Efeu - Die Kulturrundschau

Das perfekte Idyll, also das Grauen

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11.12.2018. Die SZ feiert den heiteren Barock des bayrischen Malerpoeten Heinz Braun. Hyperallergic begibt sich zu den Klängen eines Didgeridoo auf eine "Stolen Goods Tour" durch das British Museum. Die taz erfährt, dass vor allem die Untertitelung die digitale Verbreitung europäischer Filme erschwert. Hundertvierzehn stellt das neue Online-Archiv mit Thomas-Mann-Manuskripten vor. Und die Zeit hört ein denkendes Orchester.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.12.2018 finden Sie hier

Kunst

Heinz Braun: Im Hacketal, 1985.


Höchst vergnügt spaziert SZ-Autor Willi Winkler durch die Schau, die das Museum Fürstenfeldbruck dem urbayrischen Malerpoeten Heinz Braun widmet: "Vom Sterben und vom Leben davor handeln seine Bilder. 'Im Hacketal' heißt eins seiner schönsten, aber wer es nicht weiß, ahnt nichts Böses, nicht das Böse, das in diesem blumenreichen Tal blüht. Ein Kruzifix zerteilt das Bild diagonal, die Wunden, von Nägeln geschlagen, bluten gehörig, demütig steht Maria unterm Kreuz, und statt der anderen Leidtragenden bleckt eine Kuh die Zunge gegen den Gekreuzigten. Blasphemie? Nein, reinstes Barock, eine Vanitas-Allegorie, wenn es je eine gab, denn in der Klinik des Julius Hackethal suchte Braun Heilung, zahlte, was der gute Doktor verlangte, und malte dafür um sein Leben. Es ist das perfekte Idyll, also das Grauen."

Für Hyperallergic begleitet Naomi Polonsky die Performance-Gruppe BP or Not BP auf einer "Stolen Goods Tour" durch das British Museum, mit Aktivisten aus Australien, Neuseeland, Hawaii, Irak und dem griechischen Teil Zyperns: "Die Tour begann im Raum der Aufklärung mit einem Vortrag des Aborigines-Aktivisten Rodney Kelly, der seit zwei Jahren die Rückgabe des Gwaegal-Schilds fordert. Kelly ist in sechster Generation ein Nachfahre des Kriegers Cooman und behauptet, dass dieser Schild seinen Vorfahren 1770 von Captain James Cook geraubt wurde, während der ersten Begegnung von Briten und den indigenen Australiern an der Botany Bay. In seinem Vortrag, in den Performances mit dem Didgeridoo eingebaut waren, erklärte Kelly, dass die Restitution ein Weg wäre, um die Gewalt anzuerkennen, die Aborigines in der geschichte angetan wurde. Er erklärte auch die spirituelle Bedeutung des Gegenstands: 'Für manche Leute mag es nur ein Stück Holz sein', sagte Kelly, 'doch Aborigines sind spirituelle Menschen, für sie ist die Erde unsere Mutter'."

Weiteres: Ebenfalls auf Hyperallergic blickt die brasilianische Kuratorin Andrea Giunta auf die Mercosur Biennale unter Präsident Jair Bolsonaro. Ihre Strategie: So viel Dialog wie möglich. Für den Guardian trifft Kate Connolly mit Ai Weiwei, der eine Flagge für die Menschrechte entworfen hat (ein weißer Fußabdruck auf blauem Grund) und sich im Übrigen ziemlich bitter über die Feindseligkeit äußert, die ihm in Berlin entgegengebracht wird. Zum zweihundertjährigen Bestehen feiert der Prado in Madrid seine Sammlung mit einer opulenten Schau, und NZZ-Kritikerin Uta Reindl lässt sich von den Ikonen der spanischen Malerei überwältigen: Velázquez und Zurbarán, Goyas "Nackte Maja" und gleich daneben Picasso Variation des Motivs.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Wirkungsgeschichte von Ovids Metamorphosen in den Scuderie del Quirinale (SZ), Sofia Hulténs Ausstellung "Unstable Fakers of Change in Self" im Kindl Berlin (taz) und Barbis Ruders "Influenca"-Schau "Screentime" in der Neuen Galerie Innsbruck (Standard).

