Bücher der Saison

Die Romane der Saison

19.11.2013. Das Gefühl, eigentlich nicht dazuzugehören, ist das Thema vieler brasilianischer Romane. Aber zumindest gehören diese Romane nun zu den Perlentaucher-Empfehlungen des Herbstes. Wir haben die Literaturbeilagen durchgearbeitet und beginnen unseren Überblick über die Bücher der Saison mit Romanen aus aller Welt - inklusive Deutschland. Tagebücher, Essays und Sachbücher folgen!
Es ist eine reiche Büchersaison. In mehreren Folgen präsentieren wir die Ernte. Die Belletristik ist geprägt vom Buchmessen-Schwerpunkt Brasilien, der dem deutschen Publikum Autoren wie Daniel Galera oder Luiz Ruffato nahebringt. Bei der deutschen Literatur springen Namen wie Monika Maron, Daniel Kehlmann und Ann Cotten hervor. Außerdem gibt es neue Romane von J. M. Coetzee, Jérôme Ferrari und vielen anderen. In den kommenden Tagen präsentieren wir die wichtigsten Sachbücher, Reportagen und politischen Bücher der Saison.

Romane und Erzählungen / Lyrik, Essays etc. / Politische Bücher / Sachbuch Wissenschaft / Sachbuch Kultur

Brasilien

Brasilien, das Gastland der Buchmesse in diesem Herbst, ist ein Land voller Widersprüche, schrieb der Autor Luiz Ruffato Anfang Oktober in einem lesenswerten Text in der NZZ. Seit 28 Jahren demokratisch regiert, eine aufstrebende Wirtschaftsmacht, glamouröse Strände, fast grenzenlose Ressourcen auf der einen Seite, Korruption, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und eine trotz ihrer Durchmischtheit rassistische Gesellschaft auf der anderen Seite. Das Gefühl, eigentlich nicht dazuzugehören, ist das Thema vieler brasilianischer Romane.

Daniel Galeras "Flut" beim Perlentaucher,erzählt von einem gesichtsblinden Mann, der sich nach dem Selbstmord seines Vaters in einem kleinen Küstenort niederlässt. Dort spürt er dem Rätsel des Mordes an seinem Großvater nach, was die Einheimischen nicht freundlich aufnehmen. Dass er sie wegen seiner Gesichtsblindheit manchmal nicht wiedererkennt, wirkt sich auch nicht positiv aus. Für die Dorfbewohner ist der Großvater ein Mythos geworden. Wie so ein Mythos entsteht und wie man ihm begegnet, davon erzählt Galeras Buch, so Meike Dülffer in Zeit online. Für SZ-Rezensentin Michaela Metz ist der Roman ein intuitives, mythisches Meisterwerk über die Verlorenheit.

Den Migranten und dem brasilianischen Proletariat leiht Luiz Ruffato mit seinem fünfbändigen Romanzyklus "Die vorläufige Hölle" eine Stimme. Der erste Band, "Mama, es geht mir gut" erzählt von italienischen Immigranten, die der Armut zu Hause endlich zu entkommen hoffen. Doch sie bleiben arm. Zugleich legt der Autor sie auf Augenhöhe mit seinen Lesern an, lobt Michaela Metz in der SZ. NZZ-Rezensent Karl-Markus Gauß empfiehlt Ruffatos Kunst, Sozialkritik mit Avantgardeliteratur zu verbinden, als sehr heilsam gegen Klischeesucht. In "Unwirkliche Bewohner" schildert Paulo Scott die Geschichte eines jungen Paares, das an den sozialen Verhältnissen scheitert. Der junge Mann ist aus gutem Haus, die junge Frau stammt aus einem Indianercamp. Angetrieben wird die Geschichte "von geradezu irritierend direkten Figuren auf permanent existenzialistischem Konfrontationskurs", erklärt der schwer beeindruckte taz-Rezensent Andreas Fanizadeh.

