Efeu - Die Kulturrundschau

Am nächstbesten Waldweg

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22.02.2021. Als aufschlussreiches Dokument des Scheiterns empfiehlt die FAZ einen Film über James Baldwin, bei dem sich die Filmemacher in lupenreinen Herrschaftsposen verheddern. critic.de huldigt dem Kino kerniger Männlichkeit von Hongkong-Regisseur Chang Cheh. In Milo Raus Inszenierung der "Clemenza di Tito" hört die SZ eine überwältigende Anna Goryachova, die FAZ allerdings das Trommeln auf der Pharisäer-Brust. Die taz erzählt, wie sich Kubas Kulturszene gegen die Schikanen der Polizei wehrt: zum Beispiel mit dem Protestsong "Patria y Vida".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2021 finden Sie hier

Film

Meeting the Man: James Baldwin in Paris. (Bild: Mubi)

Für ein interessantes Dokument des Scheiterns hält FAZ-Kritikerin Verena Lueken den 1970 entstandenen, jetzt auf Mubi gezeigten Kurz-Porträtfilm "Meeting the Man: James Baldwin in Paris". Zu beobachten ist, wie Terence Dixon (Regie) und Jack Hazan (Kamera) geradezu verzweifeln angesichts eines Schriftstellers, der ihnen immer wieder ausweicht: "Offenbar haben die Filmemacher nicht bemerkt, dass sie in den Konflikten, von denen Baldwin spricht, eine Rolle haben. Dass ihr Weißsein gegenüber seinem Schwarzsein sich in lupenreinen Herrschaftsposen Ausdruck verschafft. Ihre Ignoranz ist atemraubend. Schlecht vorbereitet sind sie, borniert und ohne Fähigkeit, auf die Situation anders zu reagieren als mit dem enervierenden Voiceover, das ihre Hilflosigkeit im Augenblick des Interviews nicht übertünchen kann."

In einem großen Longread für critic.de porträtiert Robert Wagner den Hongkong-Regisseur Chang Cheh, der das Hongkong-Kino zwar stark geprägt, aber immer wieder in die Bahnhofskino-Ecke geschoben wurde, als Quasi-Auteur eines Kinos kerniger Männlichkeit, das in einer Art fortlaufender Theweleit-Performanz gegen die Verweichlichung Chinas anstritt: "Durchsetzungsfähige Kampfkünstler verüben in seinen Filmen kraft ihrer irrealen Muskelkraft Rache oder kämpfen zerstörerisch für Gerechtigkeit". Anders als bei King Hu, der mit einer radikalen Schnitttechnik arbeitete, "war Chang Chehs Ansatz ganz auf Leiber in Bewegung zugeschnitten. ... 'The Duel' ('Duell ohne Gnade', 1971) etwa besteht aus vielen Miniaturplansequenzen, die die Kunstfertigkeit und Intensität der dynamischen Körper auskosten. Und die Schnitte, die uns zum nächsten Ballett der Körper schleudern und die Einzelteile zu einem großen Tanz rhythmisieren, sind mit Schlägen synchronisiert. Die Ausstattung ist dabei oft spartanisch, und die Filme sehen mitunter aus, als seien sie am nächstbesten Waldweg gedreht. Dieses betont Unbombastische der Umwelt ist ein deutlicher Hinweis auf Changs Wurzeln in der Peking-Oper. Körper und Menschen sind alles, der Hintergrund nichts." Eine Kampfszene aus dem Film gibt es auch auf Youtube:



Weitere Artikel: Björn Hayer plädiert in einem ZeitOnline-Essay für die heilsame Kraft melancholischer Filme. In der SZ spricht Sonja Zekri mit dem Schauspieler Albrecht Schuch, der in diesem Jahr als "European Shooting Star" gewürdigt wird.