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Bühne

Besprochen werden Luk Percevals "Mut und Gnade" am Schauspiel Frankfurt (SZ), Jonathan Doves komische Oper "Marx in London" im Theater Bonn (SZ), Andreas Homokis Inszenierung von Stephen Sondheims Musical "Sweeney Todd" in Zürich (NZZ) und Jacques Offenbachs "Barkouf" in Straßburg (NMZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Gespräch mit dem Hundertvierzehn-Blog des S. Fischer Verlags stellen die Leiterin des Thomas-Mann-Archivs, Katrin Bedening, und Thomas-Mann-Lektor Roland Spahr insbesondere das Online-Archiv mit Digitalisaten aus Manns Werkmanuskripten vor. Komplett online stehen diese historischen Dokumente allerdings noch nicht, erfahren wir von Spar: "Bis Ende 2025 hat der S. Fischer Verlag die exklusiven Veröffentlichungsrechte an den Schriften Thomas Manns. Da wir mit der 'Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe' ein aufwendiges Editionsprojekt verantworten, das auf den Handschriften, Typoskripten und Notizen im Thomas-Mann-Archiv basiert, werden die Handschriften und Materialien, die im Rahmen der Ausgabe bereits ediert und analysiert worden sind, nach Absprache mit den Erben Thomas Manns ab sofort schrittweise und begleitend zur Edition online gestellt. Siebzig Jahre nach dem Todesjahr des Autors, also ab 2026, wird das Werk Thomas Manns frei zugänglich sein."

Weitere Artikel: Tobias Sedlmaiers bringt für die NZZ in Erfahrung, wie sich Enid Blytons "Fünf Freunde" 50 Jahre nach dem Tod ihrer Schöpferin mit dem Brexit herumschlagen. Besprochen werden unter anderem A. L. Kennedys "Süßer Ernst" (taz), Richard Powers' "Die Wurzeln des Lebens" (Zeit), Vivek Shanbhags "Ghachar Ghochar" (Tagesspiegel), Gerhard Neumanns "Selbstversuch" (SZ), Zoltán Danyis "Der Kadaverräumer" (NZZ) und Min Jin Lees "Ein einfaches Leben" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Die Initiative "Walk this Way" will europäische Filme sichtbarer und zugänglicher machen - zumal die Zahl europäischer Produktionen, die nie im Ausland laufen, durchaus beträchtlich ist, erklärt Muriel Joly im taz-Interview. Dass Filme, was Nationalgrenzen betrifft, weniger mobil sind als dies im Internetzeitalter nötig wäre, liege auch an den Beharrungskräften alter Rechtemärkte, erfahren wir: "Die Filme werden von Rechtehändlern Land für Land im Paket verkauft: also für Kino, DVD, und Online. Und wenn die Rechte für einen Film in einem Land keinen Abnehmer finden, ist es höchstwahrscheinlich, dass dieser Film dort überhaupt nicht zu sehen sein wird - weder im Kino, noch auf DVD oder auf Video-on-Demand-Plattformen. Niemand übernimmt nur die Onlinerechte, denn es würde erst einmal Geld kosten, die Filme zu untertiteln. Dabei bieten sich digital so viele Möglichkeiten: Ein Film müsste nur untertitelt werden und könnte auf vielen Märkten laufen. Ein günstiger und flexibler Weg der Verbreitung. Aber im Moment verhindert das eben noch sehr oft der Verkauf der Rechte im Paket."

