Efeu - Die Kulturrundschau

Wozu braucht die Frau einen Kopf?

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17.10.2018. Die SZ berichtet vom heute beginnenden Moskauer Prozess gegen die Theatermacher Kirill Serebrennikow, Alexej Malobrodskij, Jurij Itin und Sofia Apfelbaum. Die taz bewundert in der Kunsthalle Mannheim die Ingenieure der schönen neuen Welt. Der Standard freut sich, dass Egon Schiele seinen nackten Frauenfiguren immerhin einen eigenen Blick ließ. Ebenfalls im Standard spricht Eva Sangiorgi über ihre Pläne für die Viennale. Und in der NZZ stellt sich Maxim Loskutoff seinem inneren Bären.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.10.2018 finden Sie hier

Bühne

In der SZ trifft Julian Hans den russischen Theatermacher Alexej Malobrodskij, dem ab heute in Moskau der Prozess gemacht wird, zusammen mit Kirill Serebrennikow, Jurij Itin und Sofia Apfelbaum. Die Anklagen sind skurril, Unterschlagung wird ihnen vorgeworfen: So sollen sie etwa den "Sommernachtstraum" nie als Theaterstück produziert haben, obwohl es noch immer zu sehen ist. "Während der fast einjährigen Untersuchungshaft hatte er viel Zeit, darüber nachzugrübeln, wie er und seine Kollegen in die Mühlen des russischen Justiz- und Strafsystems geraten sind. Er erklärt es sich so, dass irgendjemand das Kommando 'Fass!' gegeben hat, aus Eigennutz oder aus Kränkung. Dann beginnt das System zu arbeiten, die Untergebenen erfüllen ihre Aufgaben ohne moralische Hemmungen." Eines fällt Hans noch ein: "Dazu kommt, dass alle vier Angeklagten Juden sind."

In der FAZ umreißt Elena Witzeck, wie jetzt auch an deutschen Bühnen um Vielfalt und Repräsentanz diskutiert wird. Unter anderem zitiert sie die Regisseurin Anta Helena Recke: "'Wir kommen nicht weiter, wenn Türken nur von Türken und Schwarze nur von Schwarzen dargestellt werden', sagt sie. Wichtiger sei es, Sehgewohnheiten zu durchbrechen.

Weiteres: In der Berliner Zeitung fordert Petra Kohse eine Erhöhung der Einstiegsgehälter für SchauspielerInnen, wie es das Theater Dortmund gerade vorgemacht hat. Tagesspiegel-Autor Frédéric Döhl möchte mehr Broadway-Musicals auf deutschen Bühnen sehen.
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Kunst

Thierry Geoffroy / Colonel: Is Art the Last Bastion for Uprise, Venice 2015-2017

Überwältigend findet Christian Hillengass die große Schau "Konstruktion der Welt" in der Kunsthalle Mannheim, die Kunst und Ökonomie der Jahre 1919 bis 1939 und 2008 bis 2018 in den Blick nimmt und damit an die bahnbrechende Mannheimer Ausstellung "Neue Sachlichkeit" von 1925 anknüpft. Den ersten Teil findet Hillengass besonders stark: "Da wanken etwa Juri Pimenows gespenstische Kriegsinvaliden, in Karl Hubbuchs Lithographien flackern irre Räusche und menschliche Schattenseiten auf und Otto Dix' Streichholzhändler sitzt hilflos in der Gosse. Oskar Nerlinger feiert dagegen die moderne Stadt mit Funkturm und Hochbahn durch saubere Linien und eleganten Schwung, wie es auch Berenice Abbotts Fotografien von den Konstruktionen der neuen Hochbauten tun. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche war durch die rasante Entwicklung der Technik mächtig vorangeschritten, die Faszination daran ergriff auch die Künstler. Ingenieuren gleich konstruieren sie ihre Bilder - so, als bauten sie mit an der schönen neuen Welt."


