Vorgeblättert

Leseprobe zu Timothy Snyder: Bloodlands. Teil 2

11.07.2011.
Der polnische Sieg über die Rote Armee bei Warschau beendete im August 1920 die Hoffnungen auf eine sozialistische Revolution in Europa. Der im März 1921 in Riga unterzeichnete Vertrag zwischen Polen und dem bolschewistischen Russland war der wahre Abschluss der Neuordnung nach dem Krieg. Er legte Polens Ostgrenze fest, stellte sicher, dass das geteilte ukrainische und weißrussische Territorium für viele Jahre ein Zankapfel bleiben würde, und verwandelte den Bolschewismus von der bewaffneten Revolution zur Staatsideologie. Die im folgenden Jahr gegründete Sowjetunion war ein Land mit festen Grenzen - in dieser Hinsicht ein politisches Gebilde wie jedes andere. Mit den großen bewaffneten Konflikten endete auch die Hoffnung der Rechten, auf die Revolution könne eine Gegenrevolution folgen. Wer auf einen Umsturz der neuen deutschen Republik hoffte, ob von ganz rechts oder ganz links, musste auf seine eigenen Kräfte bauen. Die SPD unterstützte weiterhin die Republik, während die deutschen Kommunisten das sowjetische Modell priesen und der sowjetischen Parteilinie folgten. Sie erhielten ihre Anweisungen von der Kommunistischen Inter­nationale, die Lenin 1919 gegründet hatte. Auch die extreme Rechte musste ihre Vorstellungen ändern: das Ende der Nachkriegsordnung ließ sich nur durch Deutschland allein erreichen, sobald es wiederaufgebaut und verändert war.
     Der Wiederaufbau Deutschlands erschien schwieriger, als er tatsächlich war. Das für den Krieg allein verantwortlich gemachte Land verlor nicht nur Gebiete und einen Teil seiner Bevölkerung, sondern auch das Recht auf eine normale Armee. Anfang der zwanziger Jahre litt es unter Hyperinflation und politischem Chaos. Dennoch blieb es, zumindest potenziell, der mächtigste Staat Europas. Seine Bevölkerungszahl wurde nur von der Sowjetunion übertroffen, sein industrielles Potenzial von keinem anderen Staat, es war während des Krieges nicht besetzt gewesen, und seine Möglichkeiten zur Expansion waren in der Logik der Friedensverträge implizit enthalten. Sobald die Kampfhandlungen in Europa beendet waren, fand die deutsche Regierung rasch Übereinstimmungen mit der Sowjetunion. Schließlich wollte Berlin ebenso wie Moskau die Nachkriegsordnung auf Kosten Polens verändern. Beide wollten in der internationalen Politik weniger isoliert sein, daher unterzeichnete eine demokratische deutsche Regierung 1922 mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo, der diplomatische Beziehungen wiederherstellte, den Handel erleichterte und eine geheime militärische Zusammenarbeit in Gang setzte.
     Für viele Deutsche bedeutete Selbstbestimmung zugleich Bedrohung und Versprechen. Ungefähr zehn Millionen deutschsprachige Menschen, frühere Untertanen der Habsburger, lebten außerhalb Deutschlands, drei Millionen von ihnen am Nordwestrand der Tschechoslowakei nahe der deutschen Grenze. In der Tschechoslowakei gab es mehr Deutsche als Slowaken. Fast die gesamte Bevölkerung Österreichs war ebenfalls deutschsprachig, dennoch sollte das Land nach dem Vertrag von Trianon ein selbstständiger Staat sein, obwohl ein großer Teil seiner Bevölkerung die Vereinigung mit Deutschland vorgezogen hätte. Adolf Hitler, der Führer der 1920 gegründeten NSDAP, war Österreicher und für einen Anschluss. Solche Ziele der nationalen Einheit, so dramatisch sie waren, verhüllten aber das volle Ausmaß von Hitlers Ambitionen.