Sehr gut besprochen wurden außerdem Andréa del Fuegos Debütroman "Geschwister des Wassers" beim Verlag,über die Kinder Julia, Nico und Antonio, die durch einen Blitzschlag zu Waisen werden. Die Rezensenten waren rundweg begeistert von Fuegos knapp bemessenen surrealistischen Mitteln, die dafür sorgen, dass ihre Bilder immer nur um einen Millimeter von der Realität abweichen, dafür aber ein um so größeres Unwirklichkeitsgefühl herstellen. Auch Maocyr Scliars Roman "Der Zentaur im Garten" über einen Zentaur aus russisch-jüdischer Familie, der sein Glück in der Ferne sucht, dosiert seinen magischen Realismus so, dass man die Existenz eines Zentauren für möglich, aber ganz unfantastisch hält, lobt Oliver Jungen in der FAZ.

Hingewiesen sei schließlich noch auf Clarice Lispectors Debütroman "Nahe dem wilden Herzen" dessen poetischer Sprachfluss, der das Innenleben ihrer Heldin freilegt, die Autorin 1943 in den Rang eines nationalen Heiligtums katapultierte, Graciliano Ramos' 1945 im Original erschienenen autobiografischen Roman "Kindheit" beim Perlentaucher,über das Aufwachsen in der kargen Einöde des Sertão und - vielleicht als Einstieg - den Band "Rio de Janeiro" mit Erzählungen und Gedichte von Luiz Ruffato, João Gilberto Noll, Nélida Piñon, Carlos Drummond de Andrade, Caetano Veloso, Sérgio Sant'Anna und vielen anderen. (Mehr aktuelle Bücher aus und über Brasilien finden Sie hier.)


Deutschsprachig

Monika Marons Roman "Zwischenspiel" beim Verlag,umfasst auf 192 Seiten, wofür andere tausend brauchen: ein unerwünschtes Kind, ein Verrat, das Leben als Schriftsteller in einer Diktatur, die Stasi-Methoden, die jede Beziehung endgültig zerstören konnten - all dies Ereignisse im Leben von Ruth, über das sie auf einer Parkbank nachdenkt, während auf dem Friedhof nebenan ihre Ex-Schwiegermutter Olga beerdigt wird. Olga manifestiert sich vor Ruth dann ebenso wie andere Weggefährten, Freunde und Feinde. Sogar die Honeckers tauchen kurz auf. "Leicht und luftig" wie ein "Sommertagtraum" ist diese Meditation über Flucht und Schuld, Liebe und Verrat, Alter und Tod, lobt taz-Rezensent Jörg Magenau und spricht damit den anderen Kritikern aus der Seele. Alle waren sie bezaubert von der Weisheit und Mühelosigkeit, mit der Maron in einem fantastischen Reigen über existenzielle Fragen nachdenkt.

Ann Cottens Erzählband "Der schaudernde Fächer" führt auf den Hof einer japanischen Universität, in ein abgelegenes Dorf in der Ukraine oder in Berliner Clubs. Als avantgardistisch sprachskeptische Reflexionsprosa der digitalen Bohème bezeichnet Jan Wiele diese Geschichten in der FAZ. Und auch Zeit-Rezensent Ijoma Mangold fühlt sich gerade von Cottens Rätselhaftigkeit angezogen. Ihre Texte seien "Welten entfernt vom Alltagsvokabular". Das findet der Rezensent so selten, dass er von einer Beschützerrolle als Kritiker träumt.

In "Aus nächster Nähe" erzählt Jürgen Theobaldy von zwei mittelalten Veteranen aus den politisierten Siebzigern, für die der Berliner Winter 1989 mit Midlife-Krise und politischer Desillusionierung zusammenfällt. SZ-Rezensent Ulrich Rüdenauer zeigt große Sympathie vor allem für einen der beiden Protagonisten, der sich in teils lyrischen, teils "geschwollenen" Sätzen den Erinnerungen an seine Vergangenheit hingibt. FAZ-Rezensent Michael Braun fühlte sich bei der Lektüre sofort ins alte Westberlin zurückversetzt. Auch Thomas Stangls Roman "Regeln des Tanzes" erzählt von politischem Aufbegehren und Selbstfindung. Nur spielt er im Jahr 2000 in Wien. Stangl demonstriert großartig, wie sehr Welterkenntnis und mögliche Weltveränderung von der eigenen, zweifelhaften Selbsterfahrung abhängen, lobt Christoph Schröder in der Zeit.

