Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2003. In der taz verteidigt Bundeskulturministerin Christina Weiß den Luxus in Krisenzeiten. Die FAZ würdigt Frankreichs neue Rolle in der Weltpolitik. Die SZ freut sich auf Martin Kippenberger bei der Biennale in Venedig. Und  in der FR findet der Rechtstheoretiker Klaus Günther Folter, die ins Innerste des Menschen eingreift, nicht zu rechtfertigen.

TAZ, 26.02.2003

Kulturstaatsministerin Christina Weiß versichert im Interview, dass sie Deutschlands "blühender Kulturlandschaft" ein gutes Zuhause geben wird: "Es gibt immer noch Menschen, die sagen, Kunst sei Luxus, den man sich nicht leisten kann, wenn es einem schlecht geht. Aber das ist ein falscher Schluss. Denn in Krisenzeiten muss man auf die kreativen Köpfe setzen. Uns ist schon klar, dass es nicht staatliche Aufgabe sein kann, das zu fördern, was an Kunst kommerziell ist. Sondern das, was an ihr sperrig ist, wo sie sich entwickeln muss, wo sie durch schlechte Zeiten durch muss, um einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Wir vergeben Risikoprämien."

Mit "Mai, Juni, Juli" lieferte Joachim Lottmann (mehr hier) vor rund 25 Jahren die "Blaupause für die Popliteratur", nun wird der Roman neu aufgelegt und der Autor erinnert sich an die Anfänge seines Erfolgs: "Ich war schon als Neunjähriger textsicher gewesen und als Wunderkind herumgereicht worden. Alles, was ich schrieb, ging ohne ein Komma zu ändern in Druck. Malchow faszinierte das. Meistens legte er mir einen Umschlag mit frischen Banknoten neben den lautlos arbeitenden, nagelneuen Würfel-Mac. Er war mein Lektor. Das Projekt war relativ geheim. Nur die Verlagsoberen sowie Günter Wallraff und Heinrich Böll waren eingeweiht. Wallraff schätzte meine subversive Arbeit, die ich bei der Bild-Zeitung geleistet hatte. Damals gab es noch richtige Druckereimaschinen bei Springer, und ich lief da nachts rum und änderte unbemerkt die Texte."

Weitere Artikel: Morten Kansteiner ruft zur Unterstützung von Gerard Mortier im Kampf um Publikum und Prestige für die Ruhrtriennale auf. Hans Nieswandt erklärt in seiner clubkolumne, wie man Spaß haben kann, ohne dazuzugehören. Und auf der Meinungsseite lauscht Mathias Greffrath dem Klang der Gene.

Schließlich Tom.

FAZ, 26.02.2003

Recht wohlwollend kommentiert Jürg Altwegg Frankreichs Rückkehr in die Weltpolitik: "Frankreich besiegt die Dämonen seiner Vergangenheit und nutzt die Gunst eines drohenden Kriegs, um in der Welt wieder eine führende Rolle zu spielen. Von neuer 'Grandeur' spricht keiner. Chiracs Beschimpfung der osteuropäischen Staaten zeigt allerdings, dass er seine berüchtigte und belehrende Arroganz nicht völlig überwunden hat. Doch die angelsächsische Frankophobie wirkt gegenwärtig viel eher als Karikatur als jeder französische Antiamerikanismus."

Paul Ingendaay freut sich über die heute bei Kiepenheuer und Witsch erscheinende Neuübersetzung von Salingers "Fänger im Roggen" durch Eike Schönfeld - bisher kursierte eine Übersetzung von Irene Muehlon, die von Heinrich Böll höchstpersönlich überarbeitet worden war. "In der alten Übersetzung wird gepflegtes Hochdeutsch kurz vor der Pensionsgrenze benutzt, in der neuen prasseln die Sätze der Gegenwart in maximaler Kürze und Intensität aufs Papier. 'Diese Sorte Ideen war charakteristisch für sie', steht in der Fassung von 1962. Heute heißt es: 'Solche Ideen hatte sie ständig.'"