Sarah Lucas: "Tracey", 2018 und Egon Schiele: "Kauernder Mädchenakt", 1914. Bilder: Leopold-Museum, Wien

Laut lachen musste Standard-Kritiker Roman Gerold in der Schau "reloaded", mit der das Wiener Leopold-Museum zum hundertsten Todestag Egon Schiele würdigt: Sie stellt den Bildern des Expressionisten feministische Gegenwartskunst gegenüber beziehungsweise an die Seite: "Inmitten von Akten Schieles sitzt da eine Frauenfigur mit wurstförmigen Gliedmaßen, die eigentlich ausgestopfte Nylonstrumpfhosen sind. Statt eines Kopfes wachsen der Guten Hasenohren, die sich in ihrer schlauchigen Form nur unwesentlich von den üppig vorspringenden Brüsten unterscheiden... 'Bunnies' nennt Sarah Lucas diese Objekte. Sie sind eines ihrer Markenzeichen und angetan, den männlich-objektivierenden Blick auf die Weiblichkeit unzweideutig anzuklagen. Wozu braucht die Frau einen Kopf? Was ist die Frau mehr als ein Teil des Mobiliars? Im kuriosen Zusammenspiel mit Schieles Akten lenkt so ein 'Häschen' den Blick zum Beispiel darauf, dass den Frauenfiguren des Expressionisten dann doch eine gewisse Kraft zur Selbstbehauptung innewohnt: Immerhin haben diese durchwegs einen Kopf und können den Blick des Betrachters erwidern."

Besprochen werden die Ausstellung "Anschluss" der Wiener Künstlerin Tatiana Lecomte, die im Lentos in Linz Methoden der Erinnerungsarbeit erkundet (Standard), die Klimt-Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (SZ), die Ausstellung "Amour" zur Kulturgeschichte der Liebe im Louvre-Lens (FAZ), Birgit Klebers Fotoporträts in der Kommunalen Galerie Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

Literaten in der Wildnis: Eher aufregungsarm geht es in Stefanie del Velascos von der FAS online nachgereichtem Bericht von der Trüffelsuche zu, von der sie sich Inspirationen für einen Roman erhoffte, "eine Art psychosomatischen Gewinn fürs Schreiben, ein tieferes Eintauchen in das, was mich beim Schreiben suchen lässt." Demgegenüber deutlich existenzieller fallen die Epiphanien aus, von denen (der auf Deutsch noch noch übersetzte Schriftsteller) Maxim Loskutoff in der NZZ berichtet: 2012 in Montana sah er sich unversehens von einem Bären zur Beute auserkoren und entdeckte darob das Tier in sich selbst. "Auf unserer trampelnden, überstürzten Flucht, irgendwo unter der wilden Panik, lag - daran erinnere ich mich - ein spürbarer, pikanter Kitzel. Nicht von der suizidalen Art (ich war zu verängstigt, um auch nur den Kopf zu drehen, und ganz sicher hatte ich keine Lust, die Zähne der Bärin im Nacken zu spüren), sondern eher im Sinn eines Perspektivwechsels. ... Etwas von der Erfahrung mit dem Bären ist in mir geblieben, ein Geschenk dieses Augenblicks aus purem Schrecken. Es ist das Wissen um mein tierisches Selbst. Diese instinktgetriebene, verängstigte, klarsichtige Kreatur unter meinen Kleidern. Und es ist das beruhigende Gefühl, Teil der natürlichen Welt zu sein, und nicht von ihr abgespalten, wie wir es so oft empfinden."

Weitere Artikel: In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Lyriker Les Murray zum 80. Geburtstag. Außerdem: Der Man-Booker-Preis geht in diesem Jahr an Anna Burns für ihren Roman "Milkman", meldet unter anderem ZeitOnline.

