Bücher der Saison

Sachbuch Wissenschaft

26.11.2013. Im vierten Teil der Bücher der Saison stellen wir neue Biografien vor, Geschichte über den Ersten Weltkrieg und den Eisernen Vorhang, eine Globalisierungsgeschichte der Viren und das große Orchester der Tiere.
Romane und Erzählungen / Lyrik, Essays etc. / Politische Bücher / Sachbuch Wissenschaft / Sachbuch Kultur

Biografien

Kaum zu glauben, dass Clarice Lispector hierzulande so gut wie unbekannt ist. In Brasilien genießt sie sowohl als Schriftstellerin wie auch als Symbolfigur im Kampf gegen die Militärdiktatur kultische Verehrung. Benjamin Mosers Biografie "Clarice Lispector" () erzählt die beeindruckende Lebensgeschichte dieser Frau: 1920 wird sie in der Ukraine geboren, ihre jüdischen Eltern entfliehen Hunger und Bürgerkrieg ins brasilianische Recife, um dort sehr bald an Krankheit und Not zu sterben. Clarice Lispector studiert Jura, wird Journalistin und veröffentlicht mit 23 Jahre ihren - jetzt neu ins Deutsche übersetzten - ersten Roman "Nahe dem wilden Herzen" (). In einem sehr schönen Essay in der Welt erinnert sich Annett Gröschner an die universitären "Gottesdienste" in Paris Anfang der neunziger Jahre, in denen Clarice Lispector als eine der Hauptheiligen der feministischen Literatur verehrt wurde. Und sie zitiert Hélène Cixous: "Clarice lässt uns das stille Atmen einer Rose erleben." In der FR verfällt Christian Thomas Lispectors Magie, ihrer Fantasie und ihrem "lebhaften Innenlebewesen".

Am 7. November wäre Albert Camus hundert Jahre alt geworden. Von den neuen Biografien hat Iris Radischs Camus-Biografie "Camus. Das Ideal der Einfachheit" () am meisten Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Anhand Camus" zentraler Begriffe - Mutter, Meer, Schmerz, Elend, Ehre, Mensch - folgt sie Leben und Werk des großen Philosophen und Literaturnobelpreisträgers, wobei sie ihn weniger den Mandarinen von Paris zuordnet als einem "mittelmeerischen Denken", wie etwa Ulrike Westhoff im Deutschlandfunk erklärt und Radisch zitiert: "Das Gefühl des Absurden wurde in der Nacht geboren, in der für den lungenkranken Oberschüler in Algier die Welt zerfiel." In der FAZ lobt Jochen Schimmang Empathie und Klugheit der Autorin, in der taz bewundert Doris Akrap die Eleganz des Buches. Hingewiesen sei auch auf Martin Meyers akribische Werkbiografie "Albert Camus" beim Verlag, ) und auf Michel Onfrays Biografie "Im Namen der Freiheit" beim Verlag, ), die Camus vor allem auch gegen seine ewigen Widersacher Jean-Paul Sartre und Bernard-Henri Lévy verteidigt. Einen ausgezeichneten Einblick in die unterschiedlichen Schwerpunkte der drei Biografien bekommt man mit Wolfgang Schneiders großer Rezension in der Welt.

Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie beim Verlag,haben wir schon im Bücherbrief vorgestellt. Als "Hausbuch der Gebildeten" empfahl sie Lorenz Jäger in der FAZ, als gelehrtes, zitatreiches und anschauliches Porträt lobte sie Gustav Seibt in der SZ. In der taz vermisste Eberhard Geisler allerdings die philosophische Eigenleistung. Freundlich aufgenommen wurde der erste Band von Volker Ullrichs voluminöser Hitler-Biografie beim Verlag,So richtig Neues haben die Rezensenten zwar nicht darin gefunden, aber sie finden sie lebendig geschrieben und über weite Strecken "glänzend gelungen" in dem Versuch, Hitler als Menschen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft zu beschreiben.

Ebenfalls gut besprochen wurden Hellmut Flashars Biografie des "Aristoteles" beim Verlag,die sich ausdrücklich an einen breiten Leserkreis wendet, und Masha Gessens "Der Beweis des Jahrhunderts" die Geschichte des russischen Mathematikers Grigori Perelman, der eines der größten Rätsel der Mathematik, die Poincaré-Vermutung, löste.


