Vorgeblättert

Dimitri Verhulst: Problemski Hotel. Teil 2

10.08.2004.
Flittopia, 1974

Ich habe manchmal davon geträumt, alle meine Ausstellungen mit der folgenden Geschichte zu eröffnen und immer wieder Beifall dafür zu ernten, und in meinen kühnsten Fantasien leitet der berühmte Biograf Quincy Plunder auch meine Lebensgeschichte mit dieser Anekdote ein. Dass ich nämlich meine Karriere als Pressefotograf im Alter von zwölf Jahren begann, an meinem zwölften Geburtstag, um genau zu sein.
Flittopia war damals noch nicht das Pulverfass, das es heute ist, das Land befand sich noch in Händen, die nicht zitterten. Wir wohnten in der Hauptstadt, in einem Viertel, das einem gemütlichen Provinznest glich, wo die Kinder den Rohstoff für künftige Träumereien auf Parkbänken sammelten. Es gab dort nicht viel, aber genug. Wir hatten eine Musikkapelle und Kneipen, in denen die Musikkapelle Pause machen konnte. Die ersten Mädchenpos, die wir sahen, gehörten den Majoretten, und die Rugbymannschaft verlor Woche für Woche, zum Wohle des Kneipenwirts, der nur zu gut verstand, dass ein Fan seinen Kummer hinunterspülen muss. Lehrerinnen fraßen ihre Hormone in sich hinein und hatten Schnurrbärte, wichtige Versammlungen fanden im Lebensmittelladen statt, alle Stimmen auf der Bühne des Amateurtheaters kamen aus dem Souffleurkasten, Bräute waren unweigerlich schwanger ?
Ein zwölfter Geburtstag war für die Eltern traditionell Anlass, sich voll laufen zu lassen, und da meine Eltern ziemlich traditionsbewusst waren, saßen wir an dem Tag im Gasthaus Zum Nassen Nachmittag, dem Treffpunkt unseres Viertels, wo über dem Klicken der Dominosteine stets das Schnauben des Inhabers zu hören war. Seine Frau, die dicke Narciss, glaubte singen zu können und tat praktisch nichts anderes.
Bevor wir alle zusammen zu dem Besäufnis aufbrachen, gab es bei uns zu Hause ein ausgedehntes Festmahl, zu dem die gesamte Verwandtschaft eingeladen war. Als die Servietten schmutzig waren und die ersten Rülpser ertönten, bekam das Geburtstagskind sein Geschenk. Ein zwölfter Geburtstag galt als der erste Schritt ins Erwachsenendasein, und ich war plötzlich kein Kind mehr, als ich an diesem Morgen in meinen besten Anzug schlüpfte, den ich später mit Suppe bekleckern sollte. Um dem Ereignis mehr Nachdruck zu verleihen, war es Brauch, dem Zwölfjährigen etwas Wertvolles zu schenken. Etwas Langlebiges, das schon in die Welt der Erwachsenen weist. Bei den Mädchen war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich die Ohrläppchen durchstechen ließen und ihre ersten goldenen Ohrringe bekamen, den Jungen schenkte man üblicherweise eine Armbanduhr oder ein Armband, in das ihr Name eingraviert war. Blöde Sachen eigentlich, so nutzlos, dass die Erwachsenen ganz wild darauf waren, aber man freute sich trotzdem, eben weil sie einem das Gefühl gaben, in die Gruppe jener, die zählten, aufgenommen zu sein. Es war auch der Tag, an dem man die erste stinkende Zigarre rauchen durfte, wenn man versprach, den Rauch nicht zu inhalieren. Sobald man zwölf war, wurde man unter anderem vom Friseur mit "Herr Soundso" angeredet, und das hatte schon was.
Doch ich bekam weder eine Armbanduhr noch ein Armband.
