Efeu - Die Kulturrundschau

Das blaue Auge der Gegenwart

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2017. Gestern wurde die Shortlist für den Buchpreis bekannt gegeben, recht pflichtbewusst bescheinigen taz und ZeitOnline der Jury eine gute Wahl. Nur in der NZZ fordert Felix Philipp Ingold: Schafft den ganzen Zirkus ab! Unfassbar findet die Welt, wie Adam Szymczyk die Documenta auch finanziell an die Wand gefahren hat. Die HNA berichtet, dass Stadt und Land mit einer Bürgschaft einspringen müssen. Die FAZ schwelgt in der Städel-Ausstellung zu Matisse und Bonnard in der ambiguen Melancholie Südfrankreichs. Und der Standard reist mit Steven Soderberghs Gaunerkomödie "Logan Lucky" fröhlich durch den amerikanischen Süden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.09.2017 finden Sie hier

Film


Szene aus Steven Soderberghs "Logan Lucky"

Recht fröhlich geht es in der Gaunerkomödie "Logan Lucky" zu, mit der Steven Soderbergh sein vor einigen Jahren in weihevollem Ton abgelegtes Versprechen, sich vom Kino zurückzuziehen, nun umso freudiger bricht. Die im Redneck-Milieu rund ums Nascar-Autorennen angesiedelte Einbrechergeschichte bestrickt die Kritiker: "Soderbergh nimmt seine Figuren, ihre Sehnsüchte und Vorlieben ernst, denunziert sie trotz überbordender Lust am Komischen nie als White Trash", erklärt Karl Gedlicka im Standard. "Wo der filmische Blick der Coen-Brüder auf die Provinz immer wieder ins Karikaturhafte abgleitet, behalten die Menschen bei Soderbergh, der selbst in Virginia, Louisiana und Georgia aufgewachsen ist, meist ihre Bodenhaftung."

Andreas Kilb freut sich in der FAZ etwas allgemeiner über dieses Comeback: In seinen besten Arbeiten gelinge Soderbergh "amerikanisches Kino vom Feinsten, naiv und clever, weltläufig und provinziell zugleich, ein Spiegel jener Gegensätze, die das Land immer mehr zu zerreißen scheinen. Auf der Leinwand leuchten sie noch." Lesenswert sind auch die aktuellen, sehr ausführlichen Interviews, die Soderbergh zu seinem Kino-Comeback gegeben hat: Hier spricht er mit Little White Lies, weitere Hinweise gibt es hier und hier in unseren Magazinrundschauen.


Jennifer Lawrence in Darren Aronosfkys "Mother!"

Darren Aronofsky
macht "Kino mit Ausrufezeichen", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel nach dem Kinoexzess, den Aronofskys gerade in Venedig gezeigter und jetzt auch in deutschen Kinos startender "Mother!" darstellt. Der Film handelt davon, wie ein von einer Schreibblockade gehemmter Schrifsteller (Javier Bardem) und dessen ihm sklavisch ergebene Ehefrau (Jennifer Lawrence) von zudringlichen Fans in einer alten Villa belagert werden: "Aus dem Purgatorium, in das Aronofsky die namenlose junge Frau stürzt, führt kein Weg heraus. Irgendwann hat man verstanden, dass der Film nicht auf eine Erlösung hinausläuft, sondern in der Horrorlogik des Torture-Porn immer nur neue Schockbilder akkumuliert." Was auch Karsten Munt im Perlentaucher etwas schade  findet: Der Film "zittert geradezu ob der formalen Anstrengung". Tobias Kniebe hat den Exzess unbeschwerter genossen, wie sich der SZ entnehmen lässt: "Als Metapher für den Kampf zwischen Abschottung und Offenheit, Fremdenangst und Integrations-Phantasmen haut dieser Teil des Films ziemlich exakt auf das blaue Auge der Gegenwart, das ohnehin schon bedenklich zugeschwollen ist."

Weitere Artikel: Peter Nau empfiehlt in der taz eine Ausstellung über die Filme von Straub/Huillet in Berlin. Mit einer Ausstellung und einer Retrospektive bietet sich dem Berliner Publikum daneben auch die Möglichkeit, sich eingehend mit Harun Farocki zu befassen, wie Gregor Dotzauer im Tagesspiegel festhält. Der Schriftsteller Jakob Nolte singt im Freitext-Blog auf ZeitOnline ein Hohelied auf Animationsfilme wie "Bambi" und "Prinzessin Mononoke", die bleibenden Eindruck in seinem Leben hinterlassen haben.

