Essay

Europa Jetzt und Immer

Von Peter Mathews
02.04.2013. Die verzagte Europa-Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck zeigte, dass sich die europäische Idee ihrer eigenen Geschichte nicht bewusst ist. Aber die bis zum Überdruss wiederholte Formel vom "fehlenden Gründungsmythos" ist falsch. Europa muss sich nur trauen - und an das "Junge Europa" erinnern.
Bundespräsident Joachim Gauck scheint nach einem Jahr im Amt angekommen zu sein. Jedenfalls redet er inzwischen wie ein Politiker, der sich nicht traut. Der selbstbewusste Ton des Freiheitsredners ist verhallt, nun bestimmt das Zögern die Wortwahl. Ein Beispiel ist seine Europarede vom 22. Februar diesen Jahres.


"So viel Europa war nie!"

Mit diesem Fanfarenstoß beginnt der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck seine Europarede im Berliner Schloss Bellevue. Aber bereits nach wenigen Sätzen wird aus dem hohen Ton des "Soviel Europa war nie!" ein Klagelied. Das Folgende klingt, als würde der Redner dem optimistischen Unterton seiner Aussage nicht trauen und es folgt eine beredte Klage über das traurige Lied, das die Bürger vom Zustand dieses Europa singen. Es mündet in der Beschreibung als würde der Mythos Europas sich an keiner Melodie, sondern an eine Fermate, einer Generalpause orientieren. Europa nicht als Figurine oder Plasttik , sondern negative Form, als Model oder Projektionsfläche. Reiht man die verwandten Substantive der ersten drei Absätze vom grammatikalischen Kontext befreit aneinander, entsteht eine verdrießliche Stimmung, die so ganz im Gegensatz zum Einleitungssatz steht:

"Europa, Euro, Krisenfall. Rettungspaket, Unbehagen, Unmut, Angst, Abstieg , Verschulden, Haften. Kritik, Verdruss, Regelungswut, Klage, mangelnde Transparenz, unübersichtliches Netz, Unwille. Macht- und Einflusslosigkeit, Klärungsbedarf , Ungeduld, Erschöpfung, Frustration. Krise, Krise des Vertrauens."


"So viel Europa war nie?"

Jede Rede - so die Theorie - folgt einer bestimmten Dramaturgie. Idealerweise mit einem "pfiffigen" Einstieg und dann in mehreren Stufen aufwärtsstrebend das oder die Probleme entwickelnd, um zu einer Schlussfolgerung und Lösung zu kommen. Der Bundespräsident nimmt aber einen anderen Weg. Er wählt den Weg in den Keller, denn nach dieser Exposition ist der Zuhörer auf ein Europa der Krise eingestimmt und es soll noch schlimmer kommen, denn auch die Hoffnung auf Besserung kommt nicht optimistisch, sondern im Ton der Entschuldigung daher. Der Redner sagt nicht "Der Anfang war vielversprechend, sondern "Der Anfang war doch vielversprechend." Das Wörtchen "doch" soll wohl den Umstand andeuten, dass die Sache vermasselt wurde und bei "vielversprechend" schwingt, wenn es wie hier rückschauend verwandt wird, die Enttäuschung mit.

Als Anfang Europas wird der französische Vorschlag für eine Kohle- und Stahlunion aus dem Jahr 1950 beschrieben und dann in Form einer Mängelliste die Geschichte der europäischen Einigung fortgeschrieben. Die Beispiele für das Werden haben einen miesepetrigen Ton. So heißt es: "Selbst an bedeutenden Wegmarken fehlte es in der Vergangenheit oft an politischer Ausgestaltung". Oder, die Aufnahme vieler Staaten in die europäische Union erfolgte, "obwohl das nötige Fundament fehlte." Und die Einführung des Euro war "folgenschwer", hatte einen "Konstruktionsfehler", der im Moment "notdürftig korrigiert" wird. Dass bei so einer Ausgangslage die Einheit Europas doch Vorteile haben soll, ist dann schon verwunderlich und das heutige Europa ohne Grenzen ist danach kein Ergebnis von Willen und der Gestaltung durch Politik, sondern erscheint wie durch eine unbefleckte Empfängnis zustande gekommen zu sein.

Und ja, da ist ein weiteres auch als Problem dargestelltes Thema. Die europäische Identität, die als keine aus dem Inneren entstandene Überzeugung und Tradition erscheint. Statt dessen zitiert der Redner den Schweizer Philosophen und Bürger Europas Denis de Rougement, der gesagt hat: "Von außen gesehen ist die Existenz von Europa augenscheinlich." Gauck hadert mit der Identität und fragt sich und den Zuhörer "Woraus schöpft Europa seine unverwechselbare Bedeutung, seine politische Legitimation und seine Akzeptanz?"

