Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Christoph Buch: Baron Samstag. Teil 3

25.02.2013.
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H. C. Buch war mittelgroß und schlank; weil er schlecht hörte, hielt er den Kopf schräg geneigt, was seiner von Querfalten zerfurchten Stirn einen leidenden Ausdruck gab. Er sah aus wie ein Priester oder Soldat, ein Jesuit vielleicht. Doch der melancholische Zug um seinen Mund erinnerte eher an einen pensionierten Sheriff, dessen Hand zittert, weil er zu oft und zu tief ins Whisky-Glas schaut, statt auf der Main Street Banditen ins Visier zu nehmen.

"Du machst dich älter, als du bist", hatte Judith zu ihm gesagt, während er die Sicherheitskontrolle am Flughafen durchschritt, in löchrigen Socken, eine Hand am Hosenbund, um das Rutschen der Hose zu verhindern, deren Gürtel zusammen mit Schuhen, Portemonnaie und Brieftasche in der Black Box verschwand. "Reiß dich zusammen - Kopf hoch!"

Der Zuspruch bewirkte Wunder, er straffte sich, ein Ruck ging durch seine Wirbelsäule, und er saß kerzengerade auf seinem Gangplatz, die aufgeschlagene Zeitung auf den Knien, während die Stewardess ihm einen Imbiss anbot, für den das Wort Sandwich zu hoch gegriffen war. "Tomatensaft mit Pfeffer und Salz wird nur noch in Flugzeugen serviert", dachte Buch und zerteilte die Wochenendbeilage der Zeitung mit geübtem Griff, als handle es sich um ein erlegtes Wild.

Es war ein verspäteter Honeymoon, mit dem das Ex- Ehepaar den Jahrestag seiner Scheidung oder Hochzeit feierte: Erstere lag zehn, Letztere dreißig Jahre zurück. Mit einem ramponierten Auto waren sie von New York nach San Francisco gefahren und weiter bis Yucatán, wo der Rambler - so hieß der lädierte Gebrauchtwagen - den Geist aufgab. In Mérida hatte er das Autowrack stehengelassen, statt es nach Texas zurückzuschaffen, wie es der mexikanische Zoll verlangte, und zusammen mit Judith ein Flugzeug nach New Orleans bestiegen, wo sie im French Quarter eine vorgezogene Hochzeitsnacht feierten. Ursprünglich hatten sie in Gretna Green oder Las Vegas heiraten wollen, aber das gehört in ein anderes Kapitel dieser wie ein Flussdelta verzweigten Geschichte.

"Von all unseren Orangen ist die Nase am wichtigsten" - diesen bei der Zeitungslektüre entdeckten Druckfehler hatte er in sein Tagebuch notiert, weil er eine hinter den Wörtern verborgene, tiefere Wahrheit aufblitzen ließ. H. C. Buch war Karnevalskritiker von Beruf, vergleichender Karnevalsforscher genauer gesagt: Er verglich den Karneval in Rio de Janeiro, Trinidad, New Orleans und Port-au-Prince mit dem Kölner Karneval, der Mainzer Fastnacht, dem Fasching in München und der Basler Fasnacht - auch die Echternacher Springprozession und die römischen Saturnalien bezog er in seine Untersuchungen ein. Als Mitglied des Karnevalsvereins Narhalla hatte er, mit Turban oder Fez getarnt, Strichlisten angelegt, um die Zahl der Helau- und Alaaf-Rufe zu registrieren, ebenso wie den in Dezibel gemessenen Applaus, wenn ein Büttenredner einen Witz zum Besten gab. Buch hatte Kunstgeschichte und Romanistik studiert, dazu Slawistik im Nebenfach, und er hatte gelernt, Verbindungslinien zu ziehen zwischen der von Michail Bachtin analysierten Lachkultur der Renaissance und den Gottsuchern und Narren in Christo der russischen Literatur, von Rabelais bis Gogol, Dostojewski und Tolstoj.

Seine Monographie über Jazz als Schauspiel ohne Rampe, das die Trennung zwischen Bühne und Publikum überwand, war in mehrere Sprachen übersetzt worden: Demnach war die Jazzmusik Ausdruck eines karnevalistischen Weltempfindens, das nicht nur die Hierarchie der Gesellschaft durcheinanderwirbelte, sondern auch die Dogmen der Religion, einschließlich des Glaubens an ein Leben nach dem Tod, vom Kopf auf die Füße stellte. Und seine Charakterisierung der chinesischen Kulturrevolution als blutiger Karneval hatte ihm eine Einladung nach Hongkong verschafft.