Hauptfigur in Andreas Schäfers Roman "Gesichter" ist ein Neurologe der Berliner Charité, ein Spezialist für Gesichtsblindheit, der sich von einem Flüchtling, dem er auf einer Fähre nach Italien geholfen hat, vage bedroht fühlt, während gleichzeitig seine eigene Familie an ihren Problemen zu zerbrechen droht. Das ergibt einen Psychothriller, der einen individuellen psychischen Konflikt mit einer gesellschaftlichen Problematik verzahnt, ohne dabei konstruiert zu wirken, loben die Rezensenten in Zeit und FAZ. NZZ-Rezensentin Martina Läubli empfiehlt wärmstens den Debütroman "immeer" beim Verlag,der in der Schweiz lebenden, in Ostberlin geborenen Henriette Vasarhelyi. Es geht um eine Dreiecksbeziehung, den Tod eines Geliebten, Trauer und Schuld. Läubli vergleicht den Roman mit einem "Faustschlag: brutal und direkt, traurig und trotzig".

Sehr gut besprochen wurden auch Terezia Moras neuer, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman "Das Ungeheuer" beim Verlag,über einen Mann, der den Selbstmord seiner Frau zu verstehen sucht, Marion Poschmanns "Die Sonnenposition" beim Perlentaucher,über einen Arzt, den es in ein "Schloss" in Ostdeutschland verschlägt, in Wahrheit eine psychiatrische Klinik, Clemens Meyers böser Roman "Im Stein" beim Verlag,über Leipzigs Unterwelt nach der Wende und Georg Kleins Vision eines "Dialogischen Terrorismus" in "Die Zukunft des Mars" beim Perlentaucher,

An diesen beiden Romanen schieden sich dagegen die Geister: Daniel Kehlmanns Roman "F" über drei betrügerische Brüder war für FAZ, FR und taz ein funkelndes Feuilletonereignis: Nie zuvor habe der Autor "die doppelten Böden so lässig aufgefächert" wie hier, schwärmte etwa Felicitas von Lovenberg in der FAZ. Den Kritikern von NZZ, SZ und Spiegel war der Roman zu konstruiert. Auch Helene Hegemanns Zweitling "Jage zwei Tiger" beim Verlag,über zwei Jugendliche aus gutem Haus wurde - wenn auch manchmal etwas gönnerisch - ebenso oft gelobt wie verrissen. FR, taz und Zeit freuten sich, dass Hegemann ihr Erzähltalent unter Beweis stellt, wenn sie "hochkomplexe Hypotaxe mit süffigstem Jugendslang" kombiniert. FAZ und SZ rümpften die Nasen und rügten "pseudosubversive Statements" und "vorauseilenden Exhibitionismus".


Englischsprachig


J. M. Coetzees Roman "Die Kindheit Jesu" beim Verlag,spielt in einem unbekannten Land, in dem ganz andere Gesetze und Konventionen herrschen als sonst irgendwo auf der Erde. Vor allem eins zeichnet die Menschen dort aus: Sie kennen kein Begehren. Sie wollen nie mehr. Hierhin verschlägt es einen Mann und seinen fünfjährigen Sohn David, die lernen müssen, mit den Einheimischen zurechtzukommen. Ob man diesen Roman des südafrikanischen Nobelpreisträgers wie die FR als Immigrationsgeschichte liest, wie die FAZ als Christuslegende oder wie die SZ als Neuerzählung des "Don Quijote" - alle Rezensenten loben den Humor und den fast schon thriller-artigen Sog des Romans und rufen dem deutschen Lesepublikum wie taz-Rezensent Dirk Knipphals zu: Entdeckt endlich Coetzee! Einen Integrationsversuch ganz anderer Art schildert Colin McAdam in seinem Roman "Eine schöne Wahrheit" : Ein kinderloses Ehepaar adoptiert einen Affen, den Schimpansen Looee, den es nach einigen Jahren jedoch in einem Versuchlabor aussetzt. Die Rezensenten von FAZ und SZ waren beeindruckt, wie McAdam hier die fließende Grenze zwischen Mensch und Tier darstellt.

