Efeu - Die Kulturrundschau

Rumpeln und rollen in höchster Präzision

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30.07.2021. Farbe und Gesang - reicht völlig für Wagner, findet die taz in Hermann Nitschs Bayreuther "Walküre"-Performance. Die FAZ ist beeindruckt von Sergej Newskis Doku-Oper "Die Einfachen" über Homosexualität in der frühen Sowjetunion. Außerdem hat sie noch ein Hühnchen zu rupfen mit Salzburgs Intendant Markus Hinterhäuser. Die Welt freut sich über die Wiederauferstehung der Cahiers du Cinema. Die Zeit denkt über nackte Männerbeine nach. Die Literaturkritiker trauern um den italienischen Verleger und Schriftsteller Roberto Calasso, die Musikkritiker um den ZZ Top-Bassisten Dusty Hill.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.07.2021 finden Sie hier

Bühne

Die Walküre als Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Foto: Enrico Nawrath/BR


Regine Müller hat für die taz in Bayreuth Hermann Nitschs "Walküre"-Performance beobachtet. Während zehn Maler zu den Wagnerklängen Farbe über Bildleinwände gießen, stehen die Sänger in schwarzen Kutten am Bühnenrand und bleiben "oratorisch". "Die Maler*innen arbeiten, so heißt es, mit Knopf im Ohr und folgen, mit gewissen Freiräumen der Improvisation, Nitschs minutiösen Anweisungen, der offenbar so etwas wie eine Farbpartitur entworfen hat. Brünnhildes Todesverkündung wird vorbereitet mit einem Schwall in Mintgrün, dann folgen Flieder und Gelb, keineswegs plattes Schwarz. Je mehr das Auge sich an den Farbrausch und seine eigenwillige Dramaturgie gewöhnt, desto interessanter wird es. Tatsächlich geschieht ja nichts auf der Bühne, außer dass sich in jeder Sekunde Farbe bewegt, rinnt, tropft und spritzt und neue Farbe die alte überlagert. Die äußere Handlung von Wagners Musiktheater gerät dadurch vollständig aus dem Blick, das Geschehen wendet sich vielmehr nach innen, lauscht auf die Zustände, das Fließen der inneren Emotionsströme. Am Ende vermisst man fast nichts und schon gar keine schlechte Regie."

Sergej Newskis Doku-Oper "Die Einfachen" über Homosexualität in der frühen Sowjetunion basiert auf Aufzeichnungen des Psychiaters, Gehirn- und Reflexforschers Wladimir Bechterew (1857 bis 1927). Kerstin Holm hat für die FAZ eine eindrucksvolle Inszenierung am Theaterhaus Stuttgart besucht, wo die Oper in einer Rondoform dargeboten wurde: "Als symbolischer Adressat der poetischen Polyphonie sitzt der bärtige Bariton Guillermo Anzorena in der Mitte und stützt das Ensemble mit einer Bassvokalise. Chromatisch modulierend und polymetrisch miteinander verzahnt, finden die Stimmen zu einer Art Choral zusammen, der das Unverstandensein, die ständige Angst vor den eigenen Gefühlen besingt, während Videoanimationen wildwuchernde Blüten im leeren Kosmos schweben lassen. Schließlich mischen sich die Gesichter der Sänger mit denen der Schauspieler, und eine Briefpassage von Poljakow, worin er die Normalität der Homosexualität verteidigt und ihre Legalisierung prophezeit, erklingt". (Schade nur, dass das Theaterhaus Stuttgart zu der Produktion nicht ein Fitzelchen Information anzubieten hat.)

In der FAZ hat Jürgen Kesting immer noch Bauchschmerzen von der "Don Giovanni"-Inszenierung in Salzburg, die vom Publikum gefeiert wurde - was wohl auch das wichtigste Anliegen von Intendant Markus Hinterhäuser war. Aber Kesting stößt doch ein Widerspruch auf: "Dass die Ära des dirigentischen Absolutismus aus dem Geist der human-demokratischen Nivellierung als Inkarnation von Macht beendet ist, wird als Fortschritt gefeiert. Umso seltsamer, dass die Besucher des 'Don Giovanni' den schamlosen Ego-Trip des Dirigenten Teodor Currentzis feierten, der sich für die Wein-Arie mit seinem Orchester auf die Bühne hieven und sich im Flammen von Stroboskop-Blitzen als den wahren Protagonisten feiern ließ."

