Im Kino

Tollwut ist besser als Depression

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Fabian Tietke
05.01.2022. Die Fratelli Fabio und Damiano D'Innocenzo zeichnen in "Favolacce" mit höhnischer Brutalität das Bild einer Mittelschichtswelt und ihrer Kinder, die nicht mal mehr an der Oberfläche Idylle sein will. Ganz anders Moumouni Sanou, der mit viel Empathie das Leben in der Krippe von Frau Coda dokumentiert, die sich um die Kinder der Burkinerinnen in Bobo-Dioulasso kümmert, die nachts arbeiten müssen.


Die Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D'Innocenzo mischen gerade den italienischen Kulturbetrieb auf. Als reine Autodidakten ohne formale Ausbildung drehen sie Filme, schreiben Gedichte, bringen Fotobände heraus und kümmern sich dabei um keine Schulen und keine Traditionen: Reine Talente ohne Schliff und ohne Fassung. Schon ihr Debüt "La terra dell'abbastanza" über zwei Brüder, die am Rande Roms in den Sog der Mafia geraten, war von roher Kraft. Bei der Berlinale 2020 erhielten sie für ihren Film "Favolacce" den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Es sind morbide Geschichten, die sie erzählen, dunkel, böse und grotesk. Von einer Faszination, der man nicht ganz trauen mag.

Wie sich die Geschichten zusammenfügen bleibt ein wenig rätselhaft. Ein Erzähler will das Tagebuch eines jungen Mädchens gefunden haben, schreibt es dann aber selbst fort. Er raunt von einer wahren Geschichte, die auf einer Lüge basiere. Der Film beginnt mit derselben Familientragöde in den Nachrichten, mit der er auch enden wird, was aber eigentlich nicht sein kann, denn zumindest einige der Menschen vor dem Fernseher werden die Ereignisse nicht überleben. Es schließt sich weniger ein Kreis als ein Möbiusband.

Es sind Sommerferien im Vorort Spinaceto, dem bescheidenen Traum der römischen Mittelklasse. Die braven Kinder Dennis (Tommaso di Cola) und Alessia (Giulietta Rebeggiani) haben aus der Schule nur Einsen nach Hause gebracht, doch die berühmte unbeschwerte Heiterkeit will nicht aufkommen. Drückende Hitze legt sich über die trägen Tage. Eher pflichtschuldig als ausgelassen spielen sie in den Gärten mit dem Wasserschlauch. Meist beobachten sie das gehässige Treiben ihrer Eltern mit stummen Blicken. Die schöne, aber unergründlich traurige Viola (Giulia Melilio) bringt schon gar kein Wort mehr heraus. Sie sind die zugerichteten Kinder einer Mittelschichtswelt, die nicht mal mehr an der Oberfläche eine Idylle sein will. Es ist eine rohe, bösartige Welt, in der die Mütter in Apathie versinken und die Väter ihre Geilheit nicht zügeln wollen. Sie bilden sich etwas darauf ein, dass ihnen keine Grausamkeit fremd ist. Ein Vater schlägt seinen Sohn zusammen, ein anderer zerschlitzt den Swimmingpool, in dem sich seine Tochter Läuse von den Nachbarskindern eingefangen hat - und gibt "den Zigeunern" die Schuld an diesem Akt der Aggression. Die schwangere Nachbarin spritzt sich aus ihren schweren Brüsten Muttermilch auf ihre Kekse und bietet sie dem verstörten Dennis an. Sie will ihn verführen.



Der gehemmte Geremia (Justin Korovkin) lebt ein wenig abseits in einem Wohnwagen. Sein Vater, ein Kellner, will den schmächtigen Jungen mit dem nach innen gekehrten Blick mehr Maskulinität anerziehen. Statt mit ihm auf Violas Geburtstagsfest zu gehen, bringt Geremia ihm das Autofahren bei. Er versteht auch viel von Hunden: "Tollwut ist besser als Depression."

Als wäre diese Vororthölle nicht schon grell genug gezeichnet, unterstreicht die von Paolo Carnera geführte Kamera das Verzerrende und Groteske. In Nahaufnahmen und aus der Unteransicht gefilmt stehen die Zähne besonders schief im Gesicht und die dicken Schenkel pressen sich besonders wabbelig aus den Shorts. Mitunter versteckt sich der filmische Blick auch kichernd wie ein Voyeur im Gebüsch.

Die Fratelli D'Innocenzo reihen Szenen von Aggression, Obszönität und Ignoranz aneinander wie die Strophen eines schaurigen Gesangs, ohne dass sich daraus ein stimmiges Ganzes ergeben würde. Inmitten höhnischer Brutalität gibt es Momente liebenswerter Zartheit zwischen den Kindern, die nur zu Beginn eine helle Gegenstimme bilden. Etwa wenn Viola Geremia besucht, um sich bei ihm mit Masern anzustecken. Wie die beiden verstörten Kinder sich bemühen zueinander zu finden, ist von berührender Fragilität. Aber sie werden nicht lange strahlen, sondern sich ebenfalls in die dunklen Register einfügen. Sie werden in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit furchtbare Rache nehmen an ihren Eltern und der Welt, die ihnen solche Trübseligkeit zugemutet hat. Zum Schluss ertönt Stefano Landis "Passacaglia della Vita", ein Madrigal aus dem Frühbarock, der dazu ermuntert, das Leben in all seinen Facetten zu genießen, denn wir alle sind sterblich. Es ist ein sarkastischer, fast schon zynischer Kommentar zu diesen bösen Fabeln, der ihre Moral komplett konterkariert, auch wenn er strahlend hell im Ohr klingen bleibt.

