Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
26.01.2004. Prospect findet männliche Schriftsteller mit großen Ideen - in Australien. Der Economist verabschiedet höflich Kiharu Nakamura, die letzte große Geisha. Der Nouvel Obs beklagt die Zustände im literarischen Milieu Frankreichs. Die London Review of Books findet sich plötzlich in Londonistan wieder. Im Spiegel wundert sich Jana Hensel über die Identitätskrise der Erfurter. Outlook India porträtiert den Regisseur der Bollywood umkrempeln wird: Ram Gopal Varma. Das New York Times Magazine beklagt die Tyrannei des Copyrights.

Prospect (UK), 01.02.2004

Von wegen down under: War früher Australien ein literarisches Nirgendwo, so lehrt es jetzt die einst übermächtige englische Literatur das Fürchten, meint Kate Kellaway und stellt die australische Literatur und deren Obsessionen vor: "Die Landschaft ist die wichtigste Figur in der australischen Fiktion - und Australien ist kein Land für Miniaturisten. Es wird beherrscht von männlichen Schriftstellern mit großen Ideen." Doch etwas hat überlebt vom alten Minderwertigkeitsdenken, etwa wenn australische Professoren Shakespeare wie ein "unscheinbares Mauerblümchen" behandeln, das auf einer "viel verwegeneren und einschlägigeren australischen Party" in der Ecke steht. "Dieser defensive Zug findet sich auch im Schreiben selbst wieder. Insbesondere Tim Winton schreckt - in seinen Figuren - vor allem zurück, was als preziös, anmaßend oder protzig, kurz als eine literarisch verkehrte Vornehmtuerei ausgelegt werden könnte. Dabei steht viel auf dem Spiel, nämlich das für die australische Literatur zentrale Bedürfnis, den Unterschied zwischen Unauthentizität und Kunst festzulegen."

Weitere Artikel: John Lloyd porträtiert den Star-Journalisten und BBC-Kriegsberichterstatter Martin Bell, der mit seiner Vision des modernen Journalismus (keine Polemik, dafür wirklichen Bezug) weniger gute Journalisten auf die schiefe Bahn der Objektivitätsverachtung gebracht hat. In einem sehr ausgewogenen Artikel beurteilt Melanie Phillips die Lage in Israel und bestreitet, dass der israelischen Besatzung ideologische Motive zugrunde liegen: "Es gibt einen wirksameren Grund für Israels Widerstreben, sich zurückzuziehen: Angst." Lewis Page war elf Jahre bei der British Navy und steigt jetzt aus, weil er nicht länger für einen rückschrittlichen Arbeitgeber arbeiten will, der seiner unzeitgemäßen Liebe zu Fregatten und Zerstörern nicht abschwören kann. Azeem Azhar singt ein Loblied auf Open-Source-Technologien, die Microsoft und anderen Monopolisten auf den Leib rücken. Und David Goodhart fragt, ob Wohlfahrtssystem und soziale Vielfalt vereinbar sind.

Eine Kostprobe der oben genannten australischen Literatur ist leider nur im Print zu lesen: Tim Wintons Kurzgeschichte "Cockleshell".
Archiv: Prospect

Nouvel Observateur (Frankreich), 22.01.2004

Pierre-Louis Rozynes, Chef von Livres Hebdo, und Pierre Assouline, Leiter von Lire, werden beide ihre Blätter verlassen. Und kommentieren deshalb sehr freimütig die Zustände im literarischen Milieu und im Verlagswesen. Sie äußern sich unter anderem über den Konkurrenzkampf der großen Verlage, die Rolle literarischer TV-Sendungen, die Gefahr von Buchwerbung - und die "Bestechlichkeit" literarischer Preisjurys. Rozynes: "Diese festgefahrenen Preisgerichte, wie das des Goncourt zum Beispiel, die zum Karriereziel werden und zwei oder drei Verlage ernähren, sind erschreckende Veranstaltungen. Wie sie funktionieren? Bestimmte Autoren, die in einem der großen Verlage veröffentlichen, werden berufen. Heutzutage sind das überwiegend Autoren von Gallimard, Grasset, Albin Michel und Le Seuil (...). Jeder Verlag bringt seine Bücher ins Spiel und verlangt von seinen Juroren, für sie zu stimmen. Wenn ein Verleger sieht, dass er nicht die Mehrheit bekommt, verkauft er seine Stimme an einen Konkurrenten - gegen das Versprechen, dass er ihm bei einem anderen Preis hilft." Assouline ergänzt: "Weniger literarisch gesprochen, nennt man so etwas Einflusshandel."

