Post aus Neapel

Der endgültige Abgesang

Von Gabriella Vitiello
23.02.2001. Luigi Pintor, einer der Gründungsväter des manifesto, verabschiedet sich von seinen Lesern. Der Grund: die Lektüre von Marco Revellis Buch "Jenseits des 20. Jahrhunderts", das "kohärenteste, antikommunistischste Buch, das ich je gelesen habe", bekannte Pintor.
Ich werde weiterhin schreiben, wie ich es seit Jahren mache, nur eben keine Leitartikel mehr, die einen zu stark beanspruchen.", vertröstete Luigi Pintor, einer der Gründungsväter des manifesto, seine Leser - und geht heimlich ins Kino und schaut sich "Hannibal" an.

Nach 30 Jahren verzichtet der Linksintellektuelle auf die erste Seite der kommunistischen Tageszeitung und verabschiedet sich mit einem Kommentar zum neuen Buch von Marco Revelli über das vergangene Jahrhundert: "Oltre il Novecento - La Politica, le ideologie, e le insidie del lavoro" (Jenseits des 20. Jahrhunderts - Die Politik, die Ideologien und die Tücken der Arbeit), soeben bei Einaudi erschienen, ist die schonungslose Analyse eines Jahrhunderts des Terrors, der Vernichtung und der Gewalt. In den Mittelpunkt seiner Kritik stellt Revelli die fatale Logik des homo faber, der nur lebt, um zu produzieren. Damit macht der Professor der Politikwissenschaften die Arbeit zum Feind des Jahrhunderts, diskreditiert aber auch Arbeiterschaft samt Arbeiterbewegung.

Luigi Pintor hat die Lektüre von "Oltre il Novecento" schwer zugesetzt. Der 75jährige "edle Vater der Linken", wie der Corriere della Sera den marxistischen Intellektuellen auch nennt, grenzt sich gleich mit der Überschrift seines Kommentars von der Position Revellis ab: statt Oltre, Dentro (innerhalb) il Novecento. Pintor sieht in Revellis Text "das kohärenteste, antikommunistischste Buch, das ich je gelesen habe", den gnadenlosen und endgültigen Abgesang auf den Kommunismus - und er lässt keinen Raum für Kompromisse: "Das wirklich Neue des Buches liegt in der Radikalität, mit der es, in Übereinstimmung mit dem allgemein üblichen Ansatz, den gesamten Kommunismus des 20. Jahrhunderts vom ersten bis zum letzten Stein niederreißt, ja sogar die Schutthaufen noch demoliert."

Paradoxerweise finde dieses "Duell der Linken" ausgerechnet auf der Titelseite von il manifesto statt, bemerkt der Corriere della Sera, und erklärt den nicht Eingeweihten, dass unter der Kopfzeile doch der anspruchsvolle Zusatz "kommunistische Tageszeitung" geschrieben stehe. Das Paradox im Paradox ist für das konservative Blatt die Tatsache, dass nicht nur Pintor seit Jahren für il manifesto schreibt, sondern auch der jüngere und keineswegs zu den Revisionisten übergelaufene Revelli, der Autor des umstrittenen Buches, das bereits vor einer Woche gleich zweimal in il manifesto besprochen wurde.

Geradezu wohlwollend übernimmt jetzt der Corriere die Regie, analysiert Revellis Studie, trägt kritische Stimmen zusammen und interviewt, fast schon besorgt, Pintor zu seinem plötzlichen Rückzug von der ersten auf die mittleren Zeitungsseiten. Der will aber weder persönliche Gründe als Erklärung gelten lassen, noch befürchtet er, seine Artikel könnten als politische Meinung der Zeitung missverstanden werden. Er empfindet auch keine Verbitterung darüber, dass sich kürzlich niemand für seinen Vorschlag einer Föderation, die den linken Flügel der Linken stärken sollte, interessierte und formuliert sein neues professionelles Profil: "Sagen wir es so, eine andere journalistische Verortung. Eine technische Angelegenheit. Im Sinne einer andersartigen Zuordnung der Artikel, die so nicht mehr jene Bedeutung erhalten?" Besteht am Ende doch ein Zusammenhang zwischen "Hannibal" und homo faber?

