Efeu - Die Kulturrundschau

Baritonales Edeltimbre

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05.07.2021. Beim Opernfestival in Aix-en-Provence genießt die NZZ den "Falstaff" mit der richtigen Prise Thymian. Außerdem erklärt der Bachmannpreis-Juror Philipp Tingler, was ihn an "identitärer Befindlichkeitsprosa" stört. Die SZ porträtiert die Künstlerin Rosa Barba, die mit alter Filmtechnik dystopische Filmgemälde schafft. Die taz spricht mit dem kubanischen Künstler Marco A. Castillo über die desolate Lage im Land. Und der Dlf erkundet die feministische Gegentradition des Kriminalromans.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.07.2021 finden Sie hier

Bühne

Schmeckt lustvoll die Phrasen ab: Christopher Purves als Falstaff. Foto: Monika Rittershaus / Festivel d'Aix-en-Provence

Michael Stallknecht berichtet für die NZZ vom Opernfestival in Aix-en-Provence, wo Barrie Koskys mit Verdis Falstaff und einem fantastischen Christopher Purves in der Titelrolle brillierte: "In seiner Inszenierung des 'Falstaff' braucht der Titelheld keinen der mächtigen Bäuche vorzuweisen, die, ob naturgewachsen oder von der Kostümabteilung präpariert, die Rollentradition vorsieht. Ein nackter Hintern unter der Kochschürze und wechselnde Toupets für die Annäherung an die Damenwelt genügen, um das Groteske seines Daseins in der Welt zu erzählen... Es unterscheidet ihn von den anderen, dass er sein Leben dennoch in jedem Moment auszukosten weiß wie das mit der richtigen Prise Thymian zubereitete Ratatouille. Dazu passt sogar, dass Christopher Purves stimmlich kaum über die erforderliche Italianità für die Rolle verfügt und insbesondere manche der hohen Noten als echter Ausfall zu beklagen sind. Dennoch schmeckt er die Phrasen so lustvoll ab, als verfügte er über ein echtes baritonales Edeltimbre."

Besprochen werden Sibylle Bergs "GRM Brainfuck" am Düsseldorfer Schauspielhaus ("Zwei Stunden recht haben", ächzt Alexander Menden in der SZ, Nachtkritik), Wolfram Lotz' Suada "Die Politiker" an den Münchner Kammerspielen (Nachtkritik), Aufführungen bei den Bad Hersfelder Festspielen (FR), Alexander Eisenachs Stück "Eternal Peace" an den Frankfurter Kammerspielen (FR), die Tanzperformance "Come as you are # teil 2" im Dock 11 (Tsp), Kleists "Michael Kohlhaas" an der Berliner Schaubühne (FAZ) und ein "Rosenkavalier" an der Garsington Opera (FAZ).
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Literatur

Philipp Tingler sitzt seit zwei Jahren in der Jury des Bachmannpreises - und wird seit zwei Jahren für seinen Stil und sein Auftreten dort angefeindet. "Das ist mir wurst", schreibt er in der NZZ in einer Offenlegung seiner literarischen Kriterien und Grundüberzeugungen, dass man Literatur objektiv bewerten könne, die Gestaltung deren eigentliches Qualitätsmerkmal sei und gute Literatur stets auf "Universalität und Transzendenz" abziele. "Die identitäre Befindlichkeitsprosa reduziert Protagonisten auf ihre Zugehörigkeit zu Kohorten, sie versteht Autonomie nicht als Selbstentwicklung und -bestimmung, sondern als Selbstbehauptung. Es handelt sich um eine Denkungsart, welche die kategoriale Abgrenzung als Teil der eigenen Wesensbestimmung stets mitmeint und einschreibt. Das Ergebnis ist Identitätskitsch, der das mutmaßlich Authentische, mutmaßlich Erfahrungsechte in ein rigides und damit triviales Gut-Böse-Schema presst und anstelle universalen Weltbegreifens das Verlangen, sich einzusortieren, zum Ausdruck bringt."

Thekla Dannenberg denkt im Radioessay für den Dlf über feministische Krimis nach. In den letzten Jahren hat sich der Kriminalroman in dieser Hinsicht entscheidend verändert und modernisiert, beobachtet sie. Aber es gebe auch "eine Gegentradition des weiblichen Schreibens, die von Anfang an in die Geschichte des Kriminalromans eingewoben war. Sie hat das Genre von Anfang an mitgeprägt, wobei ihr Einfluss mal stärker, mal schwächer war, mal explizit, mal untergründig, mal unterhaltsam, mal intellektuell. Die Autorinnen fühlen sich vielleicht nicht alle den radikalsten Fraktionen des theoretischen Feminismus verbunden, aber sie teilen doch gewisse Grundüberzeugungen: Etwa dass die politische und rechtliche Gleichstellung nicht ausreicht, um eine wahre Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen; dass die Rolle der Frau bestimmt ist durch Zuschreibungen; dass Unterschiede unter Frauen in Hinsicht auf Herkunft und soziale Stellung berücksichtigt werden müssen. Und viele von ihnen halten im Gegensatz zum heute an den Universitäten vorherrschenden postmodernen Gender-Diskurs an einer Differenz der Geschlechter fest. Denn wie soll man das Patriarchat bekämpfen, wenn man keine Binarität zwischen Frau und Mann mehr kennt?"