Geschichte

Christopher Clark schildert in "Die Schlafwandler" beim Verlag,auf 800 Seiten, wie die Welt in den Jahren vor 1914 in den tiefsten Schlammassel geriet. Man lernt, dass die antiquierte Regierungsform der Monarchie der rasanten Modernisierung von Technik und Medien nicht mehr gewachsen war. Man lernt auch, dass die Kriegstreiber nicht allein in Deutschland saßen - Frankreich, Serbien, Russland, Großbritannien hatten ebenfalls eine erhebliche Aggressivität zu bieten. Für die meisten Rezensenten ist dies das Sachbuch des Jahres. Nur Volker Ullrich fand in der Zeit, dass Deutschland zu positiv abschneide. Clark endet vor dem Ersten Weltkrieg, Adam Hochschild begibt sich mit "Der große Krieg" beim Perlentaucher,mitten hinein. Er erzählt sozusagen den zweiten Akt, den "Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg". Man trifft zum Teil die Protagonisten aus Clarks Vorgeschichte wieder, und die Frage ist im Grunde dieselbe: "Gelingt es uns, die Wiederholung dieser Geschichte zu vermeiden?" Allerdings warnt Gerd Krumeich in der FAZ: Das Buch sei doch sehr aus der britischen Perspektive geschreiben und lese sich zuweilen wie eine Episode aus dem Drama "Untergang des Empires" und nicht des "alten Europa". Lässt man sich darauf ein, wird es laut Krumeich allerdings fesselnd. In der SZ zeigt sich Stephan Speicher hoch beeindruckt von der Erzählkunst Hochschilds.

Einige Bücher der Saison widmen sich der Vergangenheit des Kommunismus, am bedeutendsten vielleicht Anne Applebaums umfangreiche Studie "Der Eiserne Vorhang" beim Verlag,die die Gleichschaltung der osteuropäischen Länder durch die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht. NZZ-Rezensent Ulrich M. Schmid wirft der Autorin allerdings vor, sich zu sehr auf die drei Länder Polen, Ungarn und die DDR zu beschränken. Seltsamerweise widerspricht er sogar ihrer These, die kommunistischen Regimes hätten keine demokratische Legitimation gehabt. Dennoch lobt er auch die gewissenhafte Recherche und betont, dass das Thema selten umfassend behandelt worden sei. Als weitere Auseinandersetzung mit dem Kommunismus empfiehlt Regina Mönch in der FAZ Rudolf Hamburgers Gulag-Erinnerungen "Zehn Jahre Lager" beim Verlag,die erst jetzt publiziert werden: Berührt hat sie gerade die Schnörkellosigkeit der Schlderung. Hamburger hat seine Gulag-Zeit in zweiter Karriere als Stadtplaner in der DDR jahrelang geheimgehalten. Sehr empfohlen wird von FAZ, Zeit und taz schleßlich Stefan Wolles Schilderung von "Alltag und Herrschaft in der DDR 1949 bis 1961" in "Der große Plan" die nach übereinstimmendem Urteil der Rezensenten die frühe Zeit der DDR besonders anschaulich macht.

Abschließend Gustav Seibts Lob für Carlo Ginzburgs Position in "Faden und Fährten" (), der sich gegen die Tendenz der Postmoderne zum Erzählerischen wendet - zumindest wenn sie auf Kosten des Wahrheitsanspruchs geht. Seibt sieht es genau so: Wer Wahrheit verwirft, wie sie etwa in der juristischen Tradition durch zwei unabhängige Zeugen begründet wird, redet dem Recht des Stärkeren das Wort.


Philosophie/Religion

Auf Kurt Flaschs großen Essay "Warum ich kein Christ bin" haben die Zeitungen erstaunlich ähnlich reagiert: Sie haben Fromme auf den Unfrommen antworten lassen. In der NZZ schrieb der berühmte Theologe Friedrich Wilhelm Graf, die SZ bat den Pastor Johann Hinrich Claussen zu Wort, in der Zeit dachte der Linkskatholik Otto Kallscheuer über das Buch nach, die FAZ bat gar Hans Maier, den ehemaligen bayerischen Kultusminister und Vorsitzenden des Zentralrats der Katholiken zur Kritik. Nur in der taz schrieb der fröhliche Atheist Ulrich Gutmair und konnte Flaschs Ausführungen nur zustimmen. Wohltuend sei die Lektüre vor allem angesichts eines wieder modisch gewordenen Christentums, dessen laue Gefühlsfrömmigkeit Flasch in seinem Buch gerade auseinandernimmt. Es versteht sich von selbst, dass die Herren Theologen reservierter zur Sache gingen. Die Kritik Hans Maiers liest sich gar so, als fände er es absurd, dass Flasch die Bibel ohne die Hilfe eines kundigen Kirchenmann verstehen können will.