Besprochen werden noch Choreografien von Dada Masilo und Jérôme Bel beim Wiener Impulstanz (Standard).
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Film

Groß war die Sorge vor einiger Zeit, als bekannt wurde, dass die altehrwürigen Cahiers Du Cinéma nach einem Besitzerwechsel unter dem Rendite-Druck zum kulinarischen Wohlfühlmagazin werden könnte. Die Redaktion kündigte aus Protest. Nun gibt Gerhard Midding in der Welt Entwarnung: Die neuen Ausgaben des Magazins unter dem neuen, strikt auf Unabhängigkeit pochenden Chefredakteur Marcos Uzal bieten Cinephilen Labsal. "Die Cahiers schließen ein neues Bündnis mit ihrem Publikum, in dem sie einen Spagat wagen zwischen Sehnsucht und aktueller Wirklichkeit", zudem kommt "die bisher vernachlässigte Filmgeschichte" spürbar mehr zu ihrem Recht. "Die letzten Ausgaben wirken nicht nur konzipiert, sondern nachgerade komponiert. ... Sie stellen unbeirrt die Frage, was das Kino in der Gegenwart sein kann."

Weitere Artikel: Für die SZ porträtiert Nadia Pantel den französischen Schauspieler Omar Sy.

Besprochen werden Dominik Molls "Die Verschwundene" (Perlentaucher), M. Night Shyamalans Horrorgroteske "Old", in der Menschen schlagartig altern ("Bei allem Quatsch ist immer wieder verblüffend, wie virtuos Shyamalan die Stilmittel der Verunsicherung beherrscht", meint Andreas Busche im Tagesspiegel), Xavier Dolans "Matthias & Maxime" (SZ, Freitag, mehr dazu bereits hier), David Lowerys "The Green Knight" (FAZ, Welt), Prano Bailey-Bonds Horrorfilm "Censor" (Tagesspiegel), David Schalkos neue Serie "Ich und die Anderen" (FAZ), die dänische Serie "Wenn die Stille einkehrt" (FAZ) und Byambasuren Davaas "Die Adern der Welt" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Design

Männer zeigen im Sommer auf der Straße nicht nur selbstverständlicher als früher Wade, sondern in jüngster Zeit sogar wagemutig viel Oberschenkel, stellt Hanno Rauterberg glossierend in der Zeit fest. Womöglich mag man "im öffentlich zur Schau getragenen Stachelbeerbein des Mannes ein Zeichen zunehmender Genderfluidität erblicken", doch vielleicht stellt das Mehr an blasser Haut oberhalb des Knies auch eine "aktualisierte Geste alter Unbeugsamkeit" dar. "Nichts kann ihm, dem Kurzbehosten, etwas anhaben, nicht die Kälte, nicht die bürgerliche Konvention, erst recht nicht der spöttelnde Blick auf sein Storchen- oder Säbelbein. Den wachsenden Zwängen der Gegenwart begegnet er mit dem Mut zur Offenlegung, lieber untenrum frei als gar keine Freiheit."

Besprochen wird die Ausstellung "Mode schauen. Fürstliche Garderobe vom 16. bis 18. Jahrhundert" im Schloss Ambras in Innsbruck (Standard).
Archiv: Design
Stichwörter: Männermode

Literatur

Kersten Knipp würdigt in der NZZ den verstorbenen italienischen Verleger und Schriftsteller Roberto Calasso als entdeckungsfreudigen Verleger, Kafka-Exegeten und wagemutigen Essayisten: "Die letzten Dinge, so kann man Calasso verstehen, lassen sich nicht lesen. Das entfaltet eine Unruhe, die ins Fundamentalistische oder Sektiererische führen kann - oder aber zu immer neuen philologischen Aufbrüchen, deren Summe dann ein Künstler- und Gelehrtenleben ausmacht, eine Existenz in Bewegung." Für Michael Krüger (FAZ) stellte Calasso "das intelligenteste" Verlagsprogramm zusammen, "das ohne Memoiren und anderen Schnickschnack auskommt. ... Für mich steht fest, dass er - der Gitanes-Raucher - auch im Himmel seine Arbeit fortführen wird, mit Borges als Chef-Lektor." Hier der Nachruf im Corriere della Sera.

Weitere Artikel: Das Comicfestival Thought Bubble hat den Comicautor Frank Miller nach einem Shitstorm wegen dessen anti-islamistischer Comicgroteske "Holy Terror" aus dem Jahr 2007 wieder ausgeladen, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel. Für die Dante-Reihe der FAZ wirft die Dichterin Maria Stepanova einen russischen Blick auf die "Commedia". In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Frank Trende an Carsten Niebuhrs Reise nach Bombay.

