbe ging" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).