Weitere Artikel: In einem online nachgereichten Essay aus der NZZ vom Samstag befasst sich Claudia Mäder mit Jean de La Fontaines Fabeln aus dem 17. Jahrhundert. Gerrit Bartels trifft sich für den Tagesspiegel mit dem Schriftsteller Ulrich Peltzer. Die FAZ erkundigt sich bei Schriftstellern, ob sie Proust, dessen Geburtstag sich am 10. Juli zum 150. Mal jährt, jemals zu Ende gelesen haben. Außerdem führt der Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte in der FAZ ins Frankreich von Prousts Geburt. In der Dante-Reihe der FAZ schreibt der Schriftsteller Durs Grünbein über Dantes Sorge vorm Fortschritt. Konrad Ege führt im Freitag zurück ins Jahr 1951, als J.D. Salingers "Der Fänger im Roggen" zum Bestseller wurde. Im Standard gratuliert Julia Kospach der Schriftstellerin Barbara Frischmuth zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Iwan Gontscharows "Eine gewöhnliche Geschichte" (NZZ), Lothar Müllers "Adrien Proust und sein Sohn Marcel" (ZeitOnline), Marcel Prousts "Der geheimnisvolle Briefschreiber" mit frühen Erzählungen, die erst vor kurzem aufgetaucht sind (Tagesspiegel), sowie weitere Bücher zum 150. Geburtstag Marcel Prousts (Standard), John Greens "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" (FR) und Krimis von Colin Dexter (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt der Lyriker Jan Röhnert über sein eigenes Gedicht "Postkarte aus Hadramaut":

"Erinnerst du dich, in der Abendsonne,
das rötliche Gestein, oder Ocker, aus
dem Geröll der Ebene..."
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Kunst

Rosa Barba: From Source to Poem, 2016. Bild: Neue Nationalgalerie

In der SZ porträtiert Till Briegleb die in Berlin lebende Künstlerin Rosa Barba, die mit alter Filmtechnik dystopische Filmgemälde erschafft zum Verhältnis von Mensch und Natur. Im August wird sie die Neue Nationalgalerie mit der Ausstellung "In a Perpetual Now" eröffnen: "Sie schaut ins All und auf gesunkene Schiffe, die Spuren, die Uran-Abbau oder eine verlassene Rennstrecke in der Wüste hinterlassen haben. Sie besucht das Archiv des amerikanischen Kongresses, in dem die Vergangenheit der Nation in Tonaufnahmen bewahrt wird, oder sie trifft Überlebende des letzten Vesuv-Ausbruchs von 1944. Ihr Fahrplan ist historisch geprägt. Aber nostalgisch ist an ihrer Perspektive trotzdem wenig. Denn Rosa Barba, die 1972 in Agrigent auf Sizilien geboren wurde, beschäftigt sich meist mit Gewalten, natürlichen und menschlichen, die 'Einschreibungen' in der Welt hinterlassen, wie sie es nennt. Und um die mächtigsten dieser landschaftlichen Prägungen erfahrbar zu machen, fliegt sie gerne Helikopter."

Im taz-Interview mit Sebastian Strenger spricht der kubanische Künstler Marco A. Castillo über die Verhaftung von Hamlet Lavastida Cordoví, den die Behörden ins Gefängnis steckten, kaum dass er von seinem Stipendiumsaufenthalt in Berlin zurückgekehrt war: "Das politische und gesellschaftliche Klima ist aufgeheizt! Offenbar hält es das politische System für möglich, dass Künstler:innen die Initialzündung für eine Protestwelle erzeugen, ähnlich den Massenprotesten, wie sie in anderen lateinamerikanischen Ländern stattgefunden haben. Eine für das System kaum beherrschbare Situation. Dabei sind es die verfehlte Wirtschaftspolitik, die wegen der Pandemie ausbleibenden Einnahmen durch den Tourismus sowie die marktwirtschaftliche Turbulenzen nach dem US-Handelsembargo und eine rückwärtsgewandte Politik der Regierung, die in der Summe der Faktoren ins Desaster führt und die Kubaner hungern lässt."