In Wahrheit hatte ihn das närrische Treiben nie interessiert, und Buch wusste selbst nicht mehr, was er gemeint hatte mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Satz, von der Elferratssitzung zur Schwarzen Messe sei es nur ein Katzensprung, die Grätsche eines Liliputaners - oder musste es Blutgrätsche heißen? Der verordnete Frohsinn in den Hochburgen des Karnevals - schon das Wort Hochburg war eine Peinlichkeit - das Trampeln, Grölen und Schunkeln ließen ihn kalt, denn trotz der Kusshände, schlanken Beine und feschen Uniformen der Funkenmariechen hatte das, was an den tollen Tagen vom 11.11. um 11 Uhr 11 bis zum Aschermittwoch des folgenden Jahres geschah, mehr mit Alkohol als mit Sex zu tun: Die durch nackte Waden geweckte Begierde ertrank in Strömen von Billigsekt, und an die Stelle der erotischen Ausschweifung trat der Alkoholexzess.


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Auf den ersten Blick wirkte das Kloster enttäuschend - Buch hatte es größer in Erinnerung. So wie die Helgebachstraße, in der er geboren und aufgewachsen war, ihm als Kind prächtiger vorgekommen war als die Fifth Avenue oder die Champs Elysées, konnte er das unscheinbare Gebäude nur schwer in Übereinstimmung bringen mit dem strahlenden Bild, das er in sich trug. Einzig die Marmortafel zum Gedenken an Vater Vivie, den Apostel der Radrennfahrer, war ihm vertraut, alles Übrige sah fremd und abweisend aus: Zwei mit Dachziegeln gedeckte, halbrunde Türme, verbunden durch einen Mittelgang mit Torbogen. Rechter Hand parkte ein Kastenwagen, links ein Schotterplatz, auf dem er das Mietauto abstellte im Schatten einer Feldsteinmauer, hinter der sein Französischlehrer begraben lag. Der Name des Mönchs war ihm entfallen: Hatte er Bruder Martin geheißen oder Pater Paul? War seine Kutte braun oder beige? War er in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen und hatte vom Gesang der Landser geschwärmt und vom Sprudelwasser, das ihm besser schmeckte als Vittel oder Perrier: "Il est bon, le sproudel!" Oder verwechselte er den Mönch mit Monsieur Henri, dem Kellner aus Sanary, der ihm Briefkuverts mit Mimosenblüten nach Berlin geschickt hatte, wo es seiner Ansicht nach das ganze Jahr über regnete? Buch nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, und kritzelte Monsieur Henri in sein Notizbuch, während Judith vor der Pförtnerloge wartete, die nicht besetzt zu sein schien. ACCUEIL stand in Großbuchstaben über der Tür, an deren Klinke ein Pappschild hing mit der Aufforderung, sich zu gedulden. Irritierender als die geschlossene Rezeption war die auf einer Hinweistafel gegebene Information, dass La Sainte Baume, anders als Kloster Eberbach, wo Der Name der Rose gedreht worden war, nicht aus dem Mittelalter, sondern aus dem 19. Jahrhundert stammte. Nach der Christenverfolgung im Zuge der Französischen Revolution, las Buch kopfschüttelnd, hätten Trappistenmönche sich hier niedergelassen in einem als Bauernhof getarnten Kloster, das 1860 von Dominikanern übernommen worden sei, die das Gebäude renoviert und die von den Jakobinern zerstörte Grotte der Heiligen Magdalena restauriert hätten. Im Zweiten Weltkrieg hatte das zur Hotelschule umfunktionierte Kloster polnischen Nonnen und jüdischen Kindern Zuflucht gewährt, die auf diese Weise der Deportation entgingen - davon hatte Buch nichts gewusst.

Die Glocken läuteten. Es war sechs Uhr, Zeit für die Abendandacht. Er betrat die angrenzende Kapelle und kniete nieder - nicht um zu beten, das hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr getan, sondern um die Kirchenbänke zu testen. Zu seinem Leidwesen waren sie nicht gepolstert. Er klopfte ans Fenster der Rezeption, hinter dem sich nichts regte. Die Pförtnerloge blieb dunkel, und er ging nach draußen, um das Gepäck aus dem Auto zu holen. Erst jetzt, als er den scharfkantigen Schotter unter den Schuhen fühlte - Kalksteine aus den Bergen, von Wind und Sonne zu grobem Geröll zerlegt - spürte Buch, dass er am Ziel der Reise angekommen war: Die Erinnerung hatte sich den Fußsohlen eingeprägt, sein Körper hatte ein präziseres Gedächtnis als sein Gehirn. Zum ersten Mal seit der Ankunft in La Sainte Baume hob er den Blick gen Himmel, zu dem von Nebel umhüllten Bergmassiv: Die Wolkendecke riss auf, und er sah die Grotte der Heiligen Magdalena mit der in den Fels gehauenen Kirche, hinter deren Fenster ein Licht aufflammte - oder war es der Schein der untergehenden Sonne, die sich in der Glasscheibe spiegelte?