Meinen Eltern muss aufgefallen sein, dass ich in den vergangenen Monaten viel Zeit vor dem Schaufenster des Fotogeschäfts verbracht hatte. Anfangs, um nach den Büchern über Aktfotografie zu schielen, die dort ausgestellt waren, später dann, um die Kameras zu betrachten, mit denen ich in meinen Träumen selbst Aktfotograf war. Ich hatte eine ältere und eine jüngere Schwester. Die Ältere hatte unten schon Haare und würde bestimmt geneigt sein, ihre Hausaufgaben einen Moment beiseite zu legen und sich im Evaskostüm vor mein Objektiv zu stellen. Im Dienste der Kunst natürlich, nicht meinetwegen. Mein Vater, der wie alle Flittopier ungeheuer um seine Potenz besorgt war, hatte schmutzige Heftchen auf dem Nachttisch liegen, und bis dahin war mir noch nie der Gedanke gekommen, dass ja irgendjemand all das Fleisch fotografieren musste, das in so einem Magazin zu sehen war. Das ließ die Aussicht, später einmal arbeiten zu müssen, weniger düster erscheinen, und mit meinen Schulnoten ging es zusehends aufwärts. Je schneller ich mich ans Werk machen konnte, desto besser. Wenn mein Vater nicht zu Hause war, vertiefte ich mich in seine Pornohefte und machte Skizzen von den Posen, die meine ältere Schwester - eventuell auch ihre Freundinnen - für mich einnehmen sollte. Überdies dachte ich mir schon einmal allerlei Varianten aus, die ich in einer eigens dafür bestimmten Mappe aufbewahrte, auf die ich sicherheitshalber ein Etikett mit der Aufschrift "Mathematik" geklebt hatte.
Meine Eltern schenkten mir also einen Fotoapparat zu meinem zwölften Geburtstag und halfen meinen Träumen damit gewaltig auf die Sprünge. Über eine Yashica oder eine Leica hätte ich mich noch mehr gefreut, aber auch mit dem billigsten Modell von Kodak war der Tag gerettet. Und damit ich auch gleich loslegen konnte, hatten sie noch fünf Filme mit eingepackt. Schwarzweiß. Jetzt hing alles davon ab, ob es mir gelang, meine ältere Schwester und ihre Freundinnen zu überreden.
In den Nassen Nachmittag nahm ich meine Kamera mit; dass ich je wieder ohne sie aus dem Haus gehen würde, kam nicht in Frage. Vielleicht konnte ich dort meinen ersten Volltreffer schießen, meinen besoffenen Vater etwa, in einem unbeobachteten Moment. Denn eins war mir klar: Allerweltsfotos, wie sie praktisch in jedem Familienalbum kleben, waren nichts für mich. Lange musste ich übrigens nicht warten, bis ich zum Zuge kam: Mein Vater hatte die erste Flasche noch nicht geleert, als im Nassen Nachmittag Schüsse fielen. Die Rebellen, damals noch in ihrer Anfangsphase. Ich weiß nicht, was in mir vorging, und es war alles zu verwirrend, als dass meine Erinnerungen eine verlässliche Quelle bilden könnten, aber ich glaube nicht, dass ich mich zu Boden warf. Ich blieb stehen und fotografierte: meine ältere Schwester, in dem Sekundenbruchteil, als eine Kugel sie mitten in den Kopf traf. Eine bewusste Handlung konnte man es nicht nennen, ich tat es einfach. Schreiben Sie?s dem Instinkt des Fotografen zu, wie ich.
Es war nicht gerade das Foto, das ich mir von meiner älteren Schwester vorgestellt hatte, und mit einer Canon wäre das Ergebnis wesentlich besser ausgefallen als mit der mickrigen Kodak, aber in Anbetracht der Umstände war es, denke ich, die bestmögliche Aufnahme, die in dem Moment gemacht werden konnte.
Der Film spulte sich automatisch zurück, und die Leute krochen schon wieder unter den Tischen hervor, als ich überhaupt erst begriff, was passiert war. Vierzehn Menschen waren tot, und einer von ihnen war meine ältere Schwester. Ein matschbespritzter Mann kam auf mich zu, stellte sich als Journalist vor und wollte wissen, ob ich wirklich und wahrhaftig fotografiert hätte. "Ja", sagte ich (oder nickte ich nur?), und er fragte, wie viel ich für den Film haben wolle. Welchen Betrag ich nannte, weiß ich nicht mehr, und ebenso wenig erinnere ich mich, ob es lächerlich wenig oder übertrieben viel war, aber ich bekam das Geld. Am nächsten Tag war mein Foto in der Zeitung, auf der Titelseite. Foto: Bipul Masli. So stand es da. Mit dem C für Copyright davor.
So begann mein Leben als Pressefotograf. Mit einem minderwertigen Foto, mit zu kurzer Verschlusszeit aufgenommen und deshalb unterbelichtet. 