Zunächst aus dem Friedensprojekt. Der Wunsch "Nie wieder Krieg" wird als die Klammer gesehen, die die Gegensätzlichkeiten der Nachkriegszeit überwindet, und hinzu kam nach vierzig Jahren als positiver Aspekt die Wiedervereinigung, die Freiheit. Europa findet seine Identität als Friedens- und Freiheitsprojekt. Es geht aufwärts - aber sogleich folgt der nächste Generalmangel europäischer Ideengeschichte. Ich zitiere diese Passage ausführlich, weil sie der Anker, den Turningpoint der Rede darstellt:

"Trotzdem stimmt, was oft moniert wird: In Europa fehlt die große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Million Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt: Wir Europäer haben keinen Gründungsmythos nach der Art etwa einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübergetreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte. Wir haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten."
 
Wirklich nicht? Dem ist zu widersprechen. Und zwar in mehreren Punkten. Natürlich kann man dabei nicht im Jahr 1946 oder 1950 beginnen, sondern muss weiter in die Geschichte zurückgehen, um Europa zu erfassen.

Ich behaupte, es gibt diesen Mythos, diesen Geist, der Europa von allen unterscheidet, es gab diese Schlachten, die über das Schicksal des Kontinents entschieden, wie die gemeinschaftliche Abwehr der Osmanen vor Wien oder die politischen Akte der Emanzipation, wie der Kampf um Freiheit und Einheit im 19. Jahrhundert , sehr wohl. Wir müssen uns nur an sie erinnern wollen.

Aber zunächst weiter in der Rede des Bundespräsidenten, der dann doch eine Quelle europäische Identität ausmacht, den "zeitlosen Wertekanon". Diese Formulierung macht stutzig, obwohl sie einen völlig richtigen Umstand beschreibt, nämlich wofür Europa steht - Zitat: "für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Menschenrechte und Solidarität."

Diese Werte sind universell, wenigstens nach dem europäischen Verständnis (außer für Helmut Schmidt, der die Chinesen ausnimmt) in der Charta der Vereinten Nationen, der europäischen Verfassung und konkret gesichert im Grundgesetz. Aber sind die Werte "zeitlos", also "ewig"? Wohl kaum.

Sie sind erkämpft, erstritten und mussten und müssen verteidigt werden. Diese Werte sind nicht offenbart worden, nicht vom Himmel gefallen, sondern Menschen, Parteien, Verbände, Politiker haben sich dafür engagiert, viele sind zur Verteidigung dieser Rechte gestorben, landeten im Gefängnis oder wurden vertrieben. Ich will damit auf einen bestimmten Punkt hinaus, nämlich, dass wir nicht so tun können, als sei Freiheit oder der soziale Rechtsstaat so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen, der Himmel, die Erde und das Meer. Die Elemente wurden uns geschenkt, geliehen, zur Bewahrung für unsere Kinder überlassen. Aber die Freiheit, der Frieden, die Gerechtigkeit? Alles Politik. Alles Menschenwerk. Und deshalb empfindlich gegen Missbrauch, nur sicher durch ständigen Gebrauch und Pflege. Freiheit, Gerechtigkeit und Co. müssen ständig verbessert, benutzt und genutzt, gelebt, weiterentwickelt werden.

Der Bundespräsident sieht - und da ist ihm voll zuzustimmen - Europa als Wertegemeinschaft und verbindet den Wert Freiheit mit Toleranz, um die großen Migrationsströme der letzten Jahrzehnte darunter subsumieren zu können. Die Menschen suchen in Europa die Freiheit vor Verfolgung, Zensur, Folter, Todesstrafe, Gewalt gegen Frauen und von Armut, und Europa bietet ihnen das. Freiheit wird zu Toleranz, Toleranz bedeutet Vielfalt, Vielfalt bedeutet Anderssein. Dieses Anderssein ist erwünscht, auch wenn er nicht hinterfragt, ob dieses Anderssein Freiheit noch mit denselben Inhalten füllt. Ob die Freiheit, die am Anfang beschworen, am Ende auch gemeint und gelebt wird.

