Vom Nachttisch geräumt

Vom Bild, das uns gemacht wird

Von Arno Widmann
20.12.2018. Eine Dokumentation des radikalen Wandels der Volksrepublik China in den vergangenen Jahrzehnten: der Fotoband Magnum China.

Die Fotoagentur Magnum wurde 1947 gegründet. Über die Jahrzehnte der großen Fotoreportagen in Life und Paris Match, in Stern und L'Europeo bestimmten die Fotografen von Magnum unser Bild von der Welt. Schirmer/Mosel hat gerade einen Bildband mit den Aufnahmen veröffentlicht, die Magnum-Fotografen aus China mitbrachten von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson über Marc Riboud, Eve Arnold, Inge Morath bis Chris Steele-Perkins. Es gibt Aufnahmen darunter, die fast jeder von uns gesehen und nie ganz vergessen hat. Zum Beispiel die rotwangigen Schüler im Mathematikunterricht oder jene Aufnahmen, bei denen man auf breiten Straßen nichts als Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit sieht.

Vierzig Jahre ist das her. Ist es erst her. Die Bauernstuben mit ihren verblassten Mao-Zedong-Plakaten an der Wand. "Bauernstube"! Nein, es sind Zimmer mit abblätterndem Verputz, an den ein paar politische Plakate geklebt wurden. Wären das an der Wand Aufnahmen von Silvana Mangano oder Silvana Pampanini könnten die Fotos auch in der Basilicata der 50er Jahre entstanden sein. So weit ist China nicht weg. So lange ist auch Europa der bittersten Armut noch nicht entsprungen. Zu den Fotos, die ich niemals vergaß, gehört eine Aufnahme von Eve Arnold aus dem Jahre 1979. Ein quadratischer Tisch, auf den eine weiße Decke gelegt wurde, die bis auf den Boden reicht. Auf dem Tisch ein Hocker, der mit einem durchsichtigen Spitzendeckchen geschmückt ist und darauf ein Fernsehapparat. An der Wand daneben ein Schriftzug. Leider wird uns nicht gesagt, was er bedeutet. "Dem Volke dienen" stelle ich mir vor.

Lu Nan, Junge nach dem Mahlen von Tsampa in einer Mühle, Shigatse, Tibet, 2002


Ich sollte, fällt mir jetzt ein, jemanden fragen. Das werde ich tun. Aber es gibt in dem Band auch Aufnahmen, die ich jetzt erst beachte. Lu Nan wurde 1993 zum ersten Magnum-Korrespondenten in der Volksrepublik China ernannt. Der freie Fotograf veröffentlichte seine Arbeiten zunächst unter Pseudonym. Es waren große Zyklen über psychiatrische Patienten, Katholiken und tibetanische Bauern. Er suchte Untergrundkirchen auf und fotografierte Gläubige und ihre Riten. Man sollte Liao Yiwus Reise durch das verborgene christliche China "Gott ist rot" (S. Fischer Verlag) hinzuziehen. Es stimmt nämlich nicht, dass ein Bild mehr sagt als hundert Worte. Lu Nans Reportagen sind Anfang November bei Gost Books in dem 400 Seiten umfassenden Band "Trilogy" erschienen. Ich kenn ihn nicht, habe ihn mir aber jetzt bestellt. In den neunziger Jahren zogen offenbar eine ganze Reihe junger Leute durch China, um das Land zu erkunden, in dem sie aufgewachsen waren und das offenbar nicht bereit war, sie ihren Weg gehen zu lassen. Das war deutlich geworden, als am 3. und 4. Juni 1989 die Panzer des Regimes den Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens niederwälzten.

Der Bildband ist natürlich auch eine Dokumentation des radikalen Wandels der Volksrepublik in den vergangenen Jahrzehnten. Die knallige Farbigkeit des heutigen Chinas steht in einem unübersehbaren Kontrast zur schwarz-weißen Melancholie der frühen Aufnahmen. Dass die Moderne nicht so allbeherrschend ist, wie wir es uns gerne vorstellen, zeigen die Bilder, die Chris Steele-Perkins 2015 aus Yunnan mitbrachte. Das Wohnzimmer des Aushilfslehrers Sha Er Bu, der der ethnischen Minderheit der Yi angehört ähnelt denen von vor vierzig Jahren zum verwechseln.

Neben Lu Nans Aufnahmen nehmen sich die von Yan Wang Preston harmlos aus. "Mother River" heißt ihre Serie über den 6211 Kilometer langen Yangtse. Alle einhundert Kilometer ein Foto. Genau alle einhundert Kilometer. Also egal wo das ist, egal wie schwierig es ist, hinzukommen. Das ist ein Riesenspaß für den Fotografen und sein Team. Es ist auch eine große Erfahrung für den Betrachter der Fotos: Es dauert 500 Kilometer, bis man raus aus dem Schnee ist. Die Universität von Plymouth hat ihr im Juli dafür den Doktortitel verliehen. Manchmal ist der Yangtse nur im Hintergrund zu sehen, während man vorne einem Billardspieler zusieht (2000 Kilometer von der Quelle entfernt). Ein andermal sieht man statt des Flusses eine Straße (1800 Kilometer von der Quelle entfernt) oder auch nur Innenräume, die irgendwo sein könnten (1900 Kilometer oder 3500 Kilometer von der Quelle entfernt). Aber sonst fast immer große Landschaftsbilder - Berge, zwischen denen der Fluss sich ein schmales tiefes Bett gegraben hat oder aber, 5000 Kilometer von der Quelle entfernt, so breit, dass man das Ufer gegenüber gerade noch sieht. Aber es gibt auch weiße Seiten. Das sind die Stellen, die auch bei größter Anstrengung - sieben Stunden Trekking - nicht zu erreichen waren. Das alles ist schwierig und schön, aber nicht verboten. Lu Nans Aufnahmen sind all das und verboten.

Magnum China, hrsg. von Colin Pantall und Zheng Ziyu. Mit weiteren Texten von Jonathan Fenby. Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek. Schirmer/Mosel, 376 Seiten, 364 Abb. in Farbe und Duotone. Format: 24,5 x 29,5 cm, gebunden, 49,80 Euro.

Yan Wang Preston: Mother River, Hatje Cantz, hrsg von Nadine Barth, Vorwort von Jem Southam, ein Text von Liz Wells, Englisch, 160 Seiten, 71 farbige Abbildungen, 58 Euro.


Stichwörter