Besprochen werden unter anderem Friedrich Anis "Letzte Ehre" (Dlf Kultur), Sulaiman Addonias "Schweigen ist meine Muttersprache" (NZZ) und Annalena McAfees "Blütenschatten" (SZ).
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Kunst

Erik Kessels, 24HRS in Photos, 2013/2021 © Erik Kessels


Die Fotos auf unseren Handys und in den sozialen Medien sind an keinen Ort mehr gebunden. Versammelt man sie (oder eher eine Auswahl) an einem Platz, wie das c/o Berlin es in seiner Ausstellung "Send me an Image: From Postcards to Social Media" tut, braucht es ein Konzept, um der Masse zu begegnen. Im c/o Berlin hat das nur zum Teil geklappt, meint Andreas Kilb in der FAZ: "Eine Installation wie Marc Lees 'Corona TV Bot', in der Nachrichten aus Fernsehprogrammen und sozialen Netzwerken zur Pandemie zu einer virtuellen Live-Sendung gepuzzelt werden, erwischt nur einen Nebenarm dieses digitalen Stroms. Kompakter und schlüssiger erscheint ein Ansatz wie der von Tomas van Houtryve, der anhand von Instagram-Fotos von Bürgerkriegsflüchtlingen des Jahres 2015 deren Fluchtstationen rekonstruierte und mit eigenen Aufnahmen zu einer Landkarte der Migrationswelle zusammensetzte. Vor dem Hintergrund der Orte, die van Houtryve gefilmt hat, erscheinen die Instagram-Posts plötzlich nicht mehr beliebig, sondern als Teil einer individuellen Geschichte: Sie berichten von Schicksalen."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Kulturstaatsministerin Monika Grütters den Nachruf auf den Berliner Baum-Künstler Ben Wagin. In der FR berichtet Ingeborg Ruthe von den Vorbereitungen für Christos letzte Mission: die Verhüllung des Arc de Triomphe. Lange Diskussionen hat es gegeben über die Kunstsammlung des Schweizer Waffenhändlers Emil Bührle. Aber jetzt sind die 200 Bilder in den Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses eingezogen und ein 472 starker Katalog informiert über die Hintergründe der Sammlung, berichtet Philipp Meier in der NZZ.

Besprochen werden eine Ausstellung von Anna Meyer im Haus am Lützowplatz in Berlin (Tsp), Anna Ehrensteins Ausstellung "Tools for Convivialtity" im c/o Berlin (taz) und die Ausstellung "Park Platz", die auf dem Platz vor der Berlinischen Galerie der Kulturtechnik des Abhängens frönt, wie Tom Mustorph in der taz schreibt, die Ausstellung "Peter Piller - Richard Prince" in der Weserburg in Bremen (SZ) und die Ausstellung "Die Wahrheit von Michelangelo Pistoletto. vom Spiegel zum Dritten Paradies" im Museo Comunale d'Arte Moderna in Ascona (FAZ).
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Musik

Der Bassist Dusty Hill ist gestorben, der eine der beiden Rauschebärte des texanischen Bluesrock-Trios ZZ Top. So wirklich auf die Knie geht allerdings nur Michael Pilz in der Welt: "Niemand hat den Blues in C so staubtrocken und ungerührt, humorvoll und beherzt geshuffelt wie Joe Michael 'Dusty' Hill aus Dallas." Und die Band wurde "nie älter; sie waren schon immer alte Männer. Es gab keine Zeiten, zu denen ihre Musik nicht passte." Insbesondere seit den Achtzigern pflegte die Band ein "comicartiges Image", schreibt Gregor Kessler in der taz. Dadurch "waren ZZ Top über die Jahrzehnte immer irgendwie präsent, auch wenn es durchaus Zweifel an ihrem musikalischen Gewicht gab", merkt Karl Forster in der SZ an. "Ihre Erfolgsformel: strikter Minimalismus", schreibt Christian Schröder im Tagesspiegel. "ZZ-Top-Songs beruhen auf dem Bluesschema, sie rumpeln und rollen in höchster Präzision. Manchmal faucht ein kurzes Gitarrensolo dazwischen, manchmal heult eine Mundharmonika auf, gelegentlich wird die Grenze vom Texas Blues zum Hardrock überschritten." Ihrem klassisch-erdigen Sound der Siebziger entspricht der Song "Tush", ihr großer Gassenhauer aus den kommerziellen Achtzigern ist aber natürlich "Gimme All Your Lovin". Auch ein großer Spaß: das Abspannlied aus dem Zeitreise-Western "Zurück in die Zukunft 3" von 1990:



Weitere Artikel: Thomas Schacher berichtet in der NZZ vom Verbier-Festival, wo im Programm nach einigen Coronafällen unter den Musikern improvisiert werden muss. Jan Brachmann gratuliert in der FAZ Jordi Savall zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das aus alten Bootleg-Aufnahmen zusammengesetzte Can-Album "Live in Stuttgart 1975" (taz), das neue Album von Juana Molina (taz), Patricia Kopatchinskajas "Dies Irae"-Konzert bei den Salzburger Festspielen (SZ) und ein neues Album des Popproduzenten Jack Antonoff unter seinem Projektnamen Bleachers (Tagesspiegel). Ein Höreindruck:

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