Ein weiterer Artikel untersucht die Pläne von Albin Michel, XO und Flammarion, die ihre Bücher künftig im Fernsehen bewerben werden. Gallimard, Minuit et au Seuil wollen sich damit zurückhalten - noch.

Besprochen wird ein Buch über den reiselustigen Stendhal ("Stendhal, le bonheur vaga-bond" von Jean Lacouture, Seuil) und der neue Film von Alain Chabat mit dem klangvollen Titel "RRRrrr!!!" und Gerard Depardieu. Vorgestellt wird eine Inszenierung der Fabeln von La Fontaine, die Robert Wilson in der Comedie Francaise auf die Bühne brachte, ergänzt um ein kleines Porträt La Fontaines, diesem "in seinem Stil französischsten Schriftsteller". Ein Hinweis würdigt schließlich eine Ausstellung des Schweizer Fotografen Rene Burri im Pariser Maison europeenne de la Photo.

Economist (UK), 23.01.2004

Mit den Fragen, die immerzu an sie gestellt wurden, und den Antworten, die sie darauf zu geben pflegte, verabschiedet sich der Economist von Kiharu Nakamura, der letzten großen Geisha (mehr hier und hier). Wie schon ihr japanischer Name besage, sei die Geisha eine "künstlerische Unterhalterin". Und was ist mit Sex? "Miss Nakamura erwog das Wort mit Vorsicht. Vielleicht, sagte sie, meine der Fragesteller die Oiran? Wie auch die Geisha, sei die Oiran eine kultivierte Frau, jedoch sei sie bereit, gegen ein hohes Entgeld die Nacht mit einem Mann zu verbringen. Im Westen neige man dazu, diese beiden Berufe zu verwechseln. Was nicht heißen solle, dass eine Geisha nie Sex habe." Doch eine Geisha wisse "mit Männern umzugehen". Wie sehr sie auch vor ihren Freunden damit prahlten, richtige Kerle zu sein, Miss Nakamura wusste es besser. Doch würde sie das Geheimnis natürlich nie preisgeben." Noch Fragen? "Die nächste Frage bitte, aber wenn es geht, nicht über Sex."

Soviel Mühe er sich auch gibt, nicht allzu parteiisch zu wirken, der Economist schwärmt vom amerikanischen Hochschulsystem und pflichtet somit den britischen Überlegungen bei, die Studiengebühren gebührend zu erhöhen. Für das reform-scheue Kontinentaleuropa hingegen hat der Economist schon mal ein Wappen entworfen, mit der etwas müden Devise: "Sehr wenig leisten, mit nicht sehr viel."

Ein Blick ins Allerheiligste des geistigen Lebens nährt den Themsen-Blues. Das ehemalige Forscher-El-Dorado Oxford und Cambridge lebe heute nur noch von seinen historischen Reserven: Die erlesenen Tropfen des Weinkellers werden zu Durchschnittskost serviert. (Womöglich werden erhöhte Studiengebühren hier bald für Abhilfe sorgen!)

Außerdem erfahren wir, was George Bushs state-of-the-union-Rede über die allgemeine Wahlkampfsituation aussagt, was auf der Agenda des polnischen Präsidenten Leszek Miller steht (einiges), wie schlecht es um den New Yorker Broadway steht (ziemlich schlecht), dass es in Uganda eine selbsternannte jüdische Gemeinschaft gibt, und was soziale Firmenverantwortung bedeutet. Schließlich widmet sich der Economist im Dossier dem Phänomen Risiko.