Weitere Artikel: Stephan Templ schildert österreichische Vergangenheitsbewältigung: Ein Bericht zur Arisierung jüdischer Vermögen von 10.000 Seiten wurde gerade vorgelegt, aber so, dass man möglichst nichts zurückgeben muss. "Man hatte sich an ein Datenschutzgesetz zu halten, dessen Zweck der Täterschutz zu sein scheint. Selbst die Initialen der betroffenen Namen wurden noch verändert." Edo Reents kommentiert den Selbstmord des französischen Kochs Bernard Loiseau, der sich erschoss, nachdem ihn der Restaurantführer Gault-Millau um zwei Punkte herabgestuft hatte. Dazu gibt es auf der Seite "Deutschland und die Welt" auch einen Bericht von Jürgen Dollase, der aus dem neuen Gault-Millau zitiert: "Jedermann wisse, dass seine Küche 'kaum hinreißend, aber einfach sehr gut gemacht' sei, notierte der Führer gönnerhaft ... Eine Katastrophe für einen Sterne-Koch, eine Demütigung." Christian Geyer schreibt zum Tod des Soziologen Robert K. Merton. Jordan Mejias unterhält sich mit Louis Begley über die Verfilmung seines Romans "About Schmidt" mit Jack Nicholson, die von Andreas Kilb besprochen wird. Michael Althen schreibt zum Tod des Schauspielers Alberto Sordi. Gina Thomas meldet Streik bei der English National Opera.

Auf der letzten Seite stellt Katja Gelinsky bei einem Besuch in Gettysburg fest, wie lebendig in den USA die Erinnerung an den Bürgerkrieg ist - unter anderem ist hier ein neues Museum geplant. Michael Jeismann hat einer Lesung des Economist-Redakteurs Bill Emmot zugehört, der dem Kapitalismus eine glänzende Zukunft bescheinigt. Und Regina Mönch meldet, dass der sowjetische Stadtkommandant Nikolaj Erastowitsch Bersarin wieder zum Ehrenbürger Berlins erklärt wurde. Auf der Medienseite kritisiert Lorenz Jäger eine heute im SWR laufende Dokumentation über den Reichstagsbrand, die allzu sehr der These folge, dass Marinus van der Lubbe nicht der Alleintäter sei. Michael Hanfeld meldet, dass Ulrich Deppendorf als Intendant für den neuen Berlin-Brandenburger Sender RBB im Gespräch ist. Ferner wird gemeldet, dass Le Monde gegen ein Enthüllungsbuch, das die "versteckten Seiten" der Zeitung untersucht, klagen wird (mehr zum Buch und Auszüge hier).

Besprochen wird Pascal Dusapins Oper "Perela" in Paris.

FR, 26.02.2003

In der tatsächlich wieder aufgekommenen Debatte um das Folterverbot lotet der Frankfurter Rechtstheoretiker Klaus Günther die rechtliche Lage aus. So merkwürdig es auch klinge, meint er, der finale Todesschuss sei rechtlich gesehen weniger problematisch als die Anwendung von Folter: "Muss man das Leben eines Jungen aufgeben, um an einem absolut gesetzten Prinzip festzuhalten, dessen Verletzung konkret ja nur bedeutet, dem Entführer ein paar Unannehmlichkeiten zu bereiten? Bei Folter mögen die meisten an Diktaturen denken. Liegt der Frankfurter Fall nicht anders? Hier will nicht ein Staat oder eine Partei politische Gegner verfolgen, sondern ein Leben aus dem tödlichen Zugriff eines Entführers befreien. Vielleicht machen einige auch eine heimliche Rechnung auf: Hat sich der Täter nicht selbst aller Rechte begeben, wenn er einem unschuldigen Opfer so etwas antut? Verhält sich das Recht hier nicht wieder mal zu täterfreundlich und zu rücksichtslos gegenüber dem Opfer? Die Folter, in welcher Form, in welchem Kontext und gegen wen auch immer praktiziert, verletzt den unverlierbaren Kern der Würde des Menschen. Sie greift in das Innerste des Menschen ein - in sein Recht und seine Fähigkeit, selbst zu bestimmen, ob er etwas sagt und was er sagt."