Der Corriere nennt "Oltre il Novecento" ein für Leser und Autor gleichermaßen schmerzhaftes Buch, eine "Reise zu den Abgründen des Jahrhunderts" und betont mit etwas Dramatik die kritische (jugendliche) Haltung Revellis. "'Oltre il Novecento' ist das erbarmunglose Buch eines Menschen, der in die Tiefe gräbt, die blutigen Fetzen der Geschichte des Jahrhunderts neu betrachtet, dabei keine einzige Gräueltat des Kommunismus auslässt, den jedoch nichts verbindet mit jenen Konvertiten, den Verrätern, die um Verzeihung für ihre Vergangenheit bitten". Diese Haltung einer "intelligenten Linken", die die eigenen Mythen in Frage stellt und mit der Vergangenheit abrechnet, habe bereits Claudio Magris vor genau 16 Jahren so treffend in einem Artikel des - genau, wo auch sonst - Corriere bildlich umschrieben: Maria Magdalena, die öffentliche Sünderin, hat sich zum Glauben bekannt und wurde eine Heilige, aber sie hat nicht den Rest ihres Lebens damit verbracht, "schlecht über ihre ehemaligen Kolleginnen zu sprechen."

Wobei, in Pintors Augen, Revelli genau das macht - obwohl er immer noch ein radikaler Linker ist: "Er trifft die Erfahrung der Arbeiterbewegung mitten ins Herz".

Revelli geht bei seiner 286-seitigen Analyse der letzten 100 Jahre nicht systematisch vor, sondern greift drei Beispiele heraus, um das Jahrhundert der Widersprüche, Gegensätze und Oxymora zu charakaterisieren: den Kommunismus, Auschwitz, Hiroshima.

Rückblickend sieht Revelli in dem hoffnungsvollen Kampf unzähliger Männer und Frauen für Freiheit nur noch Täuschung und Betrug, denn seiner Meinung nach ist nicht die Arbeiterklasse der Protagonist am Anfang des Jahrhunderts, sondern der homo faber, der Inbegriff einer Kultur der Produktion, die alles auf das ökonomische Kalkül reduziert. Arbeitsteilung und Massenanfertigung verwandeln die Gesellschaft in eine Kaserne - fasst Benedetto Vecchi in seiner Rezension im manifesto Revellis Standpunkt zusammen: "Darin liegt die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts, nämlich die Arbeit als einzige conditio humana verabsolutiert zu haben?Für Revelli ist dies der kapitale Fehler der Arbeiterbewegung, dass sie, um die Tore des Reiches der Freiheit zu öffnen, die Gesellschaft in eine Kaserne verwandelt hat. Der Autor nennt dies die ?Heterogonie der Zwecke?. Einfacher gesagt, ist es die Erfahrung des realen Sozialismus."

Das Konzept der Heterogonie der Zwecke entlehnt Revelli bei Wilhelm Wundt. Der deutsche Philosoph und Psychologe verstand darunter die Tatsache, dass mit bestimmten Wirkungen immer auch Nebenwirkungen verbunden sind, die in den vorausgehenden Zweckvorstellungen nicht beabsichtigt oder mitgedacht waren, die sich aber trotzdem behaupten.

Loris Campetti findet, ebenfalls in il manifesto, Ravellis Umsetzung dieses Konzepts hinterlistig, wenn er sich vorstellt, Lenin und Trotzki schauen gemeinsam in den Spiegel und sehen dort das Paar Taylor-Ford. Zu kühn sind Campetti allerdings die entsprechenden Formeln Revellis wie: von der "Maschine zur Herstellung der Geschichte" bis zur "Maschine zur Herstellung der Gesellschaft".