Einen ziemlichen Adrenalinstoß haben zwei alte Herren den Kritikern in diesem Herbst verpasst. Der 1994 verstorbene Texaner John Williams veröffentlichte 1965 einen Roman, "Stoner" beim Perlentaucher,der als Geheimtipp die Zeit überdauert hat. Williams erzählt von einem armen Farmersohn, der die Literatur entdeckt und eine dürftige akademische Karriere als Literaturprofessor macht. Keine Helden-, eine Liebesgeschichte, schreibt Christopher Schmidt in der SZ und versichert: Keine andere Liebesgeschichte in diesem Herbst dringt so weit vor zum "Glutkern des Seins". Der zweite Autor ist der New Yorker James Salter, der fünfunddreißig Jahre lang keinen Roman mehr geschrieben hat, und jetzt, als Achtundachtzigjähriger die Rezensenten mit "Alles, was ist" beim Verlag,glatt umhaut. Salter erzählt von einem Kampfpiloten, der nach seinen intensiven Jahren im Krieg in seinem zivilen Leben scheitert: Ehen und Lebensentwürfe gehen zu Bruch, an ihre Stelle tritt innere Leere und ein Gefühl der Vergeblichkeit. In der SZ ist Christopher Schmidt einfach überwältigt von Salters melancholisch abgetönter Betörungsprosa. In der Zeit sieht Ursula März in dem Roman eine Abrechnung mit der "Metaphysik des Krieges" und "ein Alterswerk, das seinesgleichen sucht".

Ian McEwans neuer Roman "Honig" erzählt von einer jungen Frau im Dienste des MI5, die in der Hochzeit des Kalten Krieges einen jungen Literaten für die Sache der Freiheit gewinnen soll. Es geht um die Subversion des Literaturbetriebs, um Verführung und die Souveränität des Erzählens, betont SZ-Rezensent Johan Schloemann, der den Roman ebenso "beklemmend" wie "unterhaltsam, lustig, clever, erregend" findet. Auch Jennifer Egan nutzt eine Spionagegeschichte als Folie für ein Experiment: In "Black Box" erzählt sie die Geschichte einer Superagentin im Twitterformat: Die Protagonistin stellt sich in den Dienst der patriotischen Sache und ihren schönen Körper zur Verfügung, um Informationen über einen fremdländischen Mann unter Beobachtung zu ergattern. Eine "Black Box" eben. Jeder Satz ist ein Tweet. Die Kritiker in Zeit (hier), FAZ (hier) und SZ fanden das Experiment rundherum gelungen: spannend und geprägt von einem amerikanisch coolen Humor. Perlentaucherin Thekla Dannenberg feierte den Roman in Mord und Ratschlag als klugen Kommentar zu Heroismus und Narzissmus auf der einen Seite, Sicherheitswahn, Datensammelwut und Selbstverlust auf der anderen. Schließlich sei noch auf Mark Z. Danielewskis Roman "Das Fünfzig-Jahre-Schwert" hingewiesen, eine Gespenstergeschichte, ein schauriges, polyphones Kunstmärchen über Liebe und Eifersucht, erzählt von fünf Waisen. Es ist ein Roman und eine Graphic Novel, erklärt im Rolling Stone Maik Brüggemeyer: "Die grafischen Elemente, das Layout und die Farbgebung offenbaren bei jeder weiteren Lektüre einen zusätzlichen erzählerischen Mehrwert". FAZ-Rezensent Dietmar Dath erfüllt das Buch mit "Angstlust".