Weitere Artikel: Christian Schlüter gratuliert dem Philosophen Odo Marquard ("Physik ist gut, Metaphysik ist billiger") zum Fünfundsiebzigsten. Martin Hartmann schreibt einen Nachruf auf den Soziologen Robert K. Merton. Elke Buhr lobt die pragmatische Entscheidung, Martin Kippenberger und Candida Höfer auf der Biennale in Venedig zu zeigen. Jens Roselt bemerkt in times mager amüsiert, wie angesichts des quotenträchtigen Sängerwettstreits bei RTL der Konkurrenzsender Sat1 Gift und Galle spuckt.

Auf der Medien-Seite berichtet Roman Arens, wie Italiens Lega Nord auf Teufel komm raus versucht, einen RAI-Kanal nach Mailand zu holen.

Besprochen werden Hans-Peter Feldmanns Schau mit dem schönen Titel "Kunstausstellung" im Kölner Museum Ludwig und Bücher, darunter Brigitte Kronauers Band "Essays und Skizzen" und Peter Levis Reisereportage "Im Garten des Lichts. Mit Bruce Chatwin durch Afghanistan" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 26.02.2003

Martin Kippenberger (mehr hier) und die Fotografin Candida Höfer (mehr hier) werden den deutschen Pavillon der Biennale in Venedig schmücken. Holger Liebs meint zwar, dass man sich deshalb auf eine recht museale Anmutung gefasst machen müsse, aber er gönnt es Kippenberger, diesem 1997 verstorbenen "heiteren Dämon und umtriebigen Spaltpilz der Gegenwartskunst", der zu Lebzeiten nur zur Hochzeitsreise nach Venedig kam. "Nun also, als Höfers Nachbar im deutschen Pavillon, Kippenberger und sein brodelnder, polemischer Bilderkosmos, der die kulturelle Totemisierung liebgewonnener Kollektiv-Klischees ätzender Kritik unterzieht: Es scheint so, als hätten die Aggregatzustände Heiß und Kalt einer vergleichbaren Auffassung von Orten und ihrer Geschichte zueinander gefunden."

Saddam Hussein hat George Bush zu einem Fernsehduell aufgefordert. Christopher Schmidt spekuliert angesichts bisheriger Äußerungen darüber, wie das klingen könnte: "S.H: 'Der Irak hat keine Massenvernichtungswaffen. Der Irak hat einen humanitären Preis verdient, nicht den Krieg. Ich kann die Verantwortung, mein Land zu verteidigen, nicht ablegen.' G.W.B.: 'Saddam ist ein Aggressor vom Kaliber Hitlers, und mit Hitler schließt man keine Kompromisse. Dieser Kerl hat immerhin schon einmal versucht, meinen Dad umzubringen.'"

Weitere Artikel: Alexander Kissler stellt die "Rabbis für Menschenrechte" vor, die sich in Israel mit Aussagen wie "Der einzige Weg, Frieden zu sichern, besteht darin, ihn mit anderen zu teilen" unbeliebt machen. Christian Jostmann bemerkt mit Genugtuung, dass der Streit um die NS-Verstrickungen des Historikers Hans Rothfels nun auch im Internet (auf den Seiten der Humboldt-Uni) geführt wird. Christoph Jahr berichtet von einer Tagung zum so genannten Lüth-Urteil, seit dem, wie Jahr schreibt, "das Grundgesetz selbst als die zentrale Legitimationsinstanz für Wertentscheidungen gilt, ohne dass es noch des Rückgriffs auf naturrechtliche oder andere Begründungen bedarf".

Roman Polanski droht noch aus den siebziger Jahren ein Prozess in den USA wegen Vergewaltigung, weshalb heftig über einen möglichen Oscar für sein Holocaust-Drama "Der Pianist" gestritten wird. Wie Susan Vahabzadeh berichtet, hat sich nun sein damaliges Opfer zu Wort gemeldet: "Judge the movie, not the man." Anke Sterneborg plaudert mit dem Regisseur Alexander Payne über seinen Film "About Schmidt", die Magie des Kinos und den Luxus, mit Jack Nicholson zu drehen. Fritz Göttler schreibt einen Nachruf auf den italienischen Filmregisseur und Schauspieler Alberto Sordi. Gerhard Poppenberg schreibt zum Tode des Schriftstellers Maurice Blanchot (mehr hier). Dazugestellt ist ein Auszug aus seiner bisher unveröffentlichten "Schrift des Unheils".