Besprochen werden Guan Hus auf DVD veröffentlichter chinesischer Blockbuster "The 800" (SZ, mehr dazu bereits hier), die deutsche Amazon-Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (taz, NZZ), die norwegische SF-Fantasy-Krimi-Komödienserie "Magnus - Trolljäger" (ZeitOnline), die deutsche Netflix-SF-Serie "Tribes of Europa" (Freitag) und ein Bildband zu den Dreharbeiten des Bondfilms "Goldfinger" (ZeitOnline).
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Bühne

Milo Raus "La Clemenza di Tito". Foto: Carole Parodi/Grand Théâtre de Genève


Milo Rau misstraut der Oper als bürgerlicher Kunstform. Wenn der Schweizer Theatermacher am Grand Théâtre in Genf Mozarts "La Clemenza di Tito" inszeniert, dann stellt sich Reinhard J. Brembeck in der SZ auf ein Höchstmaß an Verstörung und Hoffnungslosigkeit ein. Rau verlegt das Stück über den Herrscher, der auch Künstler sein will, in ein Flüchtlingslager, dessen Bewohner nicht von der Revolution träumen, sondern von Geld. Ein musikalisch großer Moment ist dem Kritiker allerdings beschert: "Die überwältigende Anna Goryachova singspielt den Sesto als eine längst aus dieser Geschichte gefallene Gestalt, als Schatten eines Menschen, dessen Frustration unendlich alt ist und noch viel tiefer geht. Dieser Sesto ist zutiefst davon getroffen, dass das humanistische und kunstbegeisterte Reden seines innig geliebten Tito nichts als Geschwätz ist. Goryachova legt all diese Enttäuschungen in ihren tiefen, dunklen, schier den Weltenraum umfassenden Mezzosopran, der fern aller Veräußerlichung selbst in den virtuosesten Tonkaskaden nur von Schmerz kündet, von Verzweiflung, Lebensflucht."

FAZ-Kritiker Jan Brachmann sieht sich Milo Rau in der eigenen Kritik verfangen: "Sein Theater ist das Ausagieren eines performativen Selbstwiderspruchs. Indem er inszenatorisch den Stinkefinger ausfährt und sagt: 'Nimm dies, linksliberaler Spießer!', steckt er schon in der Falle. Wo die Kunst-Elite, die er angreift, sich auf die Pharisäer-Brust schlägt und sagt: 'Gott sei Dank bin ich nicht wie diese konservativen Spießer, die in der Kunst immer nur eine Gegenwelt zum Alltag suchen', da schlägt sich Milo Rau auf die Pharisäer-Brust und sagt: 'Gott sei Dank bin ich nicht wie diese linksliberalen Spießer, die glauben, durch ihr politisches Kunstengagement einen Ablass von der sündhaften Gewalttätigkeit der westlichen Welt erwirkt zu haben.'" In der Nachtkritik schreibt Verena Großkreutz, in der NMZ Wolf-Dieter Peter.

Weiteres: Nach der Sichtung von drei gestreamten Inszenierungen murrt Bernd Noack in der NZZ mit Thomas Bernhard: "Kein Mensch will die Zukunft." In der SZ lotet Dorion Weickmann aus, welche Auswirkungen der Brexit auf die europäische Tanzszene haben wird: Kompanien, die ihren Sitz in London haben, werden mit Mehrkosten und Visa-Regelungen rechnen müssen. Standard-Kritiker Stefan Ender trifft den katalanischen Regisseur Calixto Bieito, der an der Wiener Staatsoper seine Blockbuster-Inszenierung "Carmen" zeigt.

Besprochen werden Einar Schleefs Monolog "14 Vorhänge" für die VR-Brille vom Theater Augsburg (SZ, taz) und die "Sunday Screenings" des brut Wien (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Für 54books denkt Sandra Beck über Krimiparodien nach.

Besprochen werden unter anderem Sharon Dodua Otoos Debütroman "Adas Raum" (Tagesspiegel), neue Bücher der belarussischen Autorinnen Volha Hapeyeva und Viktor Martinowitsch (Standard), Dmitrij Kapitelmans "Eine Formalie in Kiew" (taz), Norbert Gstreins "Der zweite Jakob" (Tagesspiegel), Alem Grabovacs "Das achte Kind" (Welt), Stephen Greenalls "Winter Traffic" (online nachgereicht von der FAZ),  Sigrid Damms "Goethe und Carl August - Wechselfälle einer Freundschaft" (Freitag), T.C. Boyles "Sprich mit mir" (NZZ), Patrick Modianos "Unsichtbare Tinte" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Saša Stanišićs "Hey, hey, hey, Taxi (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ursula Renner-Henke über Johann Joachim Ewalds "Der Sturm":

"Es wird auf einmahl Nacht, die Winde heulen laut,
Und Himmel, Meer und Grund wird wie vermengt geschaut.
Das Schiff fliegt Sternen zu..."
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Kunst

Im Standard berichtet Stephan Hilpold angesichts der ungewissen Zukunft, der Europas Museen entgegenblicken, von Forderungen nach einer Neuausrichtung ihrer Politik: Anstatt auf Touristenströme zu setzen, sollten sie lokale Orte der Begegnung werden: "Statt Repräsentation Konfrontation. Oder anders gesagt: "'Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert auch in den Museen zu begraben.'"