Leider nur im Print zu lesen: der Aufmacher über die Iowa-Wahl, Japans Presse und "Vlad, den Webmeister" (gemeint ist wohl niemand anderes als Wladimir Putin).
Archiv: Economist
Stichwörter: Broadway, Uganda

Outlook India (Indien), 02.02.2004

"In einer Straße voller identischer Mittelklasseapartments, wo mit Ausnahme der Straßenverkehrsordnung niemals eine Regel gebrochen wird, hat sich ein sehr eigenartiges Büro eingenistet, das vollständig auf einer übergeschnappten Frage errichtet ist: Warum nicht?" Manu Joseph liefert eine wunderbare Geschichte über Ram Gopal Varma, einen allerorts Furcht und Ehrfurcht erregenden Mann, der dem Bollywood-Establishment über kurz oder lang seinen Willen aufzuzwingen gedenkt. Varma, Regisseur und Produzent (zum Beispiel "Company"), will nicht weniger als beweisen, dass man auf die bewährte Formel von verschlungener Familiengeschichte und Musikeinlagen getrost verzichten kann. "Er hat versprochen", schreibt Joseph, "ein Paralleluniversum zu errichten, ohne dabei in Kunst abzurutschen". Dazu stellt er Unmengen von Filmen fertig, lässt auch mal jemanden Regie führen, der noch nie eine Kamera von nahem gesehen hat - Hauptsache, der Enthusiasmus stimmt! - und ignoriert konsequent das Starsystem. Trotzdem stehen allem bei ihm Schlange ..."

Weitere Artikel: B. R. Srikanth informiert über eine mögliche Mitwirkung Indiens am Mond-Mars-Programm der USA und sagt ein asiatisches Space-Race voraus. Und Ranvir Nayar berichtet aus Paris von Protesten der in Frankreich lebenden Sikhs - das Kopftuchverbot ist auch ein Turbanverbot.
Archiv: Outlook India

Reportajes (Chile), 24.01.2004

Stunde der Präsidenten und Eliten-Diskussion a la chilena: Im Interview mit Reportajes, der Magazinbeilage der chilenischen Tageszeitung La tercera (kostenloser Zugang nach Registrierung), spricht Michelle Bachelet (s. a. hier), Verteidigungsministerin des Landes mit dem immer noch größten Militärhaushalt Lateinamerikas, über ihre Aussichten, im kommenden Jahr zur Präsidentin Chiles gewählt zu werden. Michelle Bachelet lebte während ihres Exils mehrere Jahre in Potsdam, Babelsberg und Berlin, wo sie Medizin studierte. Ihr Vater, der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet, ein Anhänger Allendes, war wenige Monate nach dem Putsch General Pinochets an den Folgen der Folter gestorben. "Die Elite ist nicht übermäßig offen für Veränderungen", meint die 53-jährige sozialistische Politikerin mit strategischem Understatement, spricht man in Chile doch seit einiger Zeit vom "fenomeno Bachelet". Ihre rasch gewachsene Popularität erklärt sich Bachelet unter anderem so: "Ich denke, die Leute wissen es zu schätzen, wenn man bei den großen Themen mitreden kann und gleichzeitig supergeerdet im Alltag bleibt - also imstande ist, von der Zukunft des Landes zu träumen, aber dabei immer genau weiß, wie viel gerade ein Kilo Brot kostet."

So populär war Felipe Gonzalez auch einmal. In einem Interview spricht der sozialistischen Ex-Präsidenten Spaniens über den derzeitigen Präsidenten Chiles, den Sozialisten Ricardo Lagos, der seinerseits Michelle Bachelet vor knapp zwei Jahren zur Verteidigungsministerin ernannte.Und auch Mario Vargas Llosa wäre seinerzeit gerne ein populärer Präsident geworden. Er schreibt über den neuen Präsidenten Boliviens Carlos Mesa und das bolivianische Trauma, seit dem vor über hundert Jahren gegen Chile verlorenen Krieg keinen direkten Zugang zum Meer zu besitzen - für alle Fälle hielt man sich in Bolivien bis vor wenigen Jahren noch eine Kriegsmarine, erzählt Vargas Llosa, der als Kind zehn Jahre in Bolivien gelebt hat.