Luigi Pintor hingegen fällt zum Thema Heterogonie ein, dass er Revellis Botschaft nicht als Befreiung empfand: "Vielleicht können ja auch Bücher die Opfer der Heterogonie der Zwecke werden. Der Linksintellektuelle stört sich an der radikalen Auslöschung der kommunistischen Ideale. Ausgerechnet der Kommunismus soll die perversen Mechanismen des Fordismus und Kapitalismus geerbt haben?" Der Literaturwissenschaftler Alberto Asor Rosa kommentiert im Corriere diese Haltung, die bei der Linken relativ verbreitet sei: "Pintor empört sich auf seine Weise gegenüber einer Sache, die er als irrig betrachtet: die Auslöschung einer Erfahrung, die auch wichtige Momente beinhaltete, Momente der Befreiung. Er verteidigt seine Idee des Kommunismus, die ich nicht teile, die ich aber verstehen kann."

Etwas strenger argumentiert der Politologe Giorgio Galli, der sich kaum darüber wundert, dass ausgerechnet il manifesto zum Forum für die Abrechnung mit dem Kommunismus herhalten muss:""Die extreme Linke ist von der Abwesenheit einer Kritik nahtlos übergegangen zur radikalen Auslöschung. Eben von einem Schematismus zum nächsten." Galli äußert sich zudem kritisch zur mangelnden Systematik Revellis - angesichts der Fülle des Materials. Genau das Gegenteil behauptet im Corriere der liberale Lucio Colletti, der Revelli zunächst analytischen Tiefgang zupricht: Sicher ist, dass sowohl dem Kapitalismus als auch dem Marxismus die Idee eigen war, dass die Geschichte im wesentlichen als die Entwickung der Produktivkräfte zu verstehen sei. Der Schaden liegt jedoch darin, dass Revelli dies einfach alles von sich stößt, um sich in den Träumen östlicher Philosophie zu verlieren. Dem kruden Dilemma des 20. Jahrhunderts den Rücken zuzukehren, bedeutet, sich dem New Age zu übergeben und dessen Spiritualismus oder diesem Spiritismus, der in einigen Hollywood-Filmen gerade modern ist."

Heißt das, Pintors Kinobesuch war vielleicht doch ein heimlicher Konsens mit Revelli?

Auf jeden Fall findet Revellis Vorschlag zur Überwindung der Krise des Postfordismus keinen Konsens bei den Kritikern. Der Autor entwirft das Bild des volontario, des unpolitischen, unparteiischen Freiwilligen und verabschiedet sich vom radikalen, organisierten Kampf, der seiner Meinung nach im 3. Jahrtausend keine Zukunft hat.

Dabei treten Karl Marx, Antonio Gramsci und andere kommunistische Denker möglicherweise schon dieses Wochenende den Weg in eine neue Ära an. Der Verlag Mondadori eröffnet am Samstag mit 100 Titeln die erste virtuelle Bibliothek Italiens, nach den USA und Frankreich zudem eine der ersten weltweit. Übers Wochenende können sich Interessierte die Bücher kostenlos aus dem e-book-shop herunterladen - gezahlt wird dann ab Montag. Die Auswahl umfasst sowohl Klassiker wie Dante als auch Bestseller wie die Montalbano-Krimis von Andrea Camilleri, die entsprechende Software, den Microsoft Reader, gibt es gratis dazu. Das e-book ist im Durchschnitt 30 Prozent billiger als die traditionellen Papierausgaben. Dafür kann man es aber weder ausdrucken noch verschenken, noch so richtig gemütlich im Bett lesen. Trotzdem wollen bis Ende des Jahres die Verlage Einaudi (gar mit Revellis "Oltre il Novecento"?) und Sperling mit in das Geschäft einsteigen.

Die Schriften von Marx und Gramsci als e-book, wäre das nicht die Rettung des Kommunismus?