Für den Tagesspiegel besucht Gunda Bartels die in Berlin lebende finnische Künstlerin Helena Kauppila, die Mathematik und Astrophysik in Kunst übersetzen möchte. In der FAZ freut sich Rose-Maria Gropp, dass das Frankfurter Städel Museum  eine Zeichnung des amerikanischen Malers R.B. Kitaj angekauft hat: Ein Porträt des Schriftstellers Philip Roth.
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Musik

Binnen weniger Tage hat sich in Kuba der Protestsong "Patria y Vida" des Rappers Yotuel Romero zum millionenfach geklickten Youtube-Hit gemausert und sorgt bis in Regierung und Staatsmedien für helle Aufregung, berichtet Knut Henkel in der taz. Das Stück ist Teil einer bereits seit längerem anhaltenden Auseinandersetzung zwischen Kunstszene und Politik: "Das MSI, eine Künstlergruppe, die sich seit knapp drei Jahren für freie Kunst und gegen staatliche Regulierung engagiert, hatte Mitte November gegen die Verurteilung des kritischen Rappers Denis Solís mit einem Hungerstreik protestiert, der am Morgen des 27. November von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. ... Mehrere der in der Gruppe 27N und dem MSI organisierten Künstler*innen werden von der Polizei schikaniert, durften Tage, teilweise Wochen ihre Wohnung nicht verlassen, ihre Mobiltelefone wurden immer wieder blockiert und in den Medien des Landes wurden Einzelne, wie die international bekannte Künstlerin Tania Bruguera oder der Rapper Maykel Osorbo, als Konterrevolutionäre diffamiert."



In der Jungle World denkt Konstantin Nowotny über Pop und Depression nach. Zwar liegt die Depression des Pop schon in dessen Blueswurzeln begründet, doch hat sich der Diskurs darum in den letzten Jahren erheblich aufgeheizt - selbst ein Capital Bra rappt heute darüber, trotz Rolex-Uhren unglücklich zu sein. "Labels und Künstleragenturen werden nicht müde, das 'offene' Sprechen ihrer Schützlinge beispielsweise über den Suizid als besonders mutig und daher hörenswert hervorzuheben", doch "selbst wenn man darüber spricht, darf der Abgrund nicht beim Namen genannt werden. Es geht nicht um den psychischen Terror in der Gegenwart, es geht, ganz aufklärerisch, um mental health. So schaffen es die Künstler, selbst in der Anklage der schlimmen Zustände noch ideologisch zu übergehen, dass die Gesellschaft der unendlichen Möglichkeiten selbst das Problem sein könnte und die Verantwortung für jene Zustände den Individuen zu Unrecht zugeschoben wird. Und so schaffen es die Labels auch, die Verletzlichkeit ihrer Künstler zu vermarkten, ohne dass sich beim Hören jemand wirklich betroffen fühlen muss: Schaut her, was wir für schöne Abgründe im Programm haben - wollt ihr sie nicht kaufen? Sie passen so gut zu euch!"

Weitere Artikel: Jakob Augstein unterhält sich im Freitag mit Igor Levit. Die Berliner Musikerin Christiane Rösinger sieht sich in einem Gastbeitrag für die taz nicht dazu berufen, als Musikerin die positiven Seiten der Coronakrise hervorzuheben. Jens Schneider schreibt in der SZ einen Nachruf auf den serbischen Musiker Djordje Balašević. Robert Mießner porträtiert für die taz den Musiker Alex Stolze, der gerade sein Soloalbum "Kinship Stories" veröffentlicht hat. Wir hören rein:



Besprochen werden Theresia Philipps Jazzalbum "Pollon With Strings" (FR), Rainald Grebes Album "Popmusik" (FR), das Debütalbum von Black Country, New Road (Tagesspiegel) und die Kollektion "Nancy Sinatra: Start Walking - 1965-1976" (Standard).
Archiv: Musik