Ans Meer fahren dafür in diesen Tagen alle Chilenen, die es sich leisten können, und Marcelo Soto stellt ihnen die Bücher des Sommers vor.
Archiv: Reportajes

Times Literary Supplement (UK), 23.01.2004

Zachary Leader bespricht ausführlich John Updikes (mehr) frühe Erzählungen ("The Early Stories:1953-1975") und versucht, dem Geheimnis der Produktivität und auch des Einflusses von Updike auf die Spur zu kommen. Dazu zitiert Leader Nicholson Baker, der sich in seinem Buch "U and I" an eine Fernsehdokumentation über Updike erinnert: "In einer Szene, als die Kamera ihn bei seinem Aufstieg auf eine Leiter am Haus seiner Mutter verfolgt ..., schleudert er mitten in diesem kniffligen physischen Akt einige erstaunlich klare Glückseligkeiten herunter, etwas über 'diese kleinen, jährlichen Pflichten, die bla bla bla', und ich war erstaunt festzustellen, dass wir es in Updike mit einem Mann zu tun haben, der derartig selbstverständlich spricht, dass er seine beschissenen Memoiren auf einer Leiter schreiben könnte!"

"Downsizing is never easy", können sich die Royals von David Cannadine trösten lassen, dem frisch gekrönten Queen Elizabeth the Queen Mother Professor für britische Geschichte. Immerhin hat die britische Monarchie im 20. Jahrhundert nur abspecken, aber nicht abdanken müssen, wahrscheinlich auch deshalb, wie Cannadine meint, weil Großbritannien - anders als Deutschland und Österreich im Ersten Weltkrieg, und Italien und Jugoslawien - das Glück hatte, auf der Seite der Sieger zu stehen. Es ist tatsächlich eine schöne Ironie, dass George VI. seinen Thron den militärischen Anstrengungen der USA und der UdSSR zu verdanken hat, zweier Nationen, die durch Revolutionen entstanden sind."

Zwei Artikel beschäftigen sich mit Episoden aus der Irisch-Gälischen Geschichte: Declan Kiberd bespricht eine Untersuchung von P. J. Mathews ("Revival") über das Abbey Theatre in Dublin und die Gaelic League, eine Gesellschaft, die 1893 zum Zwecke der Verbreitung der Irischen Sprache und Kultur gegründet wurde. Patricia Craig hat Padraigin Ni Uallachains "A Hidden Ulster. People, songs and traditions of Oriel" gelesen, eine "fesselnde und gelehrte Abhandlung" über die Geschichte der Kultur einer Region in Irland, deren partielles "Überleben als gesprochene Sprache bis ins 20. Jahrhundert" an ein Wunder grenze. Die Autorin ist übrigens selbst eine "exquisite sean-nos-Sängerin" (hmja), so Craig. Fiona Green schließlich freut sich über die "exzellente" Edition der frühen Gedichte Marianne Moores ("Becoming Marianne Moore").

London Review of Books (UK), 22.01.2004

London ist Londonistan: John Upton wurde Zeuge einer ungewöhnlichen Pressekonferenz, die ihm Anlass gibt, über den britischen Sicherheitsapparat und die Notwendigkeit der geplanten Sicherheitsgesetzte (Civil Contingencies Bill und Criminal Justice Bill) nachzudenken. Es ist der 11. September 2003, und mitten in London haben sich die Brüder der al-Muhadschiroun-Organisation versammelt, um der 19 Helden zu gedenken, die ihr Leben für den Dschihad gegeben haben. "Eine amerikanische Journalistin bemüht sich, dem Bestreben der Redner zum Trotz, keine Frau zu beachten, und schon gar keine Amerikanerin, ihrer Frage Gehör zu verschaffen: 'Beruht Ihre Position auf Antisemitismus?', fragt sie und schwenkt ihr Mikrophon nach vorn. 'Die Juden sind eine Besatzungsmacht. Sie zerstören Häuser, sie verderben Saatgut. Sie sollten getötet werden.' Die Journalistin gibt nicht auf. 'Wenn ich die Augen schließe, könnte diese Aussage genauso gut von den rechtsextremen Combat 18 oder BNP stammen.' 'Dann schließen Sie Ihre Augen eben nicht.' Alle Brüder lachen, und die Pressekonferenz ist vorbei." (Der zweite Teil dieses Artikels ist leider nur im Print zu lesen).

