Außer Atem: Das Berlinale Blog

So wird rückwärts entstorben: "El tango del viudo y su espejo deformante" von Raúl Ruiz und Valeria Sarmento (Forum)

Von Ekkehard Knörer
22.02.2020.


Der Forum-Auftaktfilm "El tango del viudo y su espejo deformante" (deutsch: "Der Tango des Witwers und sein Zerrspiegel") scheint wie gemacht für das Jubiläumsprogramm. Wie im Forum selbst, das die Filme des ersten Programms von 1971 neben die aktuelle Auswahl stellt, geraten hier die Vergangenheit und die Gegenwart aneinander. Das historische Material des Films stammt aus dem Jahr 1967. "El tango del viudo" hätte der erste Spielfilm des nachmals weltberühmten chilenischen Regisseurs Raúl Ruiz werden sollen. Er wurde nie fertiggedreht, dreißig Minuten davon existieren, mehr nicht. Ruiz' Witwe Valeria Sarmiento hat sich den Torso nun vorgeknöpft, aber nicht einfach restauriert, sondern im Geiste des Verstorbenen ein hybrides Ding draus gemacht.

Ton und Text gab es nicht. Also haben LippenleserInnen den Dialog rekonstruiert. Die nachträgliche Synchronisation ist absichtlich künstlich, soll so draufgesetzt wirken, wie sie draufgesetzt ist: kein atmosphärischer Raumton, zu den Stimmen kommt als Geräusch nur hier und da ein Detail des Bilds als fokussierender Akzent. Aber auch mit dem Bildmaterial hat sich Sarmiento keineswegs begnügt. Die dreißig existierenden Minuten enden mit einem Tod, einem Begräbnis - und von da läuft der Film nun einfach zurück. Ganz buchstäblich, der älteste Bewegtbildtrick, alles nochmal, aber andersherum.

So wird rückwärts entstorben, enttrunken, eine Perücke entboren (don't ask), entdies und entdas. Der Synchroton klingt nach Satansmusik, wennglich in einer zusätzlichen Tonspur eine Off-Stimme vor sich hin spricht. Manchmal steht das Bild noch dazu auf dem Kopf, manchmal ist es seitenverkehrt. Der Effekt ist: mal komisch, öfter verwirrend. Die Geschichte war, um ehrlich zu sein, schon im Vorwärtslauf nicht so ganz zu verstehen. Eine Tote zu Beginn, der Witwer hat Träume, von Perücken zum Beispiel, es werden Getränke gebraut, der Film selbst in raschen Szenenwechseln surreal, ein wenig erinnert das alles, mich jedenfalls, an Maya Deren, mit allerdings stärkerer, und frustrierterer, Zusammenhangssuggestion.

Dass Sarmientos Bearbeitung das etwas verwirrende Material nicht ent-, sondern eher weiter verwirrt, ist konsequent, aber ein wenig anstrengend ist es auch. Auf einer konzeptuellen Ebene eine gute Idee, konkret springt kaum einmal ein Funke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Vorlauf und Rücklauf, zwischen historischem Bild und aufgepfropftem Ton über.

El TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante - THE TANGO OF THE WIDOWER And Its Distorting Mirror. Regie: Raul Ruiz, Valeria Sarmiento. Mit Ruben Sotoconil, Sergio Hernández, Claudia Paz, Chamila Rodríguez, Luis Alarcón u.a., Chile 2020, 64 Minuten. (Alle Vorführtermine)