Osteuropa / Russland


Mit "Wolkenfern" schreibt die polnische Autorin Joanna Bator ihren gefeierten Roman "Sandberg" fort, der von drei Frauengenerationen in einer oberschlesischen Bergbausiedlung erzählte. Ihr etwas wundersames Personal nimmt Bator auch in den neuen Roman mit, doch nun brechen die Frauen aus der Enge der Provinz aus und begeben sich nach New York und in die "BeErDe", auch Napoleons Nachttopf spielt eine Rolle. In der SZ preist Hans-Peter Kunisch den Roman als "abgründig-komisches Jahrhundertpanorama", dessen "ausgesuchte Metaphorik" ihm viel Vergnügen bereitete - und Kunisch zufolge von Esther Kinsky hervorragend ins Deutsche übertragen wurde. Auf Spiegel Online freut sich Maren Keller über Bators originelle Figuren und die mitreißende Sprache, baut aber allen Erwartungen an eine stringente Geschichte vor: "Man muss eine Lust am Streunen und Sich-davon-treiben-Lassen mitbringen, um Bators Roman zu mögen. Dann aber wird man ihn lieben."

Völlig verblüfft hat Varujan Vosganian die Kritik mit seinem Roman "Buch des Flüsterns" Als rumänischer Wirtschaftspolitiker mit armenischen Wurzeln genießt Vosganian nämlich keinen sonderlich guten Ruf, doch seine Saga über das Schicksal des armenischen Volkes ist über jeden Zweifel erhaben, versichern die RezensentInnen. Karl-Markus Gauß zeigt sich in der SZ sehr bewegt von diesem melancholischen Roman, der sehr warmherzig von alten Bräuchen und Familiengeheimnissen erzählt wie auch in erschütternden Passagen von der Tragödie des armenischen Volkes. In der FAZ ist sich Sabine Berking sicher, dass dieses poetische und zugleich "präzis-lakonische" Buch in die Literaturgeschichte eingehen wird.

Sehr gut besprochen wurden außerdem Viktor Jerofejews Roman "Die Akimuden" beim Perlentaucher,den FAZ-Rezensentin Kerstin Holm als Erotikon mit SciFi-Elementen empfiehlt, und Julia Kissinas Debütroman "Frühling auf dem Mond" eine zwischen Realismus und Surrealismus wechselnde Coming-of-Age-Geschichte aus der Breschnew-Ära um ein Mädchen aus dem Milieu der jüdischen Intelligenz. "Prall, eloquent, fantastisch, witzig, zuweilen aber auch böse und gnadenlos", lobt Vladimir Balzer im Deutschlandradio Kultur.


Frankreich

Mit "Balco Atlantico" () ist nun - nach "Predigt auf den Untergang Roms" () und "Und meine Seele ließ ich zurück" () - der dritte Roman der Trilogie über das französische zwanzigste Jahrhundert Jérôme Ferraris erschienen. Schauplatz ist wieder die Dorfkneipe in Korsika, diesmal Mitte der achtziger Jahre, als der mit Bomben geführte Unabhängigkeitskampf der Korsen seinen Höhepunkt hatte. Am Ende sind wir im Jahr 2000 und wissen um die Liebesgeschichte von Virginie, die den nationalistischen Unabhängigkeitskämpfer Stephane liebt, den depressiven Hochschullehrer Theodore und die aus Marokko geflohenen Geschwister Hayet und Khaled, die in Frankreich ein besseres Leben suchen. Es ist nur ein schmaler Band, keine 200 Seiten. Aber Ferrari zeichnet ein "leuchtendes Epos", lobt FAZ-Rezensentin Sandra Kegel, die ebenso wie die Rezensenten der ersten beiden Romane vom Intellekt und dem Humor des mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Autors beeindruckt ist. Patrick Deville folgt in seinem Roman "Äquatoria" dem Aristokraten, Abenteurer und Schwärmer Pietro Savorgnan de Brazza durch Äquatorialafrika, dem Brazza Freiheit, Gerechtigkeit und Republikanismus bringen will, stattdessen aber den französischen Kolonialismus beschert. Für die NZZ-Rezensentin Ingeborg Waldinger eine erschütternde Tragödie des Idealismus.


Niederlande

Bevor Theo van Gogh 2004 von einem Islamisten ermordet wurde, war Leon de Winter ein Lieblingsziel seiner polemischen Attacken. Nun taucht van Gogh als Figur in de Winters Roman "Ein gutes Herz" auf, und die Rezensenten staunen über den ausgewogenen und fairen Umgang des Autors mit seinem Erzfeind und lassen sich von der Spannung der Handlung gefangen nehmen. FAZ-Rezensent Dirk Schümer gefällt die satirische Note und das raffinierte Spiel mit Realität und Fiktion, während das dichte Erzählgewebe Ulrich Greiner in der Zeit gar an Dostojewski denken lässt. "Ein glänzendes Schelmenstück", meint auch Ursula März im Dradio. In Interviews mit Ulrike Timm (im Dradio) sowie Volker Hage und Martin Doerry (im Spiegel) erzählt de Winter, wie van Gogh ihm im Traum erschienen sei und zum Schreiben inspiriert habe.


Mexiko

Valeria Luiselli erzählt in ihrem Roman "Die Schwerelosen" von einer Autorin in Mexiko-Stadt, die sich an einen Schriftsteller im New York der zwanziger Jahre erinnert, dem eine junge Lektorin zum literarischen Durchbruch verhelfen will. "Die Schwerelosen", das höchst verschachtelte Debüt der jungen Mexikanerin, hat die Rezensenten zu Elogen und den allerhöchsten Vergleichen hingerissen: Roberto Bolaño, Sergio Pitol und Juan Rolfo dienen als Referenzgrößen für die Autorin, die bisher für Letras Libres, Granta und die New York Times schrieb. In der SZ lässt sich Felix Stephan glücklich durch die verschiedenen Erzählebenen treiben. In der NZZ schwärmt Andreas Breitenstein von Luisellis Eleganz, Klugheit und Witz. Und in der FAZ versichert Florian Borchmeyer, dass diese innerliterarische Fiktion ganz ohne postmoderne Autorenarroganz auskommt.


Asien


Haruki Murakamis Erzählung "Die unheimliche Bibliothek" hat gerade mal 64 Seiten. Aber die haben genügt, den FR-Rezensenten Arno Widmann zack in die Kindheit zurückzuschicken. Die Geschichte von einem kleinen Jungen, der vor seiner Mutter in die Bibliothek flieht, ist ein ausgezeichnetes Mittel, mit den "eigenen irrationalen und kindlichen Ängsten konfrontiert zu werden", bekennt der Rezensent.


Mohsin Hamids Kunstgriff, einen Roman in Form eines Selbsthilfebuchs zu erzählen, inklusive direkter Ansprache an den Leser, kommt bei den Rezensenten gut an. "Furios" liest sich "So wirst du stinkreich im boomenden Asien" meint Merten Worthmann in der Zeit, und auch Hubert Spiegel kann in der FAZ nachvollziehen, dass Hamid in Pakistan als einer der begabtesten Schriftsteller seiner Generation gilt. Denn was als argloser Ratgeber daherkommt, entpuppt sich als "beißende Satire auf den globalen Raubtierkapitalismus", wie Claudia Kramatschek im Dradio begeistert feststellt. Und eine Leseempfehlung der FR: Sabine Vogel ist tief beeindruckt von Hossein Mortezaeian Abkenars Roman "Skorpion" der "schmerzhaft nah, grauenhaft brutal und dabei mit einer erschütternden Zärtlichkeit" vom Iran-Irak-Krieg erzählt.