     Später sollte Hitler als deutscher Kanzler den Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnen, durch den Polen geteilt wurde. Durch diesen Schritt führte er eine Idee an ihren Endpunkt, die viele Deutsche teilten: Polens Grenzen seien illegitim, und sein Volk verdiene keinen Staat. Von anderen deutschen Nationalisten unterschied sich Hitler aber durch seine Überzeugung, welcher Schritt nach der Vereinigung aller Deutschen in Deutschland und der Beherrschung Polens als nächstes kommen müsse: die Vernichtung der europäischen Juden und die ­Zerschlagung der Sowjetunion. Auf dem Weg dorthin würde Hitler Polen wie der UdSSR seine Freundschaft anbieten und seine radikaleren Absichten vor den Deutschen verbergen, bis es zu spät war. Die katastrophischen Visionen waren aber von Anfang an im Nationalsozialismus angelegt.

Als 1921 schließlich das Chaos des Krieges in Osteuropa endete, mussten sich die leninistischen Revolutionäre neu sammeln und nachdenken. Von den Polen um ihren europäischen Triumph gebracht, hatten die Bolschewiki keine Wahl, als das revolutionäre Feuer zu löschen und einen sozialistischen Staat aufzubauen. Lenin und seine Anhänger setzten voraus, dass sie die Macht innehaben sollten; tatsächlich wurde das Scheitern der europäischen Revolutionen zur Rechtfer­tigung für außergewöhnliche Ansprüche auf politische Kon­trolle. Die Macht musste zentralisiert werden, um die Revolution vollenden und gegen ihre ­kapitalistischen Feinde verteidigen zu können. Sie verboten rasch alle anderen Parteien und terrorisierten politische Rivalen, die sie als Reaktionäre beschimpften. Sie verloren die einzigen freien Wahlen und hielten darum keine weiteren mehr ab. Die Rote Armee war zwar in Polen geschlagen worden, aber mehr als stark genug, um auf dem Gebiet des alten Reichs alle bewaffneten Rivalen zu besiegen. Der als Tscheka bekannte Geheimdienst der Bolschewiki ermordete Tausende von Menschen im Dienste einer Konsolidierung des neuen Sowjetstaats.
     Es war aber leichter, durch Gewalt zu triumphieren, als eine neue Ordnung aufzubauen. Als Programm für ein multikulturelles Land von Bauern und ­Nomaden war der Marxismus nur begrenzt tauglich. Marx hatte angenommen, die Revolution werde zuerst die Industrieländer erfassen, und der Bauern- wie der nationalen Frage nur sporadische Beachtung geschenkt. Nun mussten die Bauern Russlands, Weißrusslands und der Ukraine und die Nomaden Mittelasiens irgendwie dazu gebracht werden, den Sozialismus für eine russische Arbeiterklasse aufzubauen, die sich in den russischsprachigen Großstädten konzentrierte. Die Bolschewiki mussten die vorindustrielle Gesellschaft, die sie geerbt hatten, umformen, um die industrielle Gesellschaft aufzubauen, die die Geschichte noch nicht gebracht hatte; erst dann konnten sie die industrielle Gesellschaft so ver­ändern, dass sie den Arbeitern zugute kam.
     Zunächst mussten die Bolschewiki den Aufbau des Kapitalismus betreiben, bevor sie mit dem Umbau zum Sozialismus beginnen konnten. Während der Staat die Industrie aufbaute, sollte er nach ihrem Entschluss Mitglieder der zahllosen Völkerschaften der UdSSR zu einer höheren politischen Loyalität erziehen, die jeden nationalen Unterschied überwand. Die Beherrschung von Bauern und Nationalitäten war eine gewaltige Ambition, und die Bolschewiki verbargen deren wichtigste Implikation: dass sie die Feinde ihrer eigenen Völker waren, ob diese nun durch Klassen oder Nationalitäten definiert wurden. Sie glaubten, die Gesellschaft, die sie regierten, sei historisch überholt, ein Lesezeichen, das man entfernen müsse, bevor eine neue Seite aufgeschlagen werde.