Sehr lesenswert auch, was Mary Beard über Cynthia Damons neue Ausgabe von Tacitus' "Historien" zu sagen hat. Schon der erste Satz ('Ich beginne meine Arbeit mit dem Konsulat von Servius Galba, sein zweites, und Titus Vilnius') versetzt sie geradezu in Begeisterung: "Warum lässt er seine Geschichte am 1. Januar 69 beginnen (die neuen Konsuln traten ihr Amt am Jahresanfang an), wenn der entscheidende politische Bruch ganz klar im Juni 68 stattgefunden hat, mit Neros Tod und dem Ende der Julio-Claudischen Dynastie? Doch (?) genau das ist der Punkt. Indem er den Rahmen des konsularischen Jahres der alten Republik zur Schau trägt (wie er es auch anderswo in den Historien und den Annalen tut), macht Tacitus die Spannung zwischen der römischen Tradition und der politischen Realität des kaiserlichen Regimes deutlich: Die Herrschaft der Kaiser konnten nicht den Maßstäben der republikanischen Amtsführung angepasst werden, die den Römer ihr althergebrachtes Datierungssystem lieferte ('das Jahr, in dem X und Y Konsul waren')."

Weitere Artikel: Thomas Jones sieht den Lady-Di-Fall durch die Twin-Peaks-Brille, John Mullan bespricht zwei Bücher über den englischen Jakobitismus, und Peter Campbell hat sich die Ausstellungen "Enlightenment" und "Living and Dying" in den zwei neuen Galerien des British Museums angesehen und denkt über das Sammeln nach.

Nur im Print zu lesen: Jonathan Ree sucht nach Spinoza.

Spiegel (Deutschland), 26.01.2004

Jana Hensel schildert die äußerst gereizten Reaktionen der Erfurter auf Ines Geipel und ihr Buch "Für heute reicht's" über die Hintergründe von Robert Steinhäusers Amoklauf im Jahr 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Darin schreibt sie: "Die spezifische Identitätsschwäche der Elterngeneration verlängert sich in den Jahren der politischen Neuordnung in Ostdeutschland - in der Zeit also, da Robert Steinhäuser nächtelang vor dem Computer sitzt - wirkmächtig in die Kinder hinein." Nachdem sie eine Lesung der Autorin in Erfurt beobachtet hat, kann Hensel dem eigentlich nur beipflichten: "Die Vorwürfe sind immer dieselben: Die Autorin sei eine Fremde und in der Sache nicht aussageberechtigt; formale Einwände gegen den Text sind wichtiger als dessen sachliche Fragen; solange die Informanten nicht öffentlich gemacht sind, werden die Fakten angezweifelt. Was aber ist daran ostdeutsch? Der Osten Deutschlands steckt noch immer in einer Identitätskrise ..."

Im Print: Ein Interview mit Walter Kempowski "zum Streit über sein Anonyma-Gutachten", ein Interview mit Kevin Costner über "die Wiederkehr des Westerns" und seinen neuen Film "Open Range". Schließlich ein Artikel über den Maler und Regisseur Julian Schnabel. "Ein Atomkrieg rückt näher" - so Chefwaffeninspektor Mohamed El Baradei im Titel - der diesmal davon handelt, "wie hilflos die Uno-Kontrolleure gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen sind. Nordkorea, Iran und Libyen haben sich bei Pakistans Atompiraten wohl schon bedient - wer kommt als Nächster?"
Archiv: Spiegel