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H. C. Buch war ein Sünder, obwohl er, um keinen Punkt in der Flensburger Verkehrssünderkartei zu bekommen, jedes Bußgeld sofort überwies - eine moderne Form des Ablasshandels wie das Geschäft mit CO2-Emissionen, das Martin Luther angeprangert hätte, wenn er heute leben würde. Buch besaß kein Kohle- oder Atomkraftwerk, keinen Regenwald und keine Rinderherde, die mit ihren Blähungen die Erdatmosphäre aufheizte; er zahlte pünktlich seine Steuern und trennte so sorgfältig seinen Müll, dass Judith ihn als Dr. Müll verspottete.

Buch war ein Meister der Sekundärtugenden, aber es gab keine Todsünde, von der er sich nicht vorstellen konnte, sie selbst begangen zu haben. Er steckte voll krimineller Energie: Ein notorischer Ehebrecher, Lügner und Dieb, vielleicht sogar ein Mörder, denn er hatte nicht nur falsch Zeugnis abgelegt und seines Nächsten Haus, Hof und Weib begehrt. Er hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen und fragte sich, ob es sich um unterlassene Hilfeleistung gehandelt habe oder um Schlimmeres. Aber das war history, wie Winston Churchill zu sagen pflegte - oder war es Franklin D. Roosevelt?

Buch war sich sicher, dass das Böse kein Resultat seiner Umwelt oder Erziehung war, sondern in ihm rumorte wie die Dämonen, die Christus aus dem Leib der Maria Magdalena vertrieben hatte, als die Sünderin ihm die Füße wusch. So besehen, waren die Gemälde von Hieronymus Bosch, die er im Prado bewundert hatte, keine Visionen eines krankhaft genialen, überreizten Gehirns, sondern realistische Darstellungen der Wirklichkeit: Es genügte, Suchbegriffe wie oral oder anal, Sado oder Fetisch in den Computer einzugeben, um Bilderfolgen zu sehen, im Vergleich zu denen Hieronymus Bosch ein harmloser Chorknabe war: "Seine Hände griffen lauter Henkel, / und der Schatten schob sich auf wie Schenkel / warm und zu Umarmungen erwacht", hatte Rilke geschrieben, der letzte deutsche Dichter, der noch religiöse Anfechtungen gekannt hatte und für den Christentum mehr bedeutete als ein leeres Wort.

"Du stehst da wie ein Fragezeichen", sagte Judith und schob ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Er lud das Gepäck aus dem Kofferraum, und sie folgte ihm in respektvollem Abstand, mit Plastiktüten beladen wie eine türkische Ehefrau, während Buch die Fresken in Augenschein nahm, die er beim ersten Rundgang übersehen hatte: Jugendstilfresken, wie er mutmaßte, auf denen Maria Magdalena zum Zeichen ihrer Sündhaftigkeit mit rotem Haar dargestellt war, üppig gelockt und bestens geeignet, um dem Messias die Füße zu trocknen.

Er hörte ein dezentes Räuspern, und als er sich umdrehte, stand eine schwarz gekleidete Nonne in der Tür, die Judith und ihn aufforderte, das Gepäck im Vestibül abzustellen und ihr zu folgen. Sie sprach französisch mit hartem, spanisch klingendem Akzent, passend zu ihrem dunklen Teint, und als Buch fragte, ob sie aus Südamerika komme, murmelte sie ¿como no? und nickte erfreut, wie ihm schien: "¡Soy de Barranquilla!" Es sei Essenszeit, fügte die Nonne hinzu und führte ihn durch einen gekachelten Flur zu einem gedeckten Tisch, auf dem Wasser, Wein und Brot bereitstanden. Die roten Keramikfliesen, die grünen Fensterläden, dazu die Tischdecke aus weißem Papier und der Geruch von Eau de Javel, einem in Südfrankreich gebräuchlichen Putzmittel - alles erinnerte Buch an seine Kindheit in der Provence, obwohl er nicht separiert, sondern zusammen mit den Mönchen im großen Speisesaal gegessen hatte - damals gab es noch keine Nonnen in La Sainte Baume. Die Kolumbianerin verschwand in der Küche und kehrte zurück mit einer dampfenden Terrine, aus der sie Suppe ausschenkte.

"Kressesuppe", sagte Judith, und Buch goss Wein in ihr Glas, aber als er ihr zuprosten wollte, gebot die Schwester Oberin ihm Einhalt: Nicht die Nonne aus Kolumbien, sondern eine ältere, streng blickende Spanierin namens Sidonia, die an den Tisch getreten war und mit gefalteten Händen das Vaterunser sprach. Buch hatte das Beten verlernt, und bei dem Satz "Und vergib uns unsere Schuld / wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" verhedderte er sich. Doch das fiel niemandem auf, weil die Schwester Oberin nur gebrochen französisch sprach. Sie wünschte ihnen guten Appetit, und er nahm sich vor, den Text des Gebets im Computer zu checken. Oder war die Übersetzung von Martin Luther überholt, und Walter Jens hatte das Vaterunser verschlimmbessert und verkitscht?

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Auszug mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Verlagsanstalt
(Copyright Franfurter Verlagsanstalt)


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