     Um ihre Macht nach dem Krieg zu konsolidieren und loyale Kader für die kommende ökonomische Revolution zu gewinnen, mussten die Sowjets gewisse Kompromisse eingehen. Die Völker unter ihrer Kontrolle durften natürlich keine unabhängigen Staaten bekommen, wurden aber auch nicht dem Vergessen überantwortet. Obwohl Marxisten meist annahmen, die Anziehungskraft des Nationalismus werde mit zunehmender Modernisierung zurückgehen, beschlossen die Sowjets, die Nationalitäten oder zumindest deren Eliten für ihre Kampagne zur Industrialisierung der UdSSR zu rekrutieren. Lenin unterstützte die nationale Identität der nichtrussischen Völker. Die Sowjetunion war scheinbar eine Föderation Russlands mit seinen Nachbarn. Quoten für Bildungssystem und Arbeitsplätze sollten die Loyalität und das Vertrauen der Nichtrussen gewinnen. Als Untertanen und dann Beherrscher eines multinationalen Staats waren die Bolschewiki zu subtilem Denken und Takt in der Nationalitätenfrage fähig. Die führenden Revolutionäre waren keineswegs nur Russen. Lenin, der als Russe angesehen wurde und wird, hatte auch schwedische, deutsche, jüdische und kalmückische Vorfahren. Trotzki war Jude, Stalin Georgier.
     Die Nationalitäten sollten nach einem neuen kommunistischen Muster geformt, die Bauern bis zu ihrer späteren Entmachtung beschwichtigt werden. Die Sowjets schlossen einen Kompromiss mit der Landbevölkerung, von dem sie wussten, und die Bauern befürchteten, er werde nur vorübergehend sein. Das neue Regime erlaubte den Bauern, das Land zu behalten, das sie den Großgrundbesitzern abgenommen hatten, und ihre Produkte auf dem Markt zu verkaufen. Die Verwerfungen von Krieg und Revolution hatten schreckliche Nahrungsknappheit gebracht; die Bolschewiki hatten Getreide für sich und die ­ihnen loyalen Kräfte beschlagnahmt. Mehrere Millionen starben 1921 und 1922 an Hunger und damit verbundenen Krankheiten. Hieraus lernten die Bolschewiki, dass Nahrung eine Waffe war. Sobald der Konflikt aber vorbei war und sie gewonnen hatten, brauchten sie eine zuverlässige Versorgung. Sie hatten dem Volk Frieden und Brot versprochen und mussten ein Minimum von beidem liefern, zumindest vorübergehend.
     Lenins Staat war eine politische Hinhalteaktion für eine zukünftige ökonomische Revolution. Der Sowjetstaat erkannte Nationalitäten an, obwohl der Marxismus eine Welt ohne sie versprach, und seine Sowjetwirtschaft erlaubte einen Markt, obwohl der Kommunismus Kollektiveigentum versprach. Als Lenin im Januar 1924 starb, waren bereits Debatten im Gange, wann und wie diese Übergangskompromisse einer zweiten Revolution Platz machen müssten. Und genau diese Diskussion in der neuen Sowjetordnung entschied das Schicksal der sowjetischen Bevölkerung. Von Lenin hatten die Bolschewiki das Prinzip des "demokratischen Zentralismus" geerbt, eine Übersetzung der marxistischen Geschichtsphilosophie in die bürokratische Realität. Die Arbeiter repräsentierten den Fortschritt der Geschichte, die disziplinierte Kommunistische Partei repräsentierte die Arbeiter, das Zentralkomitee repräsentierte die Partei, und das Politbüro, nur wenige Mitglieder stark, repräsentierte das Zentralkomitee. Die Gesellschaft wurde von einem Staat beherrscht, den eine Partei kontrollierte, die in der Praxis von wenigen Personen gelenkt wurde. Debatten zwischen den Mitgliedern dieser kleinen Gruppe verkörperten keine Politik, sondern die Geschichte selbst, und ihre Entscheidungen galten als deren Urteilsspruch.
     Stalins Interpretation des Vermächtnisses von Lenin sollte sich durchsetzen. Als Stalin 1924 vom "Sozialismus in einem Land" sprach, meinte er, die Sowjetunion müsse ihr Arbeiterparadies ohne große Hilfe von den übrigen Proletariern der Welt aufbauen, die sich nicht vereinigt hatten. Obwohl die Kommunisten über die Prioritäten der Agrarpolitik uneins waren, stimmten alle überein, das traditionelle Landleben in der Sowjetunion müsse bald seine eigene Zerstörung finanzieren. Wo aber war das Anfangskapital für den traumatischen Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Wirtschaft zu finden? ­Irgendwie musste man von den Bauern einen "Mehrwert" bekommen, der sich gegen Devisen exportieren ließ, um Maschinen zu importieren, und der auch die wachsende Arbeiterklasse ernähren konnte. Als 1927 die staatlichen Investi­tionen entschieden auf die Industrie gerichtet wurden, trat diese Diskussion in ihre entscheidende Phase.
