Post aus Neapel

Scheinheilige Machos

Von Gabriella Vitiello
25.10.2004. Wenn die Rechte einen Gegner diskreditieren möchte, brüllt sie derzeit gerne "Schwu-le, Schwu-le" im Parlament. Auch berufstätige Frauen werden nicht gern gesehen. Dafür fand der SS-Kriegsverbrecher Erich Priebke einen Verleger für seine Memoiren. Es sind düstere Zeiten in Italien.
Italien hat einen neuen Märtyrer: den heiligen Rocco von Gallipoli. Am elften Oktober durchbohrten die feindlichen Pfeile des EU-Parlaments seinen - nicht mehr jungfräulichen - Leib wie einen modernen heiligen Sebastian, weil er seinem Glauben nicht abschwören wollte. Im Inland wurde Rocco, sein kompletter Taufname lautet Rocco Buttiglione, bislang den Italienern als geschätzter Philosoph verkauft und als ein europatauglicher Mann des Geistes, was die EU allerdings nicht blenden konnte. Nach seinen homophoben und frauenfeindlichen Äußerungen schickte sie den Freund des Papstes postwendend an den Absender - die Regierung Berlusconi - zurück. Um in Brüssel ein zentrales Amt einzunehmen, reiche es nicht, in sechs Sprachen fließend zu verkünden, dass Homosexualität eine Sünde sei, und die Frau nur innerhalb der Familie, beschützt vom Mann, eine gute Mutter sein könne.

Die Heiligengeschichte des Rocco, die in Italien eine Debatte über Klerikalismus und Laizismus und über die Trennung von Glauben und Politik in einem weltlichen Staat ausgelöst hat, erzählt ein sarkastischer Mario Portanova im kulturpolitischen Wochenmagazin Diario: "Zu spät ereilten ihn die Zeugnisse seiner Mitbrüder, um ihm noch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 'Armes Europa. Die Schwuchteln sind in der Mehrheit', rief etwa Mirko Tremaglia." Der Minister der Alleanza Nazionale ist der einzige italienische Abgeordnete, der auf zwei unterschiedliche Verfassungen geschworen hat: unter Mussolini auf die von Salo und auf die der heutigen italienischen Republik.

Homophobe Äußerungen sind unter den rechtsnationalen Politikern keine Seltenheit. "Schwu-le, Schwu-le" skandierte zuweilen im Parlament auch der Präsident der Region Latium, Francesco Storace. Mit seinem Geschrei meinte er schlichtweg alle seine politischen Gegner - beliebte alternative Beschimpfung ist "Kommunisten". Seine Ausfälle hinderten Storace nicht daran, die Promoterin des Gay Pride, Imma Battaglia, zur politischen Karriere in seiner Partei zu ermuntern. Die "Sexuallehre der Rechten ist durchaus elastisch", besonders wenn es um Stimmen und Wahlkampf gehe, kommentiert Gianfranco Capitta in einem Leitartikel der linksintellektuellen Tageszeitung il manifesto die verbalen Ausbrüche a la Storace, Tremaglia, Buttiglione.

Vor allem an der scheinheiligen Doppelmoral des Regierungsbündnisses um Berlusconi üben viele Intellektuelle und Journalisten derzeit scharfe Kritik. "Es ist paradox, wie Italien einerseits vom Mitte-Rechts-Bündnis Berlusconis mit übertriebener Freiheit, Liberalismus und Schlupflöchern, was die Staatsbürgerpflichten angeht, überschüttet wird, andererseits die eiserne Praxis eines ethischen Staates durchgesetzt werden soll", schreibt Capitta. Ein hübsches Beispiel für die italienische Doppelmoral hat er im Corriere della Sera gefunden. Auf der einen Seite des bürgerlichen Blatts war ein Leitartikel von Galli della Loggia abgedruckt, der Europa als Sklavin der Political Correctness bezeichnet. Auf der gegenüberliegenden Seite springt die Werbung für das Männerparfüm von Mode-Duo und Lebensgemeinschaft Dolce & Gabbana ins Auge. Wenn es um das Ankurbeln der stagnierenden italienischen Wirtschaft geht, sind sogar "Sünden" erlaubt. Das zeigt sich auch in einem neuen Beschluss der Regierung Berlusconi. Um ihre leeren Kassen zu füllen, verzeiht sie nun - selbstverständlich nur gegen entsprechend hohe Bußgelder - monströse Bausünden innerhalb von Naturschutzgebieten. Davon profitiert der Premier mal wieder persönlich, der so seine illegalen Bauten auf seinem sardischen Grundstück der Villa Certosa saniert (mehr). Dazu gehören eine kaum sichtbare Anlegemole wie aus einem James Bond-Film und ein Amphitheater, in dem Staatsgäste seiner Sangeskunst lauschen können. Umweltschutzorganisationen wie Legambiente weisen immer wieder darauf hin, dass illegaler Zement ungebremst fließt, sobald eine Regierung die Legalisierung von Bausünden nur ausspricht.