Auf der Medien-Seite erklärt Claudia Tieschky, wie das Pentagon die internationale Berichterstattung in einen Krieg gegen den Irak einbettet.

Besprochen werden zwei Inszenierungen von Sebastian Hirn in Stuttgart, Camus' "Die Gerechten" und Heiner Müllers "Auftrag" ("Ohne Aufgeregtheit, politisches Theater in schönster Klarheit"), F. K. Waechters Stück "Kwast" mit Michael Quast in Heidelberg, Peter Mussbachs Aufführung von Pascal Dusapins Oper "Perela. Uomo di fumo" in Paris, ein Konzert des Pianisten Nikolai Demidenko in München, und Bücher, darunter Reinhard Baumgarts Erzählband "Glück und Scherben", Odo Marquards philosophische Essays "Zukunft braucht Herkunft" sowie eine Holbein-Monografie von Katharina Krause (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 26.02.2003

Naomi Bubis stellt ein umstrittenes Versöhnungsprojekt des katholischen Priesters Emil Shufani aus Nazareth vor: Er will mit 200 israelischen und arabischen Intellektuellen nach Auschwitz fahren. Die Idee ist Shufani gekommen, als ein israelischer Freund ihm erzählte, " wie stark der Holocaust sein Denken und Fühlen beeinflusse. 'Plötzlich habe ich begriffen, dass der Holocaust nicht der Vergangenheit angehört', sagt der Priester. Die Erinnerung an die Judenvernichtung, das permanente Gefühl, verfolgt zu werden, säßen tief im kollektiven Bewusstsein der Israeli. Ein aufrichtiger Dialog könne nicht stattfinden, solange sich Araber und Palästinenser nicht mit der Shoah und deren Auswirkungen auf die zweite und dritte Generation der Überlebenden auseinandersetzten, meint er."

Weitere Artikel: Für die Werkstatt-Reihe hat Ilma Rakusa den weißrussischen Schriftsteller Ales Rasanau besucht, "Wortführer eines weißrussischen kulturellen Revivals, das an die Aufbruchsstimmung des Jahrhundertanfangs anknüpft, lange bevor die Sowjets jeden Nationalismus unterbanden und Stalin in den dreißiger Jahren die weißrussische Intelligenzia dezimierte." Hubertus Adam stellt das Museum MART von Mario Botta in Rovereto vor, eines der größten Museen moderner Kunst in Italien, entstanden. Alena Wagnerova schreibt zum Tod des Philosophen Karel Kosik. Georges Waser berichtet, dass ein Privatsammler für 19 Aquarelle von William Blake mehr als fünf Millionen Pfund geboten hat. Gemeldet wird außerdem, dass der Mexikaner Xavier Velasco den diesjährigen Alfaguara-Preis, einen der höchstdotierten Literaturehrungen Spaniens erhält.

Auf der Medienseite kommentiert Joachim Güntner die heute im SWR laufende Dokumentation über den Reichstagsbrand, die seiner Ansicht nach die These von der Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes "nachhaltig" erschüttert. "Als traurigste Figur in diesem Film erscheint Hans Mommsen. Die Kamera zeigt den renommierten Historiker, wie er angesichts des Vorwurfes, seinerzeit am IfZ die Publikation der Forschungen Hans Schneiders mit unlauteren Methoden verhindert zu haben, die Nerven verliert. Da fürchtet jemand um seinen Ruf als Wissenschafter, und man kann diese Furcht verstehen, wenn man sieht und hört, wie dezidiert der heutige Direktor des IfZ die damaligen Praktiken seines Instituts ablehnt und auch gleich noch die Alleintäterthese verwirft."

Besprochen werden ein Liederabend von Vesselina Kasarova im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Essad Beys früher Blick auf den "Kampf der Kulturen", Jeroen Brouwers' Roman "Geheime Zimmer" und Hanno Loewys gesammelte Feuilletons "Taxi nach Auschwitz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).