Besprochen werden unter anderem "Erinnerungen eines Mädchens" von Annie Ernaux (NZZ), Isak Samokovlijas "Der Jude, der am Sabbat nicht betet" (SZ) und Bergsveinn Birgissons "Die Landschaft hat immer recht" (FAZ).
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Film

Dominik Kamalzadeh erkundigt sich für den Standard bei Eva Sangiorgi nach ihrer Arbeit als neue Leiterin der Viennale. Die verspricht nach dem überraschenden Tod des bisherigen Leiters Hans Hurch zwar durchaus Kontinuität, die sich viele gewünscht hatten, will sich die Arbeit an dem Festival allerdings auch nicht verbieten lassen. "'Eine meiner ersten Änderungen war es auch, die Programmkonsulenten auszutauschen', sagt Sangiorgi. Für das nächste Jahr plant sie überdies, ein Gremium zu installieren, das ihr bei der Auswahl behilflich ist. Der Mythos des Festivaldirektors als einziger Instanz bekommt mithin erste - durchaus berechtigte - Kratzer."

Weitere Artikel: Übermedien hat Matthias Dells großes Interview mit Rainer Bock online freigeschaltet, in dem der Schauspieler von seinen Erfahrungen beim Dreh der US-Erfolgsserie "Better Call Saul" berichtet. Ein neues Filmfördergesetz bereitet israelischen Filmemachern Sorge, berichtet Alexandra Föderl-Schmid in der SZ. Für ZeitOnline spricht Carolin Würfel mit der Schauspielerin Florence Kasumba, die ab Freitag in der zweiten Staffel von "Deutschland 86" zu sehen ist. In der taz empfiehlt Alicja Schindler Filme aus dem DokuArts-Festival im Berliner Zeughauskino.

Besprochen werden Matteo Garrones "Dogman" (Welt, FAZ), Gustav Möllers "The Guilty" (SZ) und Sönke Wortmanns "Der Vorname" (Welt).
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Musik

"Vergesst das 'Köln Concert'", ruft es uns aus ZeitOnline entgegen: Wer Keith Jarrett wirklich auf der Höhe seiner Kunst hören möchte, sollte zu seinem in Venedig bereits 2006 gespielten Konzert "La Fenice" greifen, das jetzt veröffentlicht wurde, rät Reinhard Köchl. Zu hören ist hier eine der "balanciertesten, reifsten, komplettesten, mithin nachhaltigsten Aufnahmen" aus Jarretts Schaffen. "Zu erleben gibt es hier den kompletten Jarrett. Den Wankelmütigen, den Forscher, den Aggressiven, den atonalen Brandstifter, den schwelgenden Balladenträumer, den grinsenden Tapdancer, den rasenden Bebopflitzer, den störrischen Akkordstanzer, den Jongleur des Banalen." Eine Hörprobe:



Der Spex-Schock (siehe Efeu von gestern) hält an: Der Tod der einst den Ton angebenden Zeitschrift macht dieses Jahr endgültig zum annus horribilis, klagt Julian Weber in der taz: Fortan gebe es "keine unabhängige Plattform mehr, auf der Experten einen Rundumüberblick zu visionärer neuer Musik und talentierten KünstlerInnen geben können", auch wenn es, wie Weber einräumt, verstreut weiterhin guten Popjournalismus gibt. "Was jedoch mit dem Ende von Spex aufhört, ist automatische Meinungsführerschaft beim Setzen von Hot Topics. Das wird in Zukunft unübersichtlicher werden, und es macht das Eintreten für die Sache des Pop nicht leichter." Klaus Raab wundert sich im Freitag, dass es das Blatt angesichts des mittlerweile weit fortgeschrittenen Medienwandels überhaupt bis ins Jahr 2018 geschafft hat.

Galliger liest sich Ronald Pohls Nachruf im Standard: In den letzten Jahren "blieb die Zeitschrift immer häufiger die Antwort auf die Frage schuldig, warum man sie lesen sollte. ...  Die ergrauten Kinder der Widerstandskultur erfreuen sich anhand von Acht-CD-Boxen ihrer Kenntnis von 'Pet Sounds' oder 'London Calling'. Die jungen Spotify-User aber können auf die Prosa irgendwelcher 'Gatekeeper' getrost verzichten."

Besprochen werden ein Auftritt von Christine & the Queens (taz), ein Konzert der Fehlfarben (FR), das neue Album der Saxofonistin Nicole Johänntgen (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter eine neue EP von Moaning Lisa, die auf den von Team Dresch in den 90ern geschlagenen Riot-Grrl-Pfaden wandeln (SZ).

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