Besprochen werden Gabe Klingers "Porto" (Perlentaucher) und die grelle Netflix-Zeichentrickserie "Bojack Horseman" (Welt).
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Literatur

Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis ist da. Ernste Hoffnungen machen dürfen sich damit Gerhard Falkner ("Romeo oder Julia"), Franzobel ("Das Floß der Medusa"), Thomas Lehr ("Schlafende Sonne"), Robert Menasse ("Die Hauptstadt"), Marion Poschmann ("Die Kieferninsel") und Sasha Marianna Salzmann ("Außer Sich"). Dass die Jury ihrer Auswahl eine "Sorge um Europa" attestiert, stößt Ulrich Gutmair in der taz eher ungut auf - "es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wenn sich die Jury jeder Relevanzbehauptung verweigert hätte" -, auch wenn er der Jury insgesamt eine "gute Wahl" bescheinigt: "Schrei­ben zeigt sich in diesen Texten als Praxis, in der die unüberwindbare Distanz zwischen Ich und Welt mit Humor und Stilbewusstsein angenommen wird." Helmut Böttiger nimmt auf ZeitOnline erfreut zur Kenntnis, "dass in diesem Jahr ästhetische Kriterien an erster Stelle standen. ... Es handelt sich allesamt um Bücher, die man sprachlich ernst nehmen kann." Drei der sechs Bücher erschienen bei Suhrkamp, ist Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung aufgefallen. Der Deutsche Buchpreis bilde die Diversität der deutschen Literatur in diesem Jahr nicht ab, mahnt Intellectures.

Ein einziger Graus sind dagegen dem Schriftsteller Felix Philipp Ingold der Literaturbetrieb, die Kulturverweser und die Buchpreise, die nur den Markt und den Konsens bedienten. Schafft sie einfach ab, fordert er in der NZZ: "Preise bekommen zu haben, ist zurzeit die beste Voraussetzung dafür, mit noch mehr Preisen bedacht zu werden. Ausgezeichnet wird das, was man kennt, was leicht zu rezipieren ist, was gern 'geleikt' und geteilt wird, das also, was nicht als Risiko kalkuliert werden muss. Innovative Schriftsteller mit ausgeprägtem Personalstil können heute − anders als zu Zeiten des Nouveau Roman oder der konkreten Dichtung − kaum noch damit rechnen, in die Kränze zu kommen."

In der NZZ unterhält sich Angela Schader mit der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy über deren neuen Roman und über Indien, das unmögliche Land: "Wenn es um die Unabhängigkeit geht, redet man immer nur von der Teilung Indiens und Pakistans, nie von der Assimilation. Aber beide Prozesse waren äußerst gewaltsam. Vom 15. August 1947, als Indien unabhängig wurde, bis heute gab es nicht einen einzigen Tag, an dem die indische Armee nicht innerhalb der indischen Grenzen gegen ihr eigenes Volk in Marsch gesetzt wurde. Um es zu zwingen dazuzugehören. Meist geschieht dies unterhalb des Radars. Und die Opfer sind immer Minderheiten. Ureinwohner, oft Christen. Dalits. Sikhs. Muslime. Der Staat der Hindu-Oberklasse führt einen Dauerkrieg."

Weitere Artikel: In der Welt stellt Dennis Scheck die unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. veröffentlichten Science-Fiction-Romane von Alice B. Sheldon vor. Zum Abschluss der SZ-Reihe über Sommerhäuser großer Schriftsteller fährt Gustav Seibt gen Buckow, wo Helene Weigel und Bertolt Brecht sich von der Stadt zurückzogen. Außerdem bringt die Welt Auszüge aus David Sedaris' Tagebüchern.

Besprochen werden Anuk Arudpragasams Debütroman "Die Geschichte einer kurzen Ehe" (NZZ), Hervé Tanquerelles Comic "Grönland Vertigo" (taz), Robert Menasses "Die Hauptstadt" (Berliner Zeitung), Yassin Musharbashs "Jenseits" (taz), Sasha Marianna Salzmanns "Außer Sich" (FAZ, FR) und Ken Folletts "Das Fundament der Ewigkeit" (Welt).
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Kunst


Pierre Bonnard: Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund, um 1909. Bild: Städel Museum Frankfurt

Überwältigt ist FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp von der Ausstellung "Es lebe die Malerei", die im Frankfurter Städel die beiden Avantgardisten Henri Matisse und Pierre Bonnard, klug kuratiert, zusammenführt: "Dabei wird der kardinale Unterschied erkennbar: Der Blick von Matisse geht stets ins Offene, aus den Fenstern und Balkonen der Interieurs hinaus, in die Weite der Gärten, die unter der Sonne der Riviera gedeihen...Bei Bonnard ist alles auf das Innere konzentriert, fast immer entsteht ein klaustrophobisches Gefühl in den Räumen, in denen eine ambigue Melancholie schwebt, ein unaufgelöstes Geheimnis. Unbeschwertes Glück sieht anders aus, selbst wenn Bonnards Farbmagie, anders lässt sich seine Kunst nicht nennen, noch so herrlich leuchtet." In der FR spürt Christian Thomas keinen Luftzug in den Bildern, nur die Sonne des Südens.