Weitere viel besprochene Neuerscheinungen aus diesem Feld: Peter Bieri (alias Pascal Mercier) denkt in "Eine Art zu leben" über den Begriff der Würde nach und erntet dafür überall respektvolle Besprechungen. Und dann ist da noch Thomas Nagel, der in "Geist und Kosmos" zu erklären versucht, "warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist". Das Buch hat in den USA eine riesige Debatte ausgelöst, die in den deutschen Kritiken nachzittert, ohne dass der unkundige Leser genau versteht, worum es geht: Nagel kritisiert das darwinistische Weltbild, so heißt es, ohne die Evolution in Frage stellen zu wollen. Keine Kulturzeitschrift, die auf sich hält, hat das Buch in den USA ausgelassen. Wer nachlesen will, kann das hier in der New York Review of Books tun und hier in the Nation und hier in der Boston Review und hier in Prospect und hier im Chronicle oder hier im New Yorker.


Naturwissenschaften

Philip Hoares "Leviathan oder Der Wal" hat Kritiker in FAZ, SZ und Zeit zu Hymnen hingerissen. Nur bei Hannes Hintermeier in der FAZ klingt zuweilen eine gewisse Klage über den obsessiven und sehr persönlich schreibenden Autor durch. Harald Eggebrecht hat sich für die SZ furchtlos in diesen maßlosen Essay gestürzt: Und er hat über die Massenschlachtungen der Meeresriesen gelesen, über den intensiven Geruch unter Deck historischer Walfänger, kochenden Blubber und die Schwimmkünste der Wale, ist dem Autor nach Nantucket und ins London Natural History Museum gefolgt, hat Melville und Hawthorn in eindringlichen Porträts geschaut, eine Sozialgeschichte über Mensch und Wal sowie einen spannenden Roman gelesen nach bester angelsächsischer non-fiction-Manier. Alexander Cammann in der Zeit ist ebenfalls rückhaltlos begeistert.

Nichts ist älter als die stets als aktuell beklagte Globalisierung. Charles C. Mann wirft in seinem Buch "Kolumbus" Erbe" ein ganz neues Licht auf die Revolutionen, die von der Entdeckung der Neuen Welt ausgelöst wurden - und die alle Erdteile betrafen, Europa ebenso wie Amerika und Asien. Fasziniert liest Harald Eggebrecht dieses Buch in der SZ. Er erfährt, wie neben unzähligen Insekten, Bakterien und Viren etwa der Mais nach Asien, die Süßkartoffel nach Ostasien oder Pferde und Äpfel nach Amerika gelangten oder wie unter den schlimmsten Bedingungen getrockneter Kot von Kormoranen und Pelikanen als Dünger von Südamerika nach Europa transportiert wurde. Das Buch wird trotz seiner 800 Seiten nie langweilig, versichert auch Thomas Weber in der FAZ. Eine Globalisierung ähnlicher Art beschreibt der Reporter David Quammen in "Spillover" beim Verlag,: Es geht um Seuchen, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können. Im Dradio Kultur bewundert Volkart Wildermuth die umfassenden Informationen, die Quammen zusammenträgt und gut lesbar aufbereitet: Der Autor "begleitet dazu Forscher bei ihrer täglichen Arbeit. Im Regenwald beobachtet er, wie man frischen Schimpansen-Urin auffängt. Er hilft in engen Höhlen voller Schlangen beim Fangen von Flughunden, stellt Affenfallen in Tempeln auf und blickt den Wissenschaftlern anschließend im Hochsicherheitslabor über die Schulter." Das Ergebnis ist ein atmosphärisch detaillierter, doch exakter Wissenschaftsthriller, den FAZ-Rezensentin Christina Hucklenbroich mit Gänsehaut gelesen hat. Auch Tagesspiegel-Rezensentin Jana Schlütter spricht von einem Krimi.

Bernie Krause hat einst Komposition studiert und später in der großen Zeit des Pop mit Bands wie den Doors und den Byrds und als Gitarrist gearbeitet. Schließlich ließ er das alles liegen und sammelt seit nun vierzig Jahren Tierstimmen, immer auf der Suche nach dem Ursprung der Musik. Das Ergebnis stellt er jetzt in "Das große Orchester der Tiere" vor. Gesammelt hat er in Dschungeln, in Wüsten und unter Wasser. Er konstatiert, dass durch die Umweltzerstörung auch die Stimmenvielfalt versiegt. Und findet sie ausgerechnet im menschenverlassenen Tschernobyl wieder. Mit Betroffenheit haben Andrian Kreye in der SZ und Wolfram Goertz in der Zeit die akustischen Verwüstungen zur Kenntnis genommen - aber das , so versichern sie, sei auch ungeheuer lehrreich und motivierend: Jeder Ort der Welt, so Goertz, habe seine eigene eigentümliche Klangwelt, seine Geofonie.

Romane und Erzählungen / Lyrik, Essays etc. / Politische Bücher / Sachbuch Wissenschaft / Sachbuch Kultur