Espresso (Italien), 29.01.2004

Forza Italia! Der Espresso widmet seinem Lieblingsfeind eine ganzen Kaskade von Artikeln. Pünktlich zum Europa-Wahlkampfauftakt und zum zehnjährigen Jubiläum der Partei staunt Marco Damilano im Titel über die "Risilvio" und zitiert einen kämpferischen Berlusconi: "Ich sage es ganz simpel: Die Ära nach Berlusconi hat schon begonnen. Aber die Zukunft dieser Mehrheit und dieser Partei liegt in den Händen einer Person. Und diese Person bin ich." Gleich darunter spricht Edmondo Berselli für das Volk, das auf einen Erlöser wartet. Und der Senator auf Lebenszeit Francesco Cossiga (mehr) analysiert die Führungsriege der Bewegung, die schlussendlich doch nur aus einem Mann besteht. Giampaolo Pansa liest Fedele Confalonieri (mehr), dem Präsidenten des Berlusconi-Medienverbunds Mediaset die Leviten, der sich auf die Wahlen anscheinend wie auf einen Bürgerkrieg vorbereitet. Abschließend erläutern Enrico Arosio und Lorenzo Soria, was genau die amerikanischen Lifting-Spezialisten kurz nach Weihnachten in den Schweizer Bergen mit dem Cavaliere gemacht haben.

Umberto Eco gesteht seine unmäßige Liebe zu alten Büchern und schreibt ganz nebenbei eine Hommage an das Druckwerk an sich. Dem Bibliophilen "erzählt das Buch eine Geschichte, aus Daumenabdrücken, kleinen Anmerkungen, Unterstreichungen, Widmungen, vielleicht sogar Holzwurmlöchern, und es erzählt diese Geschichte noch viel besser, wenn seine Seiten, nach fünfhundert Jahren, noch frisch und weiß unter dem Finger knistern."

Massimo Cacciari schreibt (spät, aber immerhin) über seinen verstorbenen Kollegen Norberto Bobbio, (mehr über den Philosophen und gleichfalls Senator auf Lebenszeit), den großen Bourgeois, der Erwünschtes und Mögliches zu vereinen suchte. Bissig wie gewohnt nimmt Michele Serra in seiner Satireglosse Iowa aufs Korn, das neben den Präsidentschafts-Vorwahlen und Indianerfriedhöfen nur Ersatzteile für Lüfter zu bieten hat. Dustin Hoffman und Gene Hackman sind Freunde, haben kürzlich einen Film zusammen gemacht und widmen sich wohl bald auch beide der Malerei, erfahren wir aus einem Gespräch mit Silvia Bizo. Und die berüchtigte Monica Maggi verrät Tests zur Partnersuche und damit irgendwie auch die romantische Amore selbst.
Archiv: Espresso

New Yorker (USA), 02.02.2004

"Wunder aus der Flasche" überschreibt Michael Specter seine Reportage über das Geschäft mit Schlankheitsmittelchen und Nahrungsergänzungspräparaten, die in Amerika tonnenweise verzehrt werden, deren Zusammensetzung aber oftmals nicht nur dubios, sondern nachgerade gefährlich sei. Specter fand heraus, dass es dabei um mehr als einfach nur die Einnahme von "Vitaminen" geht. So zitiert er den Verkaufstrainer einer großen Herstellerfirma: "Wenn ich die Verkäufer instruiere, sage ich ihnen: Wissen Sie, was die Leute von ihnen wollen? Nicht die Pille. Sie wollen Hoffnung von Ihnen. Das ist es, was sie wirklich von Ihnen wollen."

Des weiteren zu lesen: Die Erzählung "Delicate Wives" von John Updike, ein launiger Kommentar zu Michael Jackson, und Besprechungen. Joshua Micah Marshall sichtet mehrere Bücher, in denen es um die Frage geht, ob die Bush-Regierung nun eine "neues amerikanisches Empire geschaffen oder das alte zerstört" habe. Die Kurzrezensionen empfehlen unter anderem eine neue Studie zur amerikanischen Sklaverei, deren Autor zeigt, dass die Vereinigungen der Sklaven "viel komplexer, dauerhafter und politisierter" gewesen war, als man bisher erkannte. Besprochen wird außerdem die Inszenierung "The Light in the Piazza? von Adam Guettel am Goodman Theater in Chicago, Alex Ross sah Benjamin Brittens "Peter Grimes" in einer Aufführung des London Symphony Orchestra, und Anthony Lane begutachtet gleich drei neue Filme des belgischen Regisseurs Lucas Belvaux (mehr): "On the Run", "An Amazing Couple" und "After Life".