Die Documenta ein Trümmerfeld, die Kunstszene von Athen plattgewalzt, und jetzt mussten die Stadt Kassel und das Land Hessen mit einer Bürgschaft einspringen, um die Pleite abzuwenden. Das berichtet die Hessisch Niedersächsische Allgemeine. Swantje Karich bilanziert in der Welt verärgert das Desaster, das ihrer Ansicht nach Adam Szymczyk zu verantworten hat: "Das Kunstfestival steht finanziell mit dem Rücken zur Wand, kann Rechnungen und Gehälter offenbar ohne Hilfe nicht mehr bezahlen. Die Verantwortlichen, an der Spitze die kaufmännische Geschäftsführerin Annette Kulenkampff und der künstlerische Leiter Adam Szymczyk, können nicht erklären, wo die vielen Millionen geblieben sind, mit denen man unterstützt wurde. Ein unfassbarer Vorgang." Insgesamt stehen der Documenta bis zu 37 Millionen Euro zur Verfügung - den Skulptur Projekte Münster eine Million.

Weiteres: Ganz hingerissen ist Jonathan Jones im Guardian von der Ausstellung über die Skythen im British Museum. Könnte gut sein, dass dieses nomadische Reitervolk, das von Sibirien bis zum Schwarzen Meer zog, den griechischen Mythos vom Zentaur inspirierten: "In der griechischen Mythologie werden Zentauren verrückt, wenn man ihnen Wein zu trinken gibt. Einige Fundstücke geben Aufschluss darüber, wie die Skythen in Griechenland den Wein kennenlernten und abhängig wurden." Das Kunsthaus Zürich widmet den italienischen Cantastorie einen Ausstellung die so vital und menschlich ist, dass Daniele Muscionico in der NZZ das Gefühl hat, als würden die Cantastorie, mit ihren Liedern und Lügenmärchen, gleich aus den Bildern herausspringen. In Berlin beginnt heute die Art Week. Das Monopol Magazin gibt einen ersten Überblick.
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Bühne

Simon Strauß berichtet in der FAZ von einer Diskussion zwischen den beiden Berliner Intendanten Chris Dercon und Oliver Reese. Besprochen wird Leander Haußmanns "Sommernachtstraum" an der Wiener Burg (FAZ).
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Musik

Frei von Klischees widmet sich der Pianist Krystian Zimerman in einer neuen CD Franz Schuberts letzten Sonaten: Dank seiner "Geistesschärfe, Diskretion und zugleich Brillanz, mit denen Zimerman diese tönenden Wagnisse eines Komponisten ausleuchtet", wird diese Einspielung "zum Ereignis", versichert Wolfram Goertz in der Zeit. Sein Fazit: "Zimermans Schubert lebt im Diesseits, er hat Klang, Volumen, Kraft, Majestät - und ein Lächeln. Mit einer extrem genauen Deutung der Partituren macht der Pianist klar, dass hier ein Kühner das Experiment durchführt, wie viel Eintrübung in Moll zwei Dur-Sonaten aushalten."

Die bei Bear Family Records erschienene Wiederveröffentlichung von Bobby Blands LP "Dreamer" bietet Karl Fluch den willkommenen Anlass zum Auftakt des neuen Standard-Blogs "Unknown Pleasures", in dem sich die Popkritiker des österreichischen Blattes mit machenswerten Wiederentdeckungen befassen wollen. Blands LP sei "ein Monster", schreibt Fluch. Es "besticht mit einer Mischung aus urbanem Soul und eleganten Bluesballaden." Eine Hörprobe:



Weitere Artikel: Im Standard unterhält sich Daniel Ender mit Hans-Joachim Frey, dem Direktor des Linzer Brucknerhauses. Den Berlinern empfiehlt Frederik Hanssen im Tagesspiegel das heute beim Musikfest von Riccardo Chailly dirigierte Konzert des Scala Orchesters. Johannes von Weizsäcker spricht für die Berliner Zeitung mit den Sparks über deren neues, aktuell auf Pitchfork besprochenes Album. Christian Schachinger stellt im Standard die Sängerin Chrysta Bell vor, die als Sängerin von David-Lynch-Soundtracks bekannt geworden ist. Ein aktuelles Video:



Besprochen werden das Konzert des SWR Symphonieorchesters unter Peter Rundel beim Musikfest Berin (Tagesspiegel) und das neue Album von Van Morrison (online nachgereicht von der FAZ).
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