Weiteres: Im Standard interviewt Katharina Rustler die Kuratorin Heike Eipeldauer zu ihrer Ausstellung "Enjoy" im Wiener Mumok. Besprochen werden die Schau "Rat der Bäume" des Hongkonger Künstler Zheng Bo im Berliner Gropius-Bau (FR)
Archiv: Kunst

Film

Andreas Busche unterhält sich im Tagesspiegel mit der Regisseurin Anja Marquardt, die in Deutschland von keiner Filmhochschule genommen wurde, deshalb in New York studierte und jetzt die dritte Staffel von Steven Soderberghs Serie "The Girlfriend Experience" geschrieben und inszeniert hat. Dass die Staffel von einem Dating-Algorithmus handelt, der die Wünsche der User besser kenne als diese selbst, kann man durchaus als Allegorie aufs algorithmengesteuerte Streamingzeitalter verstehen: "Die Optimierung unseres Konsumverhaltens bereitet ihr als Regisseurin eher Sorgen. 'Man kann ja nur hoffen, dass es irgendwann wieder eine Kurskorrektur gibt, wenn wir alle gelangweilt sind von den Filmen, die der Algorithmus auswählt.' Denn die Zahlen sind unerbittlich, erklärt Marquardt. In der Branche habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Serien nach zwei Staffeln bereits das Maximum an Abos generiert haben. Darum werde eine dritte Staffel immer seltener in Auftrag gegeben."

Von der Metapher zum Zirkusmonster: Godzilla und King Kong

Adam Wingards Blockbuster "Godzilla vs. Kong" rumpelt zwar so amtlich, dass alleine dafür schon der Besuch im Kino lohnt, meint Mateja Meded in der Welt. Melancholisch wird sie nach dem Kinobesuch dennoch: Früher waren Monster noch Allegorien und Metaphern und der Monsterfilm eine Möglichkeit, Traumata zu verarbeiten - wie im Falle Godzillas etwa die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki. Doch in diesem Film "werden die Effekte nicht benutzt, um, wie es ursprünglich bei King Kong war, eine Geschichte zu erzählen, sondern sie sind sich mehr oder weniger selbst genug. ... Heute stehen Godzilla und King Kong für nichts mehr. In der Monsterwelt mögen Godzilla und Kong unbesiegbare Alphas sein, doch niemand ist stärker als der Kapitalismus. Er hat aus Ikonen der Resilienz, aus Wut und Trauer, zwei Zirkusmonster gemacht."

Weitere Artikel: Katrin Hillgruber sieht für den Tagesspiegel auf dem Filmfest München deutsche Filme. Udo Badelt erinnert im Tagesspiegel an Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers", der vor 50 Jahren gezeigt wurde.

Besprochen werden Pepe Danquarts Essayfilm "Vor mir der Süden" über eine Reise nach Italien auf den Spuren Pasolinis (taz), Azra Deniz Okyays beim Filmfest München gezeigter Debütfilm "Ghosts" über das Istanbul der Gegenwart (taz), die Amazon-Serie "Love Life" (FAZ) und der neue Marvelfilm "Black Widow" mit Scarlett Johansson (Standard).
Archiv: Film

Musik

In der NZZ erzählt Christoph Wagner die Geschichte des Americana-Labels Arhoolie Records, das der ausgewanderte Deutsche Chris Strachwitz, der gerade 90 geworden ist, 1960 gegründet hat. Kurz zuvor war er nach Texas gereist und hatte dort Lightnin' Hopkins besucht. "'Wie ich Lightnin' da am ersten Abend in dieser winzigen Kneipe hörte - das war unglaublich! So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich dachte: Das muss einmal genau so aufgenommen werden!' Nicht lange, und Strachwitz reiste erneut nach Texas, diesmal mit einem Tonbandgerät im Gepäck. Auf dem Weg machte er bereits Aufnahmen mit Bluessängern, wobei er auf Mance Lipscomb stieß. ... Die Sessions erwiesen sich als so ergiebig, dass Strachwitz genügend Material beisammen hatte, um ein eigenes Label zu gründen. Im November 1960 lag die erste Platte von Arhoolie Records vor: 'Mance Lipscomb - Texas Sharecropper and Songster'. Gesamtauflage: 250 Stück."



Außerdem: In der Zeit spricht Christoph Dallach mit Robby Krieger über Jim Morrison, der vor 50 Jahren gestorben ist. Wolfgang Schreiber schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Komponisten Louis Andriessen.

Besprochen werden der Bildband "Please Come" mit den Konzertplakaten des Berliner Veranstalters Shameless/Limitless (taz), Fritzi Ernsts Solodebütalbum "Keine Termine" (taz), ein Schubert-Abend mit Joyce DiDonato und Yannick Nézet-Séguin in Baden-Baden (FAZ).
Archiv: Musik