     Die Modernisierungsdebatte war vor allem ein Duell zwischen Trotzki und Stalin. Trotzki war der fähigste von Lenins Genossen, Stalin allerdings leitete als Generalsekretär der KPdSU die Parteibürokratie. Stalins Kontrolle des Personals und sein praktisches Genie bei Gremiumssitzungen brachten ihn an die Spitze. Er glänzte nicht in theoretischen Diskussionen, aber er wusste, wie man eine Koalition schmiedete. Innerhalb des Politbüros paktierte er zuerst mit denen, die für eine langsamere ökonomische Umwandlung eintraten, und eliminierte die Radikalen. Dann radikalisierte er seine eigene Haltung und stürzte seine früheren Verbündeten. Ende 1927 waren seine früheren Rivalen der Linken - Trotzki, Grigorij Sinowjew und Lev Kamenew - aus der Partei ausgeschlossen worden. Bis Ende 1929 hatte Stalin die Politik seiner verdrängten Rivalen übernommen und sich seines Hauptrivalen auf der Rechten, Nikolaj Bucharin, entledigt. Wie Sinowjew und Kamenew blieb Bucharin in der Sowjetunion, verlor aber seine frühere Macht. Stalin fand loyale Anhänger im Politbüro, vor allem Lazar Kaganowitsch und Vjačeslav Molotow. Trotzki verließ das Land.
     So geschickt er in der Leitung der sowjetischen Politik war, musste Stalin nun auch sicherstellen, dass sie ihr Versprechen erfüllte. Ab 1928 wollte er laut dem ersten Fünfjahresplan das Land verstaatlichen, die Bauern zur Schichtarbeit unter staatlicher Kontrolle zwingen und das Getreide als Staatseigentum be­handeln - eine Politik der "Kollektivierung". Land, Maschinen und Menschen würden denselben Kolchosen angehören, großen Einheiten, die effizienter produzieren würden, wie man hoffte. Diese Kolchosen sollten um Maschinen-Traktoren-Stationen herum organisiert sein, die moderne Ausrüstung bereitstellen und die politischen Agitatoren beherbergen würden. Durch die Kollektivierung konnte der Staat die Agrarproduktion kontrollieren, seine Arbeiter ernähren und sich ihre Unterstützung sichern, sowie ins Ausland exportieren, um Devisen für industrielle Investitionen zu bekommen. Damit die Kollektivierung unausweichlich erschien, musste Stalin den freien Markt schwächen und durch staatliche Planung ersetzen. Sein Verbündeter Kaganowitsch erklärte im Juli 1928, die Bauern seien im "Getreidestreik" und die Beschlagnahmung ihrer Erzeugnisse die einzige Lösung. Als die Bauern sahen, dass ihre Produkte beschlagnahmt wurden, versteckten sie sie lieber, als sie zu verkaufen. So erschien der Markt noch unzuverlässiger - obwohl in Wirklichkeit der Staat die Schuld trug. Nun konnte Stalin also argumentieren, die Ungeplantheit des Marktes sei das grundlegende Problem, und der Staat müsse die Lebensmittelversorgung kontrollieren.
     Die Weltwirtschaftskrise schien Stalin in der Unzuverlässigkeit der Märkte Recht zu geben. Am Schwarzen Donnerstag, dem 24. Oktober 1929, brach der amerikanische Aktienmarkt zusammen. Am 7. November, dem zwölften Jahrestag der bolschewistischen Revolution, beschrieb Stalin die sozialistische Alternative zum Markt, die seine Politik rasch in der Sowjetunion einführen sollte. Er versprach, 1930 werde "das Jahr der großen Umwälzung" werden und die Kollektivierung Sicherheit und Wohlstand bringen. Das alte Landleben würde verschwinden. Dann würde die Revolution in den Städten vollendet, wo das Proletariat durch Nahrung blühen werde, die von einer befriedeten Bauernschaft produziert würde. Diese Arbeiter würden die erste sozialistische Gesellschaft der Geschichte aufbauen und einen machtvollen Staat, der sich gegen äußere Feinde verteidigen könne. Indem Stalin die Modernisierung verteidigte, erhob er zugleich Anspruch auf die Macht.

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