Im Schlussteil der Rede appelliert Gauck dann an das Engagement der Bürger, will er die Bürgergesellschaft fördern und vermeiden, dass Deutschland ein Führungsanspruch unterstellt wird. Er macht Vorschläge, wie in Europa besser miteinander kommuniziert werden könnte, bittet um Vertrauen. Und bedankt sich, dass Deutschland in die Völkergemeinschaft aufgenommen wurde. Ein sprachlich und dramaturgisch merkwürdig unentschlossener Schluss, der die in der Rede zu Beginn in so großer Fülle beschriebenen Zweifel nicht durch einen Appell oder eine Geste ins richtige Verhältnis zum Ganzen bringt, sondern wie der Titel der Rede merkwürdig unentschlossen wirkt: "Europa: Vertrauen erneuern - Verbindlichkeit stärken".

Die mit "Soviel Europa war nie!" offensiv begonnene Rede ist dann doch zu einer Bestandaufnahme des beklagten Mangels und Zweifel geworden. Wenn aber selbst der Bundespräsident diese Geschichte als fehlerhaft sieht und die Errungenschaften nicht als solche darzustellen vermag, dann stimmt natürlich der Eindruck, dass es europäische Identität bei den Bürgern schwer hat. Es könnte auch der Eindruck entstehen, dass diese Identität des selbstbewussten Europäers gar nicht erwünscht ist. Dazu passt, dass eine Meistererzählung vom Mythos Europa gar nicht versucht und aktiv vermieden wird. Es geht nicht mehr um Integration in das europäische Wertesystem, sondern um politische Inklusion, das heißt die Anerkennung unterschiedlicher Wertsysteme als Normalfall. Deshalb werden historische Bruchstellen wie die Auseinandersetzung mit Kollektivgesellschaften wie mit dem Islam oder dem Kommunismus vermieden. Aus Angst vor dem Vorwurf des Eurozentrismus werden Widersprüche unter einen großen Teppich namens "gelebte und geeinte Vielfalt" gekehrt.

Europa möchte nicht strahlen, weil andere sich dann im Schatten wähnen, Europa möchte keine Stärke zeigen, weil andere sich dann schwach fühlen könnten, Europa möchte nicht zeigen, was es kann, weil andere sich dann bevormundet vorkommen, Europa will nicht erzählen, wo es herkommt, weil andere sich dadurch an Konflikte erinnert fühlen könnten.

Um es deutlich zu sagen, die Rede des Bundespräsidenten lässt den Eindruck zurück, dass man - ich sage "man" und meine damit die politisch Verantwortlichen - alles vermeiden möchte, was den Verdacht imperialer Ansprüche, kolonialer Ambitionen oder westlicher Überlegenheit auch nur hervorrufen könnte. Was in den Gesellschaftswissenschaften längst üblich ist - zu vermeiden, den vermeintlich "westlichen Blick" auf die Welt zu richten - scheint jetzt auch in der Politik angekommen zu sein. Man will sich nicht mehr mit sich selbst identifizieren.

Vielleicht ist das der Grund, warum man die Europas Geschichte in dieser Rede auf die Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts verkürzt hat. Denn geht man weiter zurück, ergibt sich sehr wohl ein besonderer Charakter dieses Kontinents, dessen Menschen die Welt nachhaltig geprägt haben und an deren beste und auch dunkle Seiten wir uns erinnern sollten.

Zum Beispiel an den 15. April 1834 in Bern. Dort trafen sich unter der Leitung des italienischen Advokaten und späteren Mitgründer Italiens Giuseppe Mazzini einige Polen, Italiener und Deutsche um einen Geheimbund ins Leben zu rufen.. Sie nannten ihren Bund "Junges Europa". Ihr Ziel war "Demokraten aller Länder vereinigt Euch" und "Freiheit, Gleichheit, Humanität" in einem Europa ohne Fürsten und Grenzen. Sie beschlossen einen Aufruf und schworen "jetzt und immer" für Europa einzustehen.

Die Männer wurden von Metternich und den Fürsten Europas und ihrer Polizei verfolgt, - die Schweiz kam in diplomatische Schwierigkeit und die Europakämpfer flohen nach England oder Amerika ins Exil. Ihre Schriften wurden verboten, sie wurden von Marx, weil sie die "Klassenfrage" ignorierten - denunziert und verspottet und vielleicht auch deshalb vergessen. Aber es war trotz alledem einer der vom Präsidenten so arg vermissten Akte der sozialen und politischen Emanzipation. Eine der vielen Sternstunden Europas im Kampf um Freiheit und Einheit. Die Parole dieser "Jungen Europäer" gilt, denn Europa war und ist "Jetzt und immer".

Peter Mathews

Der Autor bereitet zur Zeit ein Buch über Harro Harring, Giuseppe Mazzini und "Das junge Europa" vor.