Nur in der Printausgabe: ein Porträt des Schiitenführers, der gerne Präsident des Irak werden würde, ein Artikel über die Galeristin Marian Goodman, das Porträt eines Schauspielers, der es auf 50 Jahre Leinwandpräsenz bringt, und Lyrik von Mary Karr und Franz Wright.
Archiv: New Yorker

New York Times (USA), 26.01.2004

Auf eine beachtliche "Bibliothek der Verdammung" ist George Schmemann gestoßen, als er nach amerikanischen Büchern gesucht hat, die sich (wie das Mutterblatt) kritisch mit der Bush-Regierung auseinandersetzen. In einer Mammutrezension stellt er die sieben besten vor, sein Liebling ist "America Unbound" (erstes Kapitel) von Ivo H. Daalder und James M. Lindsay (ein Interview zum Anhören), deren einwandfrei belegte These lautet, dass George Bush eben nicht die Schießbudenfigur der Cartoonisten ist, sondern der Puppenspieler selbst." Besonderes Lob findet auch "The Bubble of Supremacy" (erstes Kapitel) des vormals berüchtigten Finanzspekulanten George Soros (Selbstdarstellung), der Bushs Wiederwahl "mit allen Mitteln" verhindern will und nun in seinem Werk "überlegt und didaktisch gekonnt darlegt, wie die Regierung den 11. September für ihren radikalen Kurs instrumentalisiert."

Weitere Artikel: Endlich, seufzt Andrew Sullivan ob Irshad Manjis (Homepage) Suada "The Trouble With Islam", wird der islamische Fundamentalismus auch mal aus den eigenen Reihen attackiert. Allerdings warnt er die Autorin wegen ihrer unverblümten Art auch vor dem bevorstehenden Gegenangriff. Walter Kirn ist froh, dass David Denby (schreibt auch Kinokritiken für den New Yorker) kein erfolgreicher Börsenspekulant geworden ist, sonst hätte er nicht den Stoff für sein lesenswerten Erfahrungsbericht "American Sucker" (erstes Kapitel) gehabt. Kirn hat daraus einiges über die "Natur der Sünde" heutzutage gelernt. "Nicht unsere privaten Teile sind die größte Quelle für Ärger; es sind unsere Brieftaschen, die wir nicht in der Hose behalten können."

"Das amerikanische Copyright System wurde erfunden, um Innovationen zu fördern, heute wird es benutzt, um sie zu zermalmen." Im New York Times Magazine beschreibt Robert S. Boynton in einem langen Artikel die "Tyrannei des Copyrights". Streitfälle der jüngsten Zeit umfassten "Versuche, von den Girl Scouts Tantiemen für das Singen von Liedern am Lagerfeuer zu fordern bis zu dem Prozess, den die Nachlassverwalter von Margaret Mitchell gegen die Veröffentlichung von Alice Randalls Buch 'The Wind done gone' anstrengten (es erzählt die Geschichte von 'Vom Winde verweht' aus der Perspektive eines Sklaven) und den Versuchen von Celera Genomics, Patente auf menschliche Gene einzuklagen." Inzwischen hat sich eine Gegenbewegung gebildet, die sich "Copy Left" nennt und fordert, dass Copyright für intellektuelle und künstlerische Ideen auf eine kürzere Zeit zu beschränken (mehr hier, hier und hier). In Amerika sind diese Rechte in den letzten Jahrhunderte von 14 Jahren (1790) auf 70 bis 95 Jahre (heute) ausgedehnt worden.
Archiv: New York Times