Bipul Masli, Asylbewerber 

Irgendwo zwischen Tyrannien
und Britannien


Das ist echt kein Wetter, um sich in einem Container zu verstecken. Wie viel Grad es wohl sind? Minus fünf? Noch kälter? Keine Ahnung, aber frieren tut es auf jeden Fall, die Pfützen werden zu Glas, und die Afrikaner werden kindisch. Heute Morgen um kurz vor sieben haben sie aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass das mickrige Fleckchen Gras unter der Wäscheleine weiß war. Woanders ist das Gras natürlich immer grüner, das gilt hier für Schwarze ebenso wie für Gelbe, Rote und Violette, aber das war den Afrikanern heute Morgen schnurz.
Schnee! Block 2 (wo die meisten Schwarzen untergebracht sind) stand Kopf. Der einzige Ort, an dem diese Männer Schnee zu sehen bekommen, ist der Kilimandscharo. Da es in Afrika unter anderem auch an Schnee mangelt, spurtete praktisch der halbe Block ins Freie, um dieses meteorologische Wunder zu begrapschen. 
Die Tschetschenen lachten sich kaputt. Ein Tschetschene und ein Schwarzer, das geht nicht zusammen. Die stehen sich gegenüber wie Maria Callas und Renata Tebaldi auf ein und derselben Bühne. Wenn sie sich ein Zimmer teilen müssen, kann man schon mal den Sargtischler rufen, noch ehe sie überhaupt geklärt haben, wer in dem Etagenbett oben schläft und wer unten. Und wenn sich irgendwo jemand die Seele aus dem Leib jodelt, dann kann man getrost ein paar Zigaretten darauf verwetten, dass es ein Schwarzer ist, der von einem Tschetschenen durch die Mangel gedreht wird. Sind alle Kickboxer, die Typen, und man sieht?s ihnen an: ein Brustkorb wie sonst was und zermatschte Nieren. Man riecht es, wenn sie pinkeln. Man sieht es, wenn sie die Spülung nicht betätigen. Die Farbe von gutem Trappistenbier. Es kann auch Blut drin sein.
Aber wie immer und überall sollte man über das, was man vielleicht noch mal in Wirklichkeit zu sehen kriegt, keine zu wilden Fantasien hegen. Schöne Frauen. England. Schnee. Die Afrikaner fühlten sich betrogen, hatten sich Schnee anders vorgestellt. Hatten gedacht, man könne ihn in die Hand nehmen, Kugeln draus machen, damit werfen ? Zur großen Erheiterung wiederum der Tschetschenen.
Es war kein Schnee, der da heute Morgen lag, es war Raureif. Aber wie übersetzt man das? Die Russen stoßen ein paar raue Laute aus und kratzen sich die Brust, haben aber keinen Schimmer, wie man einem Afrikaner mit Händen und Füßen klar machen soll, was Raureif ist, woher er kommt, warum er kein Schnee ist, wer in aller Welt ihn erfunden hat und was man in ihrem Dschungeldialekt dafür sagen könnte.
Raureif. Ich wünschte, die Übersetzung dafür wäre Poesie oder so. Aber das brachte ich nicht über die Lippen. Dass es hier Poesie geben könnte, glaubt doch kein Schwein. Doch nicht einfach so. Und erst recht nicht auf dem Fleckchen Gras unter der Wäscheleine. Das ist verdammt noch mal dieselbe Wäscheleine, an der Sedi sich neulich aufhängen wollte. Es ging daneben, und Sedi hat sich bei ein paar Leuten ziemlich lächerlich gemacht. Aber als anständige Menschen reden wir nicht von Selbstmord, sondern allenfalls von "aus dem Leben scheiden".
Kurzum, Sedi wäre beinahe aus dem Leben geschieden, eine Scheidung, an die wohl jeder mehrmals täglich denkt.
Sedi kommt aus Sierra Leone, einem Land, mit dem die ganze Welt Mitleid hat, also auch das Ausländeramt. Leute aus Sierra Leone haben gute Chancen auf einen positiven Bescheid, das weiß hier jeder, auch Sedi. Aber nach zwei negativen war ihm das Herz in die Hose gerutscht. Seitdem läuft er mit einem Gesicht herum, das sich auf dem Kalender einer Hilfsorganisation nicht schlecht machen würde. Anscheinend hat sich inzwischen ein Anwalt von Amnesty International auf seinen Fall gestürzt, und das passiert nicht jedem, also sollte er nicht dauernd herumjammern. Schließlich steht Sierra Leone im neuesten Ranking des Human Development Report der Vereinten Nationen, einer Liste der Länder, in denen es sich am angenehmsten lebt, auf dem letzten Platz. Dabei sein ist wichtiger als verlieren, und irgendwer muss ja der Letzte sein. Damit kann man beim Gespräch mit dem Beamten in Brüssel Eindruck schinden. Ich kenne Leute, die würden sich einen Arm abhacken, um aus diesem Land kommen zu dürfen. "Guten Tag, ich komme aus dem ärmsten Land der Welt und beantrage Asyl." Die Chinesen beispielsweise sind auf Platz 96 vorgerückt, was ihre Aussichten auf einen Pass empfindlich schmälert. Sedi soll sich also nicht so anstellen. Ungewöhnlich ist sein Verhalten auf jeden Fall. Normalerweise sind die Schwarzen hier von morgens bis abends fröhlich, außer natürlich, ein Tschetschene macht gerade Hackfleisch aus ihnen. Gegen diese Fröhlichkeit sollten sie etwas tun, finde ich, sonst glauben die ihnen im Innenministerium kein Wort, wenn sie sagen, ihr Leben da unten sei um vieles schlechter als das eines Durchschnittskamels. Asia aus Block 4 zum Beispiel, die schwingt schelmisch ihr prachtvolles Hinterteil und schrubbt singend die Toiletten. Dieser Hintern und ihr Gesang ? shit, man. Wir raten ihr, sich eine traurigere Visage zuzulegen, wenn die in Brüssel ihr glauben sollen, dass man ihr die Vagina kurz und klein geschnitten hat und dass sie die Festung Europa in der Hoffnung gestürmt hat, ihren Töchtern möge dieses Los erspart bleiben.
           Das Wegschneiden der Geschlechtsteile ist Kultur. Das Nichtwegschneiden der Geschlechtsteile ist Zivilisation. Der Mensch ist ein kulturliebendes Säugetier.

Teil 3