Mitunter um sehr grundsätzliche Fragen der Filmsicherung geht es im Standard-Gespräch, das Dominik Kamalzadeh mit Frédéric Maire, dem Präsidenten der internationalen Vereinigung der Filmarchive (FIAF) und Chef der Cinémathèque Suisse, geführt hat: "Wir befinden uns am Beginn einer neuen Ära. Als der Tonfilm kam, hat es auch Jahre gedauert, bis sich ein System weltweit durchgesetzt hat. Es wird noch Jahre brauchen, bis es ein Format gibt, das in allen Ländern kompatibel ist. Die DCPs, die Digital Cinema Packages, die dieser Tage ins Kino gelangen, sind komprimiert. Würde man diese aufbewahren, behielte man nur eine schlechte Kopie. Um die originale DPX aufzubewahren, braucht man jedoch enorme Speicherleistung - und oft fehlt den Archiven dafür das Geld. Die Kluft, die es schon in der Erhaltung des analogen Films zwischen den Institutionen gab, wird dadurch noch größer. Deshalb ist die Lösung, bei der Erhaltung des Erbes auf Film als Material zurückzukehren, nicht die absurdeste Lösung. Weil dies Sicherheit bietet."

Weitere Artikel: Andreas Busche berichtet im Tagesspiegel vom Filmfestival in Marrakesch, das in diesem Jahr erstmals von Christoph Terhechte, dem ehemaligen Chef des Berlinale-Forums, geleitet wird und sich in diesem Jahr auf Anweisung der Politik wieder vermehrt dem Publikum öffnen soll. Besprochen werden Gaspar Noés "Climax" (Tagesspiegel, unsere Resümees hier und dort), eine DVD-Edition mit Fellini-Klassikern (Intellectures) und Želimir Žilniks "Das schönste Land der Welt" (Standard).
Archiv: Film

Musik

Zeit-Rezensent Wolfram Goertz schwebt im siebten Himmel, als er Paavo Järvis mit dem Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingespielte Interpretation von Brahms' "Erster Sinfonie c-Moll" hört: "Man erlebt förmlich mit, wie sie die Partitur befragen, Phrasen neu modellieren, den Klang lichten oder konzentrieren. Wir hören nicht weniger als das denkende Orchester. Vor allem widerlegen sie die These, dass die Historisten zwanghaft alles besonders schnell und auf Alarm gebürstet spielen. In der langsam lastenden, schwer schreitenden Einleitung gibt es nach der Pizzicato-Heimlichkeit zwei erstaunliche Wunderharmonien aus Des-Dur und Ges-Dur, die sich wie eine Muschel öffnen und wieder schließen. Über diesen Moment der Kostbarkeit, der zugleich atmet und saugt, dirigieren die meisten Dirigenten hinweg. Järvi und seine Bremer deuten ihn als Ausblick in eine Parallelwelt, als Verheißung."

Weitere Artikel: Für tazler Ulrich Gutmair stellen Bilderbuch mit ihrem neuen, überraschend im Netz veröffentlichten Album "Mea Culpa" unter Beweis, "die deutschsprachige Band mit dem größten Pop-Appeal seit Falco" zu sein. Für die SZ hat Jonathan Fischer einen Gottesdienst des früheren Soulsängers und heutigen Predigers Al Green besucht. Auf Pitchfork widmet Simon Reynolds dem verstorbenen Buzzcocks-Sänger Pete Shelley einen ausführlichen Nachruf. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzpianisten McCoy Tyner zum 80. Geburtstag.



Besprochen werden Eleonore Bünings Buch "Sprechen wir über Beethoven" (NZZ), ein von Kirill Petrenko dirigiertes Konzert der Wiener Philharmoniker (Standard), ein neues Album von Hans Platzgumers Band Convertible (Standard), das neue Kollegah-Album, auf dem sich der Rapper laut Tagesspiegel-Kritikerin Nadine Lange "ungebrochen misogyn" zeige und zudem auf eher wirre Weise für mehr Nationalstolz plädiert, ein Konzert des Pianisten Marc-André Hamelin (SZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue Live-Aufnahme der Pianistin Yuja Wang (SZ).
Archiv: Musik