Thekla Dannenberg

Favolacce - Italien 2020 - Regie: Fabio und Damiano D'Innocenzo - Darsteller: Giulietta Rebeggiani, Tommaso Di Cola, Justin Korovkin u.a. - Laufzeit 100 Minuten.

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Früher morgen in Bobo-Dioulasso. Schweigend wacht Augustine Solange Coda unter einem Moskitonetz über einen Raum voll schlafender Kinder. Müde kommen Odile und Fatim um vier Uhr ihre Kinder abholen. Die beiden Frauen bugsieren ihre Kinder auf den Rücken, wickeln sich einen Tragegurt um und bezahlen Frau Coda. Schon seit Jahrzehnten kümmert sich Frau Coda nachts um Kinder. Die Mütter gehen arbeiten, die meisten als Sexarbeiterinnen. Unterdessen lässt sich Frau Coda angesichts ihres Alters von ihrer Schwiegertochter unterstützen. Mit Einbruch der Nacht trifft eine Mutter nach der anderen ein, bleibt einen Moment, bis sich die Kinder eingefunden haben, vielleicht sogar eingeschlafen sind. Für arbeitende, allein stehende Mütter ist das nächtliche kollektive Babysitten eine unverzichtbare Institution. Der burkinische Regisseur Moumouni Sanou hat die Arbeit von Frau Coda und das Leben von drei Frauen aus Bobo-Dioulasso in dem Dokumentarfilm "Garderie nocturne - Night Nursery" begleitet.

Wenn es blöd läuft, läuft es wie bei Charlotte, dem kleinen Mädchen, das auf einer Plane unter dem Bett schläft. Ihre Mutter hat sie vor einem Jahr abgegeben, wollte Geld holen und hat sie nicht wieder abgeholt. Im Verlauf des Films kehrt die Mutter zurück, um das Mädchen abzuholen. Bisweilen suchen ihre Augen kurz die Kamera, während sie weitgehend schweigend das verbale Donnerwetter erträgt, das sich über ihr entlädt. Später erzählt sie ihre Geschichte. Charlotte futtert unterdessen aus einer kleinen Tüte und verteilt den Inhalt zwischen Mund und Backen. In der letzten Einstellung liegt sie auf dem Schoß der Mutter.

"Garderie nocturne" kontrastiert die Bilder der nächtlichen Kinderkrippe mit dem nächtlichen Leben auf den Straßen der Stadt. Die Straßen sind voller Menschen, Essensstände verkaufen Snacks, Händler allen erdenklichen Kleinkram. Das alles bildet die Arbeitsumgebung, in der Odile, Fatim und Adam's ihr Geld verdienen. Die drei Frauen leben in einer Wohnung und unterstützen sich gegenseitig.



Formal ist Moumouni Sanous Langfilmdebüt wenig beeindruckend. Die Bilder sind überwiegend dokumentierter Alltag, bleiben kaum hängen. Stattdessen zeigt Sanou in "Garderie nocturne" komplexe Lebensrealitäten, die durch die nächtliche Kinderkrippe zumindest etwas weniger kompliziert werden. Der Film ist erfüllt von Zugewandtheit zu seinen Protagonistinnen und zeigt ihr Leben und das ihrer Kinder ohne zu werten als Lebensrealität. Diese Empathie durchzieht auch das Regiestatement Sanous zur Präsentation im Rahmen der Berlinale letzten Jahres. Manches von dem, was in dem Regiestatement anklingt, hätte man gern auch im Film wiedergefunden, aber gerade für ein Erstlingswerk mag dies überfordernd gewesen sein.

Nicht nur die Protagonistinnen aus Sanous Film, auch viele der anderen Menschen, die in ihm auftauchen, wirken erschöpft. Die Härte der Lebensbedingungen schlaucht. Die ausgelassensten Momente im Leben, das der Film zeigt, stellen sich beim Herumalbern mit den Kindern ein, beim Waschen, Füttern, Anziehen. "Garderie nocturne" ist ein eindrucksvoller Dokumentarfilm über eine spontane Institution und die Lebensbedingungen arbeitender Frauen in Bobo-Dioulasso. Auch wenn Sanous zurückhaltende Art der Dokumentation Leerstellen lässt, versöhnt der Film durch sein Einfühlungsvermögen.

Fabian Tietke

Garderie nocturne - Night Nursery. Regie: Moumouni Sanou. Dokumentarfilm Burkina Faso / Frankreich / Deutschland 2021, 67 Minuten