Naher Osten/Maghreb


Shani Boianjiu, 1987 in Jerusalem geborene Autorin mit irakischen und rumänischen Wurzeln, erzählt in ihrem Roman "Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst" von drei jungen Frauen aus einem Dorf nahe der libanesischen Grenze, die zum Wehrdienst eingezogen werden. "Packend, rotzfrech und authentisch", lobt SZ-Rezensent Thorsten Schmitz, wird hier der Alltag in der Armee vorgeführt. Das Grauen, lernt Hilka Sinning, die das Buch in Titel, Thesen, Temperamente vorstellte, liegt nicht in der Gewalt selbst, sondern vor allem in der Alltäglichkeit der Ausnahmesituation: "Nicht die unerwarteten Ereignisse sind der Wahnsinn, sondern das Warten darauf. Das allmähliche Abstumpfen." Im Culturmag lobt Sophie Sumburane die Erzählweise Boianjius, die nie anklagend sei und immer die Perspektive von Mädchen einnehme "die denken wie 19-Jährige, mit Jungs umgehen wie 19-Jährige und Heimweh haben wie 19-Jährige."

Im Original ist Fawwaz Haddads Roman "Gottes blutiger Himmel" bereits 2010 erschienen, da konnte der syrische Schriftsteller noch nicht ahnen, dass sein im Irak angesiedeltes Schreckenspanorama bald Wirklichkeit in Syrien werden sollte. Haddad erzählt von einem Vater, der seinen radikalisierten Sohn zurückholen will, der mit einem Al-Qaida-Trupp in den Irak gezogen ist. Dort erlebt der Erzähler unvorstellbare Gewalt und Grausamkeit auf allen Seiten und kehrt schließlich traumatisiert und voller Hass auf seinen Sohn heim. In der FAZ zeigte sich Hubert Spiegel zutiefst bewegt von diesem Roman, der sehr kunstvoll die Blickwinkel der verschiedenen Akteure ausleuchte. In der NZZ lobte Angela Schader, wie vorurteilsfrei und erkenntnisreich Fawwaz Haddad schreibe.


Krimis

Das Berner Oberland wird in Sylvie Schenks Krimi "Bodin lacht" zum Schauplatz eines Verbrechens. Eine Pianistin wurde im Blausee ertränkt, man verdächtigt einen Therapeuten. SZ-Rezensent Joseph Hanimann ist von den Anschuldigungen und Spannungen zwischen den Figuren dieses "wunderbar raffinierten" Romans derart gefangen, dass der Mord, um den es eigentlich geht, für ihn fast nebensächlich wird. Ähnlicher Meinung ist Ferdinand Quante vom WDR, der das komplexe Geflecht aus Liebe und Verdruss als "intensiv" und "feinnervig" wahrnimmt. Auch in Raja Alems "Das Halsband der Tauben" wird eine schöne Tote gefunden, in diesem Fall ereignet sich der Mord in der Altstadt von Mekka. Familiengeheimnisse und zwielichtige Geschäfte kommen ans Licht. NZZ-Rezensentin Andrea Schrader ist verblüfft von der Themenvielfalt des Romans und wähnt sich bei der Lektüre zwischen Traum und Realität. Sie schreibt Alem großes Erzähltalent zu, nennt sie sogar eine "wahre Scheherazade".

Sehr gut besprochen sind zudem Lavie Tidhars Krimi "Osama" in dem der Ermittler Joe auf der Suche nach dem Autor der Groschenromanserie "Osama bin Laden" einmal quer über den Erdball hetzt und der, so findet Tobias Gohlis in der Zeit, die Detektivfigur "aus den szientistischen Fesseln des 19. Jahrhunderts" befreit, sowie "Tödliche Ohnmacht" () von C.S. Forester aus dem Jahr 1935, der auch aus der Feder einer energischen Feministin von Heute stammen könnte, stellt ebenfalls Tobias Gohlis beeindruckt fest. Auch in unserem "Mord und Ratschlag" fand das Buch großen Anklang.

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