Die Vermischung der persönlichen ethischen Ebene mit der politischen ist in Italien an der Tagesordnung, analysiert der Moraltheologe Giannino Piana die Debatte um das Martyrium vom Buttiglione in einem Interview mit der Unita: "Der weit verbreitete Klerikalismus in der Politik erzeugt einen starken Antiklerikalismus, der sich in einen radikalen Laizismus verwandelt." Ein produktiver Wertekonsens zwischen den gegensätzlichen Strömungen wird damit unmöglich (hier das Interview).

Gegen die Folgen der Scheinmoral im kulturellen Leben polemisiert der Schriftsteller Aldo Busi (mehr) in il manifesto. Die Blindheit des allgegenwärtigen Katholizismus, des "Katho-Alles- und Katho-Überall- Kanons" sowohl "bei den Linken, als auch den Rechten und in den Universitäten" führt dazu, dass in Italien noch immer zwei der bedeutendsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts verkannt werden. Vitaliano Brancatis "Il bell'Antonio" (Der schöne Antonio) und Lucio Mastronardis "Il maestro di Vigevano" (Der Lehrer von Vigevano) sind für Busi die einzigen Werke des vergangenen Jahrhunderts, die die Zeit überdauern werden. Doch die Rezeption dieser Autoren und ihrer Bücher ist seiner Meinung nach mehr als dürftig, obwohl ihre tragikomischen Geschichten verfilmt wurden. Den impotenten, von Frauen umschwärmten Antonio spielte Marcello Mastroianni. In der Rolle des Grundschullehrers Mombelli, der zu Beginn des italienischen Wirtschaftsbooms verzweifelt versucht, die Gier seiner Frau zu stoppen, war Alberto Sordi zu sehen.

Eine weitere Auswirkung der homophoben Stimmung ist die Rücknahme des israelischen Films "Walk on Water" (Camminando sull'Acqua) vom italienischen Kinomarkt. Regisseur Eytan Fox und Produzent Gal Uchovsky haben angekündigt, dass sie für ihren Film, der "delikate Themen" wie Homosexualität und Gewissenskonflikt zwischen Juden und Deutschen thematisiert, Werbung und Vertrieb umgehend stoppen werden, obwohl der Kinostart für den zwölften November geplant war. Vielleicht eine übertriebene Reaktion, denn die Rücknahme des Films ist mit einer Selbstzensur vergleichbar. Wenn kontroverse Sujets aus der italienischen Öffentlichkeit verschwinden, ist dies ein Vorteil für katholische Moralwächter und vatikantreue Politiker.

Natalia Aspesi, Filmkritikerin und Journalistin für Kulturfragen bei der Tageszeitung La Repubblica, glaubt deshalb auch nicht, dass Buttiglione seine Affronts ins Blaue faselte. Sie sieht ihn nicht nur als Vertreter eines "Kreuzzugs gegen alles Antichristliche", sondern auch als Sprachrohr eines frauenfeindlichen Klimas in der Gesellschaft, das derzeit frisch aufblüht. Ihre These beweist sie mit Zitaten aus ihrer Rubrik "Herzensfragen" in der Magazinbeilage von La Repubblica, in der sie Briefe und Emails von Leserinnen und Lesern zu Themen rund um Liebe und Alltag beantwortet. In polternden Tönen schicken viele Männer in ihren Zuschriften die berufstätigen Frauen, die "arbeitslosen Familienvätern" die Stelle wegnehmen, wieder heim zu Kind und Herd. Zumal die meisten Frauen nur arbeiten, um "ihr Äußeres zu pflegen oder um vorgekochte Lebensmittel zu kaufen". Seit einem Jahr beobachtet Natalia Aspesi, wie immer mehr Briefe dieser Art bei ihr landen. Meist "angenervte Männer", die es "leid sind, ihre Wut an Kommunisten, Ausländern und Homosexuellen anzulassen, haben den klassischsten aller Feinde, den Satan aller Zeiten, wiederentdeckt: die Frau im Allgemeinen und die berufstätige Frau im Besonderen." Diese Entwicklung ist für Aspesi ein Gradmesser des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rückschritts in Italien: "Es sind düstere Zeiten".

Das gilt auch für die kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus. Rocco Buttiglione vertritt in diesem Bereich ebenfalls Ansichten, mit denen er nicht alleine dasteht. In seiner Heiligengeschichte in Diario erinnert Mario Portanova an eine Etappe im Lebensweg des heiligen Rocco, die von hellseherischer Kraft geprägt war. Kurz nach dem Wahlsieg Berlusconis prophezeite er seine baldige Ernennung zum Bildungsminister Italiens. Wichtiger Programmpunkt in seinem zukünftigen Amt sollte das Neuschreiben der irdischen Geschichte sein. Schließlich sollten die Kinder die Wahrheit über Nationalsozialismus und Faschismus erfahren, die "im Umfeld des Kampfs gegen den Kommunismus entstanden sind." (Hier ein Interview von damals, das Diario im Sommer ins Netz gestellt hat)

Der Faschismus als ein notwendiges Übel? - Das könnte die provozierende Frage an Buttiglione in Anlehnung an das neue Buch des Papstes lauten. In "Erinnerung und Gedanken" bezeichnet Johannes Paul II. den "Kommunismus als notwendiges Übel". Der Corriere della Sera brachte einen Auszug als Vorabdruck (hier ein Artikel dazu). Woraufhin die Zeitungen prompt die päpstliche Verortung von Hitler und Stalin innerhalb der Göttlichen Vorsehung diskutierten - sogar il manifesto mischte sich ein. Was wiederum ein Indiz dafür ist, wie selbstverständlich die katholische Lehre immer noch einen festen Platz in der italienischen Kulturlandschaft beansprucht. Bildungsminister wurde der katholische Philosoph Buttiglione trotz seiner Weissagungen dann doch nicht. Die Wege des Herrn sind eben unergründlich, und Silvio von Arcore ernannte Rocco von Gallipoli zum Europa-Minister. Das Umschreiben der irdischen Geschichte haben andere für ihn übernommen.

Seit etwa drei Monaten überschwemmt ein Opus von 895 Seiten die öffentlichen Bibliotheken Italiens - frei Haus und ohne aufgegebene Bestellung. Es ist die Autobiografie "Vae Victis" von Erich Priebke, einer der Verantwortlichen des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen. In Rom verbüßt er seine lebenslängliche Haftstrafe im Hausarrest. Erschienen ist das Buch auf Italienisch, entstanden in Zusammenarbeit mit Priebkes juristischem Bevollmächtigten Paolo Giachini. Die Wochenzeitschrift Diario wurde auf die zweifelhafte Büchersendung, die sogar Ortschaften erreichte, die nur 500 Seelen zählen, nach der Email eines Bibliothekars aus der Provinz Bologna an die Redaktion aufmerksam. Der hatte sich über das nicht bestellte Buch sehr gewundert. Der Buchdeckel verweist weder auf einen Verleger noch auf eine Verlagsreihe. Stattdessen nur die Aufschrift www.priebke.it. Wo auch kein Hinweis auf den Verleger existiert. Marina Morpurgo von Diario fragte daraufhin beim Zentralinstitut für Bibliothekskataloge (ICCU) in Rom nach, die ihr über die Identifikation der ISBN-Nummer den Verleger nennen konnten: "Es ist Priebke". Jedoch hat er vergessen, bei den Zentralen Nationalbibliotheken in Rom und Florenz jeweils ein Exemplar seines Buches zu hinterlegen, was strafbar ist.

Eine andere Spur, ebenfalls von einem misstrauischen Bibliothekar aufgedeckt, führt Diario zur Vereinigung "Uomo e Liberta". Präsident ist Paolo Giachini, der dem Wochenmagazin stolz sagte: "Ich bin der Verleger... Ich will die Wahrheit verbreiten, und Priebke ist die bestmögliche Person, um über das zwanzigste Jahrhundert zu sprechen. Wir haben eine Auflage von 30.000 Exemplaren gedruckt und sie gehen weg wie warme Semmeln. Nun drucken wir nach." Wie die zigtausend Autobiografien in die Bibliotheken gelangt sind, wer sie auf seine Kosten versandt hat, und woher die Gelder stammen, weiß Giachini allerdings auch nicht. Oder will es nicht sagen.

Historischer Revisionismus, Klerikalismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie - die Rechte Italiens experimentiert mit althergebrachten Werten. Einige kritische Stimmen - wie etwa auch Ezio Mauro, Direktor der Repubblica (hier sein Artikel, etwa in der Mitte der Seite) - deuten dies als Versuch, eine rechte Moral und Kultur in der italienischen Gesellschaft durchzusetzen. Ein Projekt, das Berlusconis seit seinem Amtsantritt als Premier wichtig ist. Wegen der großen ideologischen Widersprüche innerhalb seines Mitte-Rechts-Bündnisses und des Mangels an entsprechenden kulturellen Leitfiguren will das Unterfangen allerdings nicht so recht gelingen. Kulturell gesehen sind die großspurigen Machos der Rechten Schlappschwänze. Da sie keine überzeugenden Ideen haben, stopfen sie die geistige Leere mit radikalisierten christlichen Werten. Was besseres fällt ihnen derzeit nicht ein.

Vielleicht kann der Schriftsteller Alessandro Baricco aushelfen und neue kulturelle Horizonte eröffnen. Er feierte im Laufe des Jahres Erfolge mit der szenischen Lesung der Ilias von Homer (hier eine Besprechung dazu). Seine nacherzählte Version ist kürzlich in Buchform erschienen und verwandelte sich umgehend in einen Bestseller. Umstritten ist sein Nachwort zur selbst aktualisierten Ilias. Darin behauptet Baricco, dass die Größe von Homers Werk auf die Faszination des Kriegs zurückgeht. Krieg sei zwar die Hölle, aber von unwiderstehlicher Schönheit für die Menschen und Teil ihrer conditio humana (hier das Nachwort, in dem Baricco fragt, ob es neben der Schönheit des Kriegs eine andere, bessere Schönheit gibt).

Die Ästhetik des Krieges könnte der "destra culturale", der kulturellen Rechten Italiens gefallen. Freilich hat die Sache einen Haken: der Held Achill war homosexuell. Er versteckte sich in